Am späten Nachmittag trafen sich die Gruppenmitglieder vor dem Tor, durch welches sie in die Marktstadt gelangt waren. Die Schatten der umstehenden Bäume waren allmählich lang geworden und der Himmel nahm bereits eine blassrosa Farbe an.
„Habt ihr alles gefunden?“, erkundigte sich Chanti bei ihren Reisegenossen.
„Ja. Sogar mehr, als uns lieb ist“, entgegnete Erny und warf Nike einen letzten, verdrossenen Blick zu. Die Großkatze leckte sich unbekümmert die Pfote und bekam von Ernys Missmut nichts mit.
„Was jetzt?“, fragte Jess und ließ eine nach Kirschen riechende Kaugummiblase platzen.
„Jetzt reisen wir weiter“, sagte Chanti.
„Muss das sein?“ Jess blickte zum Tor zurück, wo der gelangweilt dreinblickende Jugendliche immer noch stand und den ankommenden Touristen und Händlern Broschüren in die Hände drückte. „Wir könnten doch wirklich in Madame Jean-Maries Herberge übernachten. Der Werbefuzzi gibt uns vielleicht Rabatt.“
„Wir wissen nicht, wie viel Vorsprung die Orks haben. Wenn wir sie einholen wollen, müssen wir uns sputen!“, hielt Chanti dagegen.
„Wir könnten uns bei dem Werbefuzzi nach dem Vorsprung der Orks erkundigen. Möglicherweise hat er sie gesehen“, schlug Meli vor.
„Einen Versuch ist es wert“, sagte Chanti und ging zu dem Jungen hinüber.
„Madame Jean-Marie. Ihre Reiseunterkunft des Vertrauens!“, rief der arme Teufel gerade einem zwergischen Touristenpärchen hinterher, das ihm sowieso nicht zuhörte. Dann wandte er sich Chanti zu und hob an, seine immergleiche Predigt herunterzuleiern: „Willkommen in Gûnerstadt, der schönen und-“
„Ja, ja. Das hatten wir schon“, unterbrach Chanti den übereifrigen Teenager. „Ich habe nur eine kurze Frage: Wie lange arbeitest du schon hier?“
Der Bursche schaute auf seine Armbanduhr und sagte dann mit gramvoller Stimme: „Schon acht Stunden. Ohne Pipipause. Und ich habe noch drei weitere Stunden hier zu stehen, bevor ich ein gammeliges Stück Brot essen und endlich zu Bett gehen darf. Und dann entkomme ich dieser trostlosen Welt für eine kurze Weile, bevor ich aus meinem totengleichen Schlaf erwache und mein klägliches Leben in Monotonie weiterfristen muss.“
„Ähh… Schön für dich, aber das meinte ich nicht. Wie lange hast du diesen Job schon?“
„Etwa zwei Wochen. Ist nur ´n Ferienjob.“
„Sind denn in den letzten zwei Wochen irgendwelche Orks hier vorbeigekommen?“
Der Bursche sah nachdenklich gen Himmel. „Orks, Orks, Orks“, murmelte er vor sich hin. Dann schnippte er mit den Fingern. „Ja! Vor fünf Tagen ist so ne Gruppe Orks in die Stadt gekommen. Waren ziemlich unhöflich. Sind auch nicht über Nacht geblieben, sondern direkt weitergezogen. Die haben mir die Broschüre in die Unterhose gesteckt.“
„Hast du zufällig mitgekriegt, welchen Weg sie einschlagen wollten?“, fragte Chanti hoffnungsvoll.
„Also… Einer von ihnen meinte, die Vorräte, die sie hier ergaunert haben, müssten bis Brachtal reichen.“
Chanti fasste den Jungen bei den Schultern und rief: „Danke!“ Dann drehte sie sich um und ließ den Burschen perplex hinter sich zurück.
„Sie sind vor fünf Tagen hier gewesen und wollen nach Brachtal“, informierte Chanti ihre Reisegenossen.
„Brachtal? Dieses elfenversuffte Reich in den Kaskadenbergen?“, schnaubte Jess.
„Ganz genau“, sagte Chanti. „Aber wie kommen wir von hier nach Brachtal?“
Erny schwellte stolz die Brust. „Nicht verzagen, Herrn Rosträtchen fragen! Ich habe, geistesgegenwärtig wie ich bin, eine Karte gekauft. Jetzt können wir unsere Route genauer planen.“ Er holte die Karte aus seinem Rucksack und faltete sie knisternd auseinander. Die vier Reisenden beugten sich über das Pergament.
„Hier sind wir!“, meinte Chanti und tippte auf das Ikon einer Burg, über welchem in schnörkeliger Schrift Gûnerstadt geschrieben stand.
„Und hier befindet sich der Hauptsitz des Königs der Hohen Lande“, sagte Meli und tippte ihrerseits auf die besagte Stelle auf der Karte.
„Leute“, sagte Jessi und ließ abermals eine Kaugummiblase platzen, „Hier ist Brachtal. Na? Fällt euch was auf?“
Meli schnappte nach Luft. „Die Orks nehmen einen Umweg! Die von ihnen gewählte Strecke kostet sie im günstigsten Fall eine ganze Woche! Womöglich sind die Hohen Lande gar nicht Ziel ihres schändlichen Unterfangens?“
„Doch“, brummte Erny. „Schaut mal genauer hin. Die Orks wollen nur die Unheilsberge umgehen. Sie reisen um die Bergkette herum, statt die Berge zu überqueren. Die Unheilsberge gehen an dieser Stelle in die Kaskadenberge über, wo die Elfen überall ihre kleinen Brücken und Wege gebaut haben. Da lässt es sich viel leichter in die Hohen Lande einreisen.“
Chanti nickte entschlossen. „Dann ist ja wohl klar, welchen Weg wir einschlagen werden.“
Erny, Meli und Jess sahen von der Karte auf und blickten Chanti mit ratlosen Mienen an.
Angesichts der Begriffsstutzigkeit ihrer Reisekollegen begann die Hexe wild mit den Armen zu fuchteln. „Das ist unsere Chance, die Orks einzuholen! Wir überqueren die Unheilsberge. Das ist der direkte Weg in die Hohen Lande. So erreichen wir den König vor ihnen!“