Ich durchwanderte das Lager und fand sie schließlich etwas abseits ruhend, den Blick zum Gebirge gerichtet. Ich hätte es wissen müssen, denn immer, wenn Solina nachdenken wollte, zog sie sich an ein etwas entferntes, ruhiges Fleckchen mit einer schönen Aussicht zurück. So war es schon in unserem Sommerlager gewesen. Sie sah erschöpft aus und wenn mein Kommen sonst stets ein Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert hatte, so blickte sie mir jetzt nur müde und ernst entgegen. In den wenigen Stunden seit unserer Ankunft an der Grenze hatte sie sich verändert. Sie erschien völlig entkräftet und ihr Blick war traurig. Die Aura, die sie am vergangenen Abend wie ein leuchtendes Strahlen umgeben hatte, war im hellen Licht der hochstehenden Sonne kaum noch auszumachen. Ihr Gewand, sonst immer von ihr aufs Reinlichste gepflegt, war verschmutzt und blutbesudelt, wahrscheinlich nach ihrer Arbeit als Heilerin bei Chaska und dem zweiten verletzten Wolfsmagier. Der Messerschnitt an ihrem linken Unterarm war mit trockenem Schorf verkrustet und ohne Verband geblieben. Aus der Kriegerprinzessin, die sie noch am Morgen gewesen war, war eine erschöpfte, wie verloren wirkende, verletzliche Frau geworden.
Langsam ließ ich mich neben ihr nieder und dachte dabei an unseren ersten gemeinsamen Abend im Sommerlager. Ich lächelte ihr zu. Sie nickte nur zu mir herüber. Es sollte wohl ein Gruß sein. Dann begann sie zu sprechen und im ersten Moment war es für mich wie vernichtend, was sie zu sagen hatte.
»Ich habe es wiedergutgemacht«, flüsterte sie leise und dabei lief ihr eine einzelne Träne über die Wange.
Ich verstand es nicht. Was gab es gutzumachen? Wir hatten mit ihrer Hilfe einen fast aussichtslosen Kampf gewonnen, sie hatte meinen Freund gerettet und nun saß sie hier und weinte? Aber sie war noch nicht fertig.
»Von deinen Freunden ist niemand bleibend verletzt, tot oder verstümmelt. Auch wenn du von den Ereignissen an der Grenze durch mich abgelenkt warst, so ist euch dennoch kein bleibender Schaden entstanden.«
Ihre Tränen liefen ihr jetzt wie Rinnsale über die Wangen und sie wandte sich ab, um ihre Traurigkeit vor mir zu verbergen.
»Ich werde dein Dorf verlassen und andernorts leben. Ihr werdet mich finden, wenn ihr mich braucht. Ich will nicht der Grund sein, falls ihr den Kampf gegen Chromnos irgendwann verlieren solltet.«
Im ersten Moment verstand ich nicht, was sie mir sagen wollte. Ich war wie erstarrt. Sie wollte gehen, wollte mich wieder verlassen, nachdem ich sie gerade erst gefunden hatte. Das war doch unmöglich! Ich dachte an unseren Tag am Strand und daran, wie sie mir schüchtern ihre Hand gereicht hatte. Wir hatten doch gerade erst begonnen, uns kennenzulernen. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass sie gern mit mir zusammen war, so unwahrscheinlich mir das auch erschien … Und nun wollte sie unsere gemeinsame Reise beenden, obwohl sie kaum begonnen hatte? Ich fühlte mich, als hätte mich plötzlich ein eisiger Wind getroffen.
Bis ich schließlich alles realisierte, was sie zu mir gesagt hatte und begriff, dass ich selbst der Auslöser für ihre Entscheidung war, dass ich der Grund für ihre Tränen war, oder besser das, was ich in der Aufregung vor dem Kampf so unbesonnen dahergeredet hatte. Jetzt glich mein Gefühl eher einem heißen Wüstenwind. Das durfte nicht so stehenbleiben! Sie konnte nicht einfach wieder gehen, nicht jetzt, wo wir ein paar Wintermonate friedlicher Zeit zu erwarten hatten, die wir ohne Sorgen gemeinsam verbringen konnten, um uns kennenzulernen, nicht heute, nicht, nachdem wir zusammen einen Kampf bestanden hatten, der mit unser beider Tod hätte enden können und nicht aus diesem Grund, nicht wegen ein paar dummen, unbedacht dahingesagten Worten am Vorabend eines verhängnisvollen Kampfes.
Sie hatte sich von mir abgewandt, damit ich ihre Tränen nicht sehen sollte. Ich erhob mich und hockte mich dicht vor ihr nieder. Dann nahm ich sacht ihre Hände vom Gesicht, legte sie in ihren Schoß und drehte ihr Gesicht zu mir, bis sie mich ansah.
»Tu das nicht, Solina, bitte, geh jetzt nicht fort.« Ich blickte ihr fest in die Augen und sah wie sich ihre Pupillen weiteten. Sie hörte mir zu, aber sie sprach nicht. »Was ich gesagt habe – das war völlig unbedacht und dumm. Nichts hätte diesen Angriff verhindern können, auch nicht, dass wir vielleicht eher Bescheid gewusst hätten. Im Gegenteil, noch nie haben wir einen Kampf mit so wenigen Verletzungen und Opfern überstanden wie heute. Ohne deine Hilfe hätte der Kampf ganz anders ausgehen können.«
Sie schwieg noch immer und mir wurde klar, dass jetzt nicht die Zeit war, wichtige Dinge zu verschweigen, weil mir der Mut fehlte, Gefühle zu offenbaren. Sie sollte wissen, was ich für sie empfand und wenn sie dann immer noch gehen wollte, würde ich sie nicht aufhalten. Aber sie musste es wissen. Ich nahm wieder ihre Hände und fuhr sanft mit dem Finger über ihren Handrücken.
»Solina, wenn du jetzt gehen würdest, könnte ich es mir nie verzeihen, so zu dir gesprochen zu haben. So unbedacht! Bitte bleib! Tu es für mich … tu es für uns …, weil …« Ich wollte jetzt ehrlich sein und ihr alles sagen: », weil ich glaube, dass ich dich lieben könnte.«
Und wieder hatte ich noch zu wenig gesagt, aber ich beließ es dabei. Ich wollte sie nicht zu sehr bedrängen. Ich ließ ihren Blick los und senkte den Kopf. Ich wartete und eine bange Zeit verstrich, in der sie das Gehörte überdachte. Schließlich tat sie etwas, was viel mehr sagte als alle Worte. Sie neigte sich zu mir und schmiegte sich an meine Brust.
So saßen wir eine ganze Weile, in der sie sich langsam beruhigte. Schließlich hob sie den Kopf und blickte mir schüchtern in die Augen. Sie hatte die schönsten Augen, die mir in fünfhundert Jahren begegnet waren. Die Iris waren wie große, hellblaue Seen mit einem goldenen Glanz, umgeben von einem dunkelblauen zarten Saum. Lange, volle Wimpern in der bleichen Farbe ihrer Haare umrahmten ihren Blick. An diesem wunderbaren Blau würde ich mich nie satt sehen können, dachte ich.
Sie berührte mein Gesicht und schließlich flüsterte sie: »Tecihila, Nashoba.«
Ich starrte sie nur an. Sie hatte gesagt, dass sie mich liebte, mich, einen wilden, unzivilisierten Kriegsmagier eines kleinen, archaischen Volkes, mich, der ich ihr nichts anderes bieten konnte als endlosen Kampf, eine raue Heimat und ein einfaches Leben in Abgeschiedenheit. Sie verbarg ihr schönes Gesicht an meiner Brust und sagte mir, dass sie mich liebte! Sie sprach von Liebe zu mir und sie tat es in meiner Sprache, in Inoktaé.
Mein Herz klopfte so heftig, dass ich glaubte, sie würde es hören. Ich schlang meine Arme um sie und zog sie fest an mich. Ich schwor mir, dass ich sie für immer lieben würde. Ich würde nicht zulassen, dass man sie verletzte oder ihr wehtat. Sie sollte bei mir bleiben, bei mir und meinem Volk und sie sollte glücklich leben – mit mir. Vorsichtig hob ich ihr Kinn an, bis ich ihr ins Gesicht sehen konnte. Dann näherte ich mich ihren Lippen und schenkte ihr einen ersten Kuss. Und sie nahm meine Zärtlichkeit an, meinen Körper, meine Lippen und so verweilten wir, mit dem Panorama des bergigen Landes um uns und dem hellen Herbsthimmel über uns und als ich diese Zeichen der Natur erkannte, die mich schon immer berührt hatten, rief ich in Gedanken die Macht meiner Aura auf und Ruhe und Frieden der Wolfsmagie halfen, wieder zu uns selber zu finden.
Wir saßen, bis die Sonne hoch am Zenit stand und genossen unser Zusammensein. Ich wollte mich nicht rühren, nichts anderes tun und ich fühlte, dass auch Solina in meinen Armen zur Ruhe gefunden hatte. Ich streichelte ihr Haar, entwirrte sanft die dicken Flechten, bis es wieder seidig über ihren Rücken fiel und zupfte ein paar vorwitzige Blätter und Tannennadeln heraus. Ich strich ihr über Rücken und Arme, berührte ihre Hände und sie saß an mich geschmiegt und still da und schien es zu genießen, mit mir zusammen zu sein.
Irgendwann wurden wir im Lager dann doch vermisst und es war mein Freund Tahatan, der zu uns kam. Er blieb in einem zurückhaltenden Abstand von uns stehen, überrascht, uns auf diese Weise zusammen zu sehen. Die Neugier konnte er nicht ganz aus seinen Augen vertreiben. Schließlich nickte ich ihm zu, sodass er nähertreten konnte. Er lächelte.
»Wir möchten euch ein Tipi anbieten. Wasser zum Waschen steht bereit und das Essen wird bald vorbereitet sein. Bitte nehmt unsere Gastfreundschaft an.«
Ich musste leise lachen. Wenn ich sonst ins Lager kam, schlief ich wie alle anderen im Langhaus, gebadet wurde im Gebirgsbach und ums Essen musste sich jeder kümmern, reihum. Aber ich verstand natürlich, dass ihre Fürsorge in erster Linie Solinacea galt. Und ich war ihnen dankbar dafür.
Ich schaute sie an. Sicher war sie erschöpft. »Lass uns zum Lager gehen, Solina«, schlug ich leise vor. »Dort kannst du dich waschen, etwas essen und dann ausruhen, solange du möchtest.«
Sie nickte dankbar. »Das wäre wirklich schön, ich bin völlig erschöpft. Die Blutmagie wirkt jetzt nach und ein wenig Ruhe wäre mir sehr willkommen.«
Es fiel ihr schwer, sich zu erheben und ehe sie sich auf dem Weg ins Lager noch weiter anstrengen musste, hob ich sie auf und trug sie. Ich hielt sie in meinen Armen und es erinnerte mich sehr an meinen Lauf mit ihr in das Jagdlager, nachdem ich sie gefunden hatte. Heute hatte sie die Arme um meinen Hals geschlungen, kuschelte sich vertrauensvoll an mich und ich dachte, während ich zu ihr hinunterblickte, was für ein glücklicher Mann ich doch jetzt war.