Zu Joons Erleichterung blieb der Weg zum Stützpunkt, bei dem er den Mann abzuliefern gedachte, ohne Zwischenfälle. Die Menschen in der Stadt waren es gewohnt eine Szene wie diese zu sehen. Seit dem Knall, der dafür gesorgt hatte, dass die Welt nun war, wie sie war, war alles anders. Auch wenn dies bereits siebzig Jahre in der Vergangenheit lag. Sein Großvater hatte ihm erzählt, wie die Welt damals aussah. Zu dem Zeitpunkt, als gerade der Wechsel geschah. Joon biss sich unwillkürlich auf die Lippe und schob den Gedanken zur Seite.
»Wo bringst du mich hin?«
Joon warf dem Mann einen bösen Blick zu. Es machte ihn wütend, von ihm auch nur angesprochen zu werden. »Sie haben sich das alles selbst eingebrockt«, knurrte er ihn an. »Das ist Ihnen hoffentlich klar?« Joons Hand ballte sich in seiner Jacke zur Faust. »Sie sind selbst schuld an Ihrer Lage.«
Der Mann, dem Joon die Hände auf den Rücken gebunden hatte, verdrehte die Augen. »Du hättest mich auch einfach gehen lassen können, weißt du?«
Joon schnaubte wütend. »Damit ich den ganzen Ärger habe, wenn herauskommt, dass ich einem Dealer geholfen habe? Wohl kaum.« Seine Hand, die er eben noch zur Faust ballte, tastete nach dem Chip, den er bei dem Mann gefunden hatte. Ein kleiner Chip, nicht viel größer als der Daumen, auf dem sich Millionen von Daten speichern ließen. Das Agentenbüro der Regierung verfügte über eine eigene Abteilung, welche nur dafür da war, diese zu finden und zu entschlüsseln. Und diese waren so gut, dass es selbst Joon manchmal einen Schauer über den Rücken jagte. Aber so war die Regierung eben: Effizient und gnadenlos mit denen, die sich gegen sie stellten. Und manchmal auch gegen die, die unschuldig waren. So wie seine Familie.
»Nein.« Er versuchte, den Gedanken mit aller Macht zur Seite zu schieben.
»Du bist wohl wirklich komplett Gehirn gewaschen worden, wie?«, fragte der Mann, der Joons »Nein«, als Antwort auf seine Frage verstand. »Ist natürlich auch am einfachsten.«
»Sie wissen nichts von mir!«, fauchte Joon wütend. »Gar nichts. Und jetzt seien Sie endlich still!« Seine Hand wanderte an das Holster seiner Waffe. Das Brummen der Drohnen hinter Joon wurde ein wenig lauter.
Die Spannung in der Luft war förmlich greifbar und hing in dort zwischen ihnen wie ein Damoklesschwert. Joon spürte, wie sein Puls sich beschleunigte und Adrenalin durch seinen Körper schoss. Die Worte des Mannes hatten einen wunden Punkt getroffen. »Sie haben keine Ahnung, was ich durchgemacht habe«, zischte Joon zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Finger umklammerten den Griff seiner Waffe fester.
»Ein weiteres Wort von Ihnen und ich werde Sie wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verhaften.«
Der Mann schnaubte. »Hast du doch sowieso schon. Aber vielleicht solltest du mal hinterfragen, für wen du da dein Leben riskierst.«
Joon kämpfte gegen den Impuls an, seine Waffe zu ziehen. Die Drohnen hinter ihm schienen seine Anspannung zu spüren und rückten näher. Er atmete tief durch und versuchte, seine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. »Das reicht jetzt.« Er fasste den Mann grob an den Schultern, um ihn dazu zu bewegen schneller zu gehen. »Ich bringe Sie jetzt zur Wache. Sollen die sich doch um Sie kümmern. Ich habe keine Lust auf den ganzen Mist.«
Der Weg zur Wache war nicht weit und inzwischen wie eingebrannte in Joons DNA. Daher dauerte es, sehr zu seiner Erleichterung, nicht lange bis sie ankamen.
»Ach sieh einer an, wenn das nicht Joon ist unser Lieblingsagent. Wen bringst du denn heute mit Geleitschutz hierher? Haben wir etwa einen neuen Gast?«
Joon seufzte. Das heute war sowas von nicht seine Nacht. Erst die Alpträume und jetzt hatte ausgerechnet Daniel Nachtdienst. Derjenige, von den Agenten, mit denen er am wenigsten klar kam. Nicht, dass das hieß, dass er ein freundschaftliches Verhältnis zu den anderen pflegte. Joon stieß den Mann nach vorne zu Daniel. »Die Drohnen haben ihn aufgegabelt.«
»Wundert mich nicht so wie der aussieht«, merkte Daniel an. »Wir werden ihn mal über Nacht dabehalten und seine Daten überprüfen. Das dürfte schnell gehen.« Er sah Joon an. »Sonst noch irgendwas?«
Joons Hand in seiner Jackentasche schloss sich um den Datenchip. Er wusste nicht warum, doch es widerstrebte ihm, ihm diesen Daniel zu geben. »Nein. Das war alles.« Zumindest nicht bevor ihn sich selbst angesehen hatte. Ohne die Augen eines anderen neben ihm.
Mit einem knappen Nicken in Richtung Daniel wandte sich Joon zum Gehen. Seine Schritte hallten durch den leeren Korridor, als er die Wache verließ. Draußen empfing ihn die kühle Nachtluft, die eine willkommene Erleichterung von der angespannten Atmosphäre im Inneren bot. Mit zielstrebigen Schritten machte er sich auf den Weg zu seiner Wohnung. Sein Verstand arbeitete fieberhaft, während er überlegte, wie er den Inhalt des Chips überprüfen konnte, ohne Spuren zu hinterlassen. Die Neugier und ein unbestimmtes Gefühl der Dringlichkeit trieben ihn an.
Bis zu seiner Wohnung war er eine ganze Weile unterwegs. Denn sie befand sich in einem der äußeren Teile der Stadt, wo sich nur selten Menschen oder Drohnen hin verirrten. Sie lag im obersten Stockwerk eines verlassenen Hochhauses. Mit Mühe und auf nicht ganz legalem Weg hatte Joon es geschafft den Aufzug wieder zum Laufen zu bringen. Er war zwar ziemlich sportlich aufgrund seiner Tätigkeit als Agent, aber immer hinauf in den dreißigsten Stock zu gehen, da hatte selbst er keine Lust zu. Ein bisschen Komfort konnte er sich durchaus leisten.
Joon griff nach seinem Schlüssel und sperrte die Aufzugtür auf. Ein leises Summen ertönte im Mechanismus. Dann war eine mechanische Stimme zu hören. »Agent Kim Joon, willkommen zuhause.«
Joon verdrehte die Augen. »Ja, danke. Fahr mich einfach schnell hoch.«
Als hätte der Aufzug verstanden, was er sagte, was vermutlich sogar der Fall war, ertönte ein weiteres Summen und er setzte sich in Bewegung. Innerhalb von nicht einmal einer Minute erreichte der Aufzug den dreißigsten Stock.
Joons Wohnung war im eigentlichen Sinne mehr ein riesiges Loft. Wohnzimmer und Schlafzimmer befanden sich im selben Raum, alleine schon aus praktischen Gründen. Doch das, was Joon am besten gefiel war die Aussicht nach draußen. Die großen Fenster boten einen atemberaubenden Blick über die Stadt, die sich wie ein Meer aus Lichtern unter ihm erstreckte. Er trat an eines der Fenster heran und ließ seinen Blick über die nächtliche Skyline schweifen.
Von hier oben wirkte die Stadt unter dem Sternenhimmel fast friedlich, die Konflikte und Spannungen des Alltags unsichtbar in der Dunkelheit. Joon spürte, wie sich ein Teil der Anspannung des Tages von ihm löste.
Mit einem leisen Seufzen wandte er sich ab und ging zu seinem Arbeitsbereich. Ein hochmoderner Computer stand auf einem schlichten Schreibtisch, umgeben von verschiedenen Monitoren und technischen Geräten. All das hatte er sich von seinem Gehalt als Agent nach und nach gekauft. Manches sogar auf dem Schwarzmarkt.
Joon zog den Datenchip aus seiner Tasche und betrachtete ihn nachdenklich. Seine Finger zögerten einen Moment, bevor er den Chip in den Computer einsteckte. Das leise Surren der Lüfter war das einzige Geräusch in der stillen Wohnung, während das System die Daten verarbeitete. Joon lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, die Augen fest auf den Hauptbildschirm gerichtet. Als die ersten Informationen auftauchten, weiteten sich seine Augen vor Überraschung.
Was er sah, war weit mehr, als er erwartet hatte. Dateien, Codes, verschlüsselte Nachrichten - alles deutete auf etwas Größeres hin, etwas, das weit über seine üblichen Aufträge hinausging. Joon fuhr sich mit der Hand durchs Haar, plötzlich hellwach trotz der späten Stunde. Er wusste, dass er mit dem Inhalt dieses Chips eine Entscheidung treffen musste, die sein Leben für immer verändern könnte. Die Frage war nur: War er bereit dafür?