Als sich die Sonne dem Horizont näherte, kehrte Tahatan mit einem Reh ins Lager zurück und die beiden Männer begannen, einen Braten über dem Lagerfeuer zuzubereiten.
Nach einer Weile gesellte sich Onatah zu ihnen. »Es geht ihr besser. Sie hat genug getrunken und scheint langsam ihr Bewusstsein zurückzuerlangen. Außer dem Wassermangel und der zu langen Sonneneinwirkung auf dem Meer scheint ihr nichts zu fehlen. Sie hat keinen Kontakt zu den Dunkelmagiern gehabt«, berichtete sie trocken. »Ich frage mich, Nashoba, ob du weißt, wen du da in unsere Welt gebracht hast?«, verkündete sie dann ohne Übergang.
Nashoba sah fragend auf. »Eine Heilerin von Dakoros … was sonst?«
Onatah sah ihn zweifelnd an. »Du hast wirklich nicht gesehen, was sie ist, oder?«
»Was sollte sie sonst sein?«
»Sie ist eine Hohepriesterin!«
»… eine Hohepriesterin von Dakoros? Das ist unmöglich!« Nashoba blickte stirnrunzelnd zu Onatah. »Du weißt, ich mag deinen Humor, aber darüber solltest du nicht scherzen!«, wies er sie zurecht.
»Nun, du hast sie nicht nackt gesehen, oder?«, fragte Onatah schmunzelnd.
Die Antwort des Minágis kam prompt und hart. »Was denkst du von mir, natürlich nicht!«
Die Schamanin schmunzelte. »Dann kennst du auch ihre Körperzeichnung nicht. Die hat sie nämlich! Es ist eine goldene Schlange, die sie unterhalb des linken Schlüsselbeins trägt. Und nun sage mir, welche Heilerin außer den Hohepriesterinnen sollte den goldenen Anguis tragen?«
Onatah schaute ernst zu Nashoba und die Flammen des Feuers spiegelten sich in ihren Augen. »Wenn sie von den Dunkelmagiern hier bemerkt wird, kann das alles verändern. Sobald sie völlig wach ist, musst du mit ihr sprechen und sie nach ihren Zielen und Wegen befragen. Wenn es irgendwie möglich ist, müssen wir sie vor Chromnos verbergen. Die Macht, die sie mit sich trägt, kann das Gleichgewicht neigen. Möge es zu unseren Gunsten sein.«
Tahatan regte sich und blickte zu Onatah. »Mag sein, du hast recht. Mag aber auch sein, sie ist nur eine ranghohe Priesterin. Wir sollten nichts planen, bevor wir Sicherheit über ihre Person und ihre Ziele haben. Wer garantiert uns, dass sie wirklich von den Inseln kommt und kein Trugbild der dunklen Großmeister ist?«
Nashoba senkte den Kopf und verbarg sein Gesicht in den länger werdenden Schatten des Abends. Wenn sie tatsächlich eine Hohepriesterin von Dakoros war – und er kam keinen Moment auf den Gedanken, an Onatah und ihren Kenntnissen der Magie zu zweifeln – war es gut, sein irrationales Empfinden für diese Frau tief in sich zu verbergen. Sie würde weiterziehen oder nach Dakoros zurückkehren und mit Sicherheit für ihn unerreichbar bleiben. Auch wenn sich rangniedrigere Heilerinnen schon mit Magiern anderer Spezies verbunden hatten, so galt das ganz gewiss nicht für eine Hohepriesterin. Und falls sie es doch täte, so kam aus Nashobas Sicht nur einer der wenigen Magier der Vier Elemente in Frage, die mit ihrer hoch entwickelten Kultur der von Dakoros nicht nachstanden.
Für die Inokté und ihre Wölfe würde sie nur ein mitleidiges Lächeln haben. Deren Lebensweise war archaisch. Gerade weil die Stämme diese Art des Lebens selbst gewählt hatten und bewusst auf Fortschritt verzichteten, hatten sie nur wenig mit der Hochkultur von Dakoros gemein.
Nashoba nahm den Gesprächsfaden wieder auf. Er wollte nicht, dass Onatah seine seltsame Stimmung auffiele und er sich erklären müsse.
»Auch ich habe keinen Dunkelmagierkontakt an ihr spüren können und ich war mehrere Stunden lang von ihrer Aura umgeben. Alles deutet darauf hin, dass sie von den Inseln kommt. Aber wenn es ihr wirklich nur an Wasser gemangelt hat, wird sie mit deiner Hilfe schnell wieder soweit bei Kräften sein, dass sie sich erklären kann. Bis dahin werden wir Geduld haben. Wenn wir das Boot geborgen haben, solltest du wie geplant an die Grenze gehen, Tahatan, die Verstärkung organisieren und dich mit Chaska beraten. Das wird fürs Erste genügen.«
Tahatan nickte. »Nun gut, wenn ihr beide sicher seid, hier nichts Dunkelmagisches zu spüren, dann mögt ihr recht haben. Ihr wisst, dass mein Gespür einer Aura nicht ganz so ausgeprägt ist wie eures. Ich wollte nur jede Möglichkeit in Betracht ziehen …«
Der Magier sah stirnrunzelnd in die Runde und Nashoba beeilte sich, seinen besten Freund ein wenig aufzumuntern. »Und das ehrt dich natürlich Tahatan. Nimm es uns nicht übel, dass wir dir widersprochen haben. Wir wollten dich nicht kränken.«
Nashoba lächelte seinem Freund zu. Er wusste, dass Tahatans Ehre schnell verletzt war und wollte ihm nicht zu nahetreten.
»Nimm dir für morgen und die kommenden Tage alles Fleisch mit, das wir hier noch übrighaben und wähle dir eines meiner Ponys aus der Herde, bevor du losziehst.«
Tahatan grinste. »Wer könnte dem Angebot eines schnellen Pferdes schon widerstehen? Ich freue mich schon auf den Ritt – und hab keine Angst, den Rappen werde ich für dich zurücklassen ...«
Nun musste auch Nashoba lachen. Der Rappe war sein Lieblingstier und Tahatan hätte ihn niemals für sich ausgewählt, auch wenn er ihn gern mit seiner Leidenschaft für schnelle Pferde aufzog, die er im Übrigen mit vielen Inokté teilte, so auch mit Tahatan.
[10] Anguis: lateinisch Schlange oder Schleiche, symbolisches Bild, ähnlich dem Äskulapstab der antiken Griechen. Hier als Zeichen der Zugehörigkeit zu den Priesterinnen der dakoranischen Heiler. Es werden je nach Ausbildungsstand schwarze, bronzene, silberne und goldene Körperzeichnungen unterschieden.
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