Erny machte die ganze Nacht über kein Auge zu, obwohl er das erste Mal seit Wochen in einem gepolsterten Bett lag. Ihm gingen Chanti und ihre Geschichte über den Lichttiegel nicht mehr aus dem Kopf. Mit dem ersten Lichtstrahl der Sonne stand er auf und zog sich an. In Erwartung eines üppigen Frühstücks zog sich ihm das Wasser im Mund zusammen. Auf dem Flur vor seiner Zimmertür stieß er mit Chanti zusammen. Ihren Welpen hatte sie dieses Mal nicht an den Rücken geschnallt. Das kleine, possierliche Tierchen rannte seiner Herrin auf kurzen Beinen hinterher.
„Guten Morgen“, grüßte die Hexe.
„Hmmpf… Morgen“, murmelte Erny. Er war schon immer ein Morgenmuffel gewesen, und dass er kaum geschlafen hatte, versetzte ihn nicht gerade in eine hochmütige Stimmung.
Die Hexe setzte an, etwas zu sagen, als lautes Gebrüll über den Flur ertönte.
„Was fällt dir ein, du Göre! Betrügst mich um mein hartverdientes Geld und glaubst, damit einfach davonzukommen? Na warte, wenn ich dich in die Finger kriege, dann wirst du dein blaues Wunder erleben!“
Chanti und Erny tauschten einen fragenden Blick miteinander aus. Kurz darauf kam eine junge Frau durch den Flur auf sie zugelaufen. Den Zwerg anrempelnd eilte sie an Erny und Chanti vorbei und kam schließlich hinter ihnen zum Stehen. Sie hatte lange silberblonde Haare, in welche zahlreiche, kleine Blumen eingeflochten waren, und trug ein kurzes, rosafarbenes Kleid mit viel Tüll. Auf ihren weißen Kniestrümpfen waren um den Saum kleine, rote Herzchen eingestickt.
„Helft mir“, wisperte sie verängstigt.
Keine zwei Sekunden später ließen Rommas näherkommende Schritte die Wände im Flur erzittern.
„Wo bist du, kleine Göre? Ahhh! Da bist du ja. Platz da, Herr Zwerg!“, befahl er.
„Nein“, rief die Unbekannte mit piepsiger Stimme.
Erny trat dem wütenden Gastwirt in den Weg und stellte sich breitbeinig und mit in die Hüften gestemmten Armen hin. „Dürfte man erfahren, was hier vor sich geht? Was habt Ihr gegen dieses Fräulein?“
„Was ich gegen sie habe?“, geiferte Romma. „Sie ist eine gemeine Zechprellerin! Eine Diebin! Sie hat hier übernachtet, aber will nicht bezahlen!“
„Das ist mir nicht möglich. Ich habe kein Geld“, sagte die junge Frau und klammerte sich verzweifelt an Ernys Arm fest.
Der Zwerg seufzte. „Ich komme für ihre Schuld auf. Was wollt Ihr dafür haben?“
Romma sah den Zwerg wütend an. Dann schossen seine Augenbrauen plötzlich in die Höhe und ein dreckiges Grinsen legte sich auf seine Lippen. „Ich will Eure Armbanduhr. Gratis, selbstverständlich.“
Nachdem Erny um eine Omäga-Armbanduhr ärmer geworden war und Romma sich mit blinkenden Augen davongemacht hatte, drehte sich der Zwerg missbilligend zu der zierlichen Frau um.
„Danke! Lieber Zwerg, danke!“ Die Unbekannte zog Erny in eine innige Umarmung, bevor er etwas hätte entgegnen können. Erst als sich Chanti ausgiebig räusperte und Leo einen kleinen, süßen Beller von sich gab, ließ die Frau Erny los.
„Ähm… Schon gut“, grummelte der Zwerg verlegen. Eigentlich hatte er mit der Unbekannten schimpfen wollen, immerhin war er ihretwegen um seine Lieblingsuhr gekommen, aber ihr freudestrahlendes Gesicht kühlte seinen Ärger.
„Ich bin Meli, eine Fee aus den Landen der In-der-Sonne-glitzernden-Wasserfälle. Ihr habt mir gerade das Leben gerettet, Herr Zwerg. Ich werde Euch auf ewig dankbar sein“, stellte sich die Frau vor und machte einen Knicks.
„Ich bin Erny Rosträtchen, aus den Zwergenminen von Ehlerange. Und das ist Chanti die Wirre, die Hexe aus dem Lebkuchenhäuschen des Fichtenhains. Der Filzklumpen zu ihren Füßen ist Leo, ihr treuer Begleiter.“
Meli begab sich in die Hocke und knuddelte den kleinen Welpen, der sich mit wedelndem Schwanz an sie drückte und versuchte, ihr über das Gesicht zu lecken.
„Ohhhhh, welch süßes Pelzknäuel!“, entfuhr es ihr.
„Ja, er ist mein Baby“, sagte Chanti kühl.
Als Meli sich wieder aufgerichtet hatte, räusperte sich Erny verlegen. „Ähm. Willst du vielleicht mit uns frühstücken?“ Für diesen Vorschlag erntete er einen verständnislosen Blick von der Hexe.
„Es wäre mir eine außerordentliche Freude!“, rief Meli glücklich und eilte voraus in den Schankraum.
„Was soll das?“, zischte Chanti verärgert, nachdem die Fee um die Ecke gebogen war.
„Sie tut mir irgendwie leid“, erklärte Erny schulterzuckend. „Warum bist du ihr gegenüber so feindselig?“
„Sie ist eine Fee. Eine widerliche Glitzerzauberin, deren Zauberkräfte denen einer Hexe um Längen unterlegen sind. Aber die wenigsten Feen würden das zugeben. Feen sind arrogant und naiv.“ Chanti rümpfte die Nase, während sie den langen Flur entlangschritten.
„Das sind doch nur Vorurteile. Du solltest sie zuerst kennenlernen, bevor du so ein Urteil fällst“, meinte Erny.
Chanti gab ein Grummeln von sich, dann hatten sie den Schankraum erreicht.
Die Stube lag lichtdurchflutet vor ihnen. An drei Rundtischen saßen andere Übernachtungsgäste und nahmen bereits ihr Frühstück zu sich. Auf einem Hocker an der Bar saß der Oger, über dessen Leggins sich die beiden Tuscheltanten am Vortag unterhalten hatten. Sein Kopf lag auf dem Tresen, in seiner Hand hielt er eine Bierflasche fest. Als Erny und Chanti ihn passierten, ging von dem
Oger ein rasselndes Schnarchen aus.
Meli hatte sich bereits an einen Ecktisch mit vier Stühlen gesetzt und winkte sie energisch heran. Erny und Chanti gingen zu ihr hinüber und setzten sich an den Tisch.
„Also, welch Anlass führt euch in diese Gefilde?“, fragte die junge Fee wissbegierig.
„Das geht dich nichts an“, antwortete Chanti barsch.
„Was meine Kollegin sagen wollte, ist, dass wir in geheimer Mission unterwegs sind“, erklärte Erny schlichtend.
„In geheimer Mission?“, wiederholte Meli laut. Ihre Augen wurden vor Aufregung so groß wie Tennisbälle.
„Schsch!“, machte Erny und gestikulierte wild mit den Armen. „Ja, geheim. Wir können dir also nicht sagen, warum wir hier sind. Was ist mit dir, Meli. Was führt eine Fee hierher? Noch dazu bargeldlos?“
„Ich ähmm… Meine Wenigkeit quälte das Fernweh. Unglücklicherweise sind mir unterwegs die finanziellen Mittel ausgegangen“, erklärte Meli ausweichend.
Romma trat an ihren Tisch und unterbrach die geführte Unterhaltung. An seinem rechten Handgelenk trug er die Rohläks und an seinem linken Handgelenk die Omäga.
„Was wollt Ihr zum Frühstück essen?“, fragte der muskelbepackte Wirt.
„Ich hätte gerne Speckkrusten und ein Schinkenbrötchen“, sagte Erny und warf einen verbitterten Blick auf die beiden Armbanduhren. Er würde sich später wohl eine andere anlegen müssen; zum Glück führte er immer mehrere Uhren in seinem Rucksack mit sich.
„Und ich will ein Omelett mit Spinnenbeinen, bitte. Und einen Napf für meinen Kleinen“, bestellte Chanti.
„Und die Zechprellerin?“, fragte Romma.
„Mich gelüstet nach einer Handvoll Nüssen und einer heimischen Kernfrucht. Meinesgleichen verspeisen kein Fleisch. Wir sind nämlich jedweder Form von Gewalt grundsätzlich abgeneigt.“ Beim letzten Satz sah sie den Wirt vieldeutig an.
„Und Kaffee für alle“, fügte Erny hinzu.
Damit drehte Romma ab und verschwand hinter der Theke.
„Also“, nahm Meli das Gespräch wieder auf, „Erzählt mir von eurer geheimen Mission!“