„Rasch! Lauft zur Brücke!“
Meli ließ es sich nicht zweimal sagen und eilte durch das westliche Tor. Erny zögerte noch, wollte er Chanti nicht einfach so zurücklassen, doch als sich auch die Hexe in Bewegung setzte, nahm er die kleinen Zwergenbeine in die Hand und floh. Jess blieb wie angewurzelt stehen und starrte das gelbe Augenpaar an. Der Ballrock hatte in der Düsternis gekauert und richtete sich jetzt zu seiner vollen Größe auf. Er war schwarz wie die Nacht, lief auf vier Pfoten und peitschte mit seinem fluffigen Schwanz hin und her. Genaue Umrisse konnte Jess im blassen Mittrillschein nicht erkennen. Das Fell des Untiers schien jegliches Licht in sich zu absorbieren, als würde es aus lebendigen Schatten bestehen. Lokalisieren konnte man es nur daran, wo sich eine dunkle Wolke aus Finsternis manifestierte. Und natürlich an den giftgelben Augen, deren schwarze Schlitzpupillen Jess in den Bann zogen.
„Jess, schnell!“, rief Chanti. Die Worte ließen Jess aus ihrer Starre erwachen und die Gestaltwandlerin spurtete dem Rest der Gruppe hinterher. Sie bildete das Schlusslicht der panisch fliehenden Gruppe. Nike hatte den kleinen Leo am Nacken gepackt und trug ihn im Maul mit sich.
Die Reisenden liefen durch einen hohen Gang, der stetig aufwärts führte. Zu steile Abschnitte waren durch Treppenstufen gestützt worden, die die hastige Flucht noch beschwerlicher machten. Schon bald stachen Meli die Seiten und Erny ging die Puste aus. Einzig ein schwacher Lichtschein am Ende des Ganges ließ die Fliehenden in ihrem Sprint durchhalten.
Meli blieb schlagartig stehen, sodass Erny von hinten in sie hineinlief und sie beinahe umgerannt hätte. Vor ihnen hatte sich ein Abgrund aufgetan, über welchen eine sehr schmale, geländerlose Steinbrücke führte, die in der Mitte nicht dicker als eine Handbreite war. Am anderen Ende der Brücke klaffte der blendend helle Stollenausgang in der Bergwand. Sie hatten es fast geschafft!
„Worauf wartet ihr! Hinüber!“, schrie Jess und warf einen ängstlichen Blick über ihre Schulter. Der Ballrock war ihnen dicht auf den Fersen. Seine Füße trommelten über den glatten Boden. Drumm-drumm. Drumm-drumm.
Meli machte sich alsdann ans Überqueren und setzte vorsichtig einen Fuß auf die Brücke. Es knirschte gefährlich unter ihrem Gewicht und sie hörte Staub von der alten Steinbaute abbröckeln. Die Fee balancierte sich mit ausgebreiteten Armen über den Steg und kam schließlich unversehrt am anderen Ende an.
„Wenn sie mein Gewicht hält, dann hält sie auch deins“, sprach sie Erny Mut zu.
„Guter Witz“, brummte der Zwerg und verfluchte seine Zwergenbrüder und -schwestern still für ihre risikobehaftete Bauweise. Mit Höhen war er noch nie sonderlich klargekommen, aber vor Chanti wollte er sich keine Blöße geben. Mit schlotternden Knien setzte er also einen Fuß vor den anderen und vermied es tunlichst, nach unten zu gucken. Ein dünner Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet, als er auf dem befestigten Felsboden auf der anderen Seite des Abgrunds ankam. Nun war es Jess, die sich geschickt ihren Weg über die Brücke bahnte und in Nullkommanichts zu Meli und Erny aufgeschlossen hatte.
Es blieb nur noch an Chanti, Nike und Leo, die Brücke von Casa Dumm zu überqueren. Chanti bedeutete der Tigerkatze mit einer Handbewegung, dass sie als nächstes übersetzen sollte. Die Tigerin hatte keine Probleme damit, trotz des aus ihrem Kiefer baumelnden Hundebabys das Gleichgewicht zu halten. Den Welpen spuckte sie Meli vor die Füße, als sie den Übergang geschafft hatte. Dann schließlich setzte Chanti einen Fuß auf die Brücke, doch bevor sie den Abgrund überwunden hatte, hatte sich der Ballrock hinter ihr aufgebaut. Im durch den Höhleneingang einfallenden Sonnenlicht war das Ungetüm zum ersten Mal in seiner vollen Pracht zu sehen. Der Ballrock ähnelte einem großen, schwarzen Löwen mit wehender Mähne aus wogenden Schatten. Etwas Archaisch-wildes blitzte in seinen Augen und er riss das Maul zu einem gellenden Brüllen auf.
„Chanti, hinter dir!“, rief Meli.
Die Hexe drehte sich zu dem Biest um, sie wankte gefährlich auf dem schmalen Steg. Als sie ihren Stand stabilisiert hatte, hob sie ihren Flugbesen mit dem Borstenteil nach oben. Mit einem Satz war der Ballrock mit allen vier Füßen auf der Brücke.
„Weiche, schwarzer Teufel! Du kommst nicht vorbei!“, schrie Chanti und stampfte gebieterisch mit dem Besenstiel auf. Von ihrem Auftreten völlig unbeeindruckt, schüttelte der Ballrock seine Mähne und tat einen weiteren Schritt auf sie zu.
„Ei der Daus! So war das nicht gedacht“, fluchte Chanti und drehte sich vorsichtig wieder zum Höhleneingang zurück.
„Schneller, Chanti!“, feuerte Erny die Hexe an, die sich schwankend über die Brücke kämpfte. Der Ballrock folgte ihr erstaunlich flink für seinen klobigen Körper. Chanti hatte die andere Seite fast erreicht, als die Brücke unter dem Gewicht des Ballrocks zu bersten begann. Das schattenfarbene Ungetüm drückte sich mit den wuchtigen Hinterpfoten ab, sprang über die verblüffte Hexe hinweg und landete schlitternd auf der befestigten Felsseite direkt neben Meli. Dieser Abstoß gab der alten Steinbrücke den Rest und der dünne Mittelteil brach ab. Mit einem unheilvollen Knirschen lösten sich weitere Gesteinsbrocken aus der Brücke und fielen nacheinander in die Tiefe. Unter Chantis Füßen entstanden fingerdicke Risse, dann bröckelte auch die Stelle, an der sie stand, und das Felsgestein verlor sich im Abgrund.
„Chanti!“, schrie Erny entsetzt auf.
Die Hexe hatte sich zum Glück an der entstandenen Felsnase festhalten können, bevor sie mit dem Rest der Steinbrücke gefallen und am Boden zerschellt wäre. Ihren Flugbesen hatte sie dabei aus der Hand verloren; mit größter Mühe hielt sie sich an der scharfen Steinkante fest.
„Flieht, ihr Narren!“, presste sie unter Anstrengung hervor.
„Wen nennst du hier Narren?“, brummte Erny und hechtete vor, um sie festzuhalten. Meli wollte es ihm gleichtun, aber der Ballrock stand ihr im Weg. Die Bestie knurrte hasserfüllt und machte sich zum Angriff bereit. Dann rammte plötzlich etwas Orangefarbenes den Ballrock von der Seite und stieß ihn um. Nike hatte sich auf das dunkle Ungetüm gestürzt, und nun wälzten sie sich ineinander verkeilt über den kalten Felsgrund.
Diesen Moment ließ Meli nicht ungenutzt: Sie sprang vor und übernahm Chantis linken Arm, während Erny an dem rechten zog. Leo hatte sich an der Rettungsmission beteiligt und riss an Melis Rocksaum, um ihr beim Ziehen zu helfen. Doch auch zu dritt schafften sie es nicht, Chanti über den Hang zu hieven.
Jess blickte unentschlossen zum Stollenausgang. Das Sonnenlicht berührte mit sanfter Wärme ihre Wangen, als wollte es sie nach draußen locken. Sollte sie Marios Reich verlassen? Nike war beschäftigt und die anderen Reisenden waren abgelenkt. Jetzt wäre die passende Gelegenheit, sich davonzumachen. Immerhin hatte sie sich der Reisegruppe nicht freiwillig angeschlossen. Sie blickte zurück in die Finsternis, wo Chanti immer noch über dem Abgrund hing und Nike sich mit Krallen und Zähnen gegen den Ballrock wehrte. Jess zögerte. Doch dann gestand sie sich ein, dass sie die Gesellschaft der anderen in den letzten Tagen mehr als genossen hatte. Endlich hatte sie das Geheimnis ihrer wahren Natur mit jemandem teilen können. Endlich hatte sie Freunde gewonnen. Vielleicht sogar eine Familie. Und sie könnte sich nie verzeihen, diese in der gegebenen Gefahr zurückzulassen.
Also eilte Jess dem Zwerg und der Fee zu Hilfe, und gemeinsam schafften sie es, Chanti über den Abgrund zu ziehen, wo sie alle erschöpft liegen blieben. Sie sahen gerade noch, wie Nike dem Ballrock einen heftigen Stoß versetzte, und das schattenhafte Ungetüm in die Tiefe stürzte. Das Echo seines Schreis verhallte in den leeren Bergstollen. Dann war es ruhig.