Joon blinzelte als er am nächsten Tag, vom Licht der Sonne geweckt wurde. Sein Rücken schmerzte, aber das war kein Wunder, denn er hatte Julia das Bett überlassen. Was er jetzt ein bisschen bereute. Stöhnend richtete er sich auf und rieb sich den schmerzenden unteren Rücken. Die Nacht auf dem harten Holzboden hatte deutliche Spuren hinterlassen.
Joon streckte vorsichtig seine steifen Glieder und versuchte, seine Verspannungen zu lockern. Er warf einen Blick zum Bett hinüber, wo Julia noch friedlich schlummerte. Ihr Gesicht wirkte entspannt, fast kindlich im Schlaf. Für einen Moment vergaß Joon seine Schmerzen und beobachtete sie nachdenklich. Sie sah so unschuldig aus. Und doch steckte sie bis zum Hals in Schwierigkeiten, von denen sie vermutlich nicht einmal ahnte, wie gefährlich sie waren.
Seufzend erhob sich Joon vollständig und streckte sich noch einmal ausgiebig. Er musste einen klaren Kopf bekommen und einen Plan schmieden, wie es weitergehen sollte. Aber zuerst brauchte er dringend einen Kaffee, um die Lebensgeister zu wecken.
Leise, um Julia nicht zu stören, schlich er zur improvisierten Küchenzeile hinüber. Zum Glück hatte er bei seinem letzten Aufenthalt hier ein paar Vorräte deponiert. Er setzte Wasser auf und bereitete den Kaffee vor, während seine Gedanken zurück zu den Ereignissen des Vortages wanderten. Diese erschienen ihm immer noch wie ein wilder Traum.
Eclipse war ihnen auf den Fersen, das stand fest. Aber was genau wollten sie von Julia? Und wie tief steckte sie in der ganzen Sache drin? Joon rieb sich nachdenklich das Kinn. Er hatte das Gefühl, dass Julia ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte. Irgendetwas verschwieg sie ihm. Aber was? Es würde sicherlich nicht leicht werden, das aus ihr herauszubekommen.
»Es ist echt wie ein Gewirr Fäden, die alle miteinander verwoben sind«, murmelte er leise vor sich hin. Er seufzte. »Es wird ein richtiger Knoten, wenn ich nicht aufpasse.« Er atmete tief den Geruch der aufgebrühten Kaffeebohnen ein, der ihn sich gleich besser fühlen ließ.
»Was redest du da von Fäden und Knoten?«, hörte er da eine verschlafene Stimme murmeln. Anscheinend war Julia nun doch aufgewacht.
Joon grinste, als er sie sah. Julia saß aufrecht im Bett, ihr Haar zerzaust und ihre Augen noch halb geschlossen und verklebt vom Schlaf. Sie sah verwirrt und desorientiert aus, als würde sie einen Moment brauchen, um sich zu erinnern, wo sie war. Er musste sich arg zusammen reißen, um nicht zu lachen. Sie sah einfach zu lustig aus.
»Guten Morgen, Schlafmütze«, sagte Joon, noch immer ein wenig grinsend. »Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Möchtest du auch einen Kaffee?«
Julia nickte dankbar und rieb sich die Augen, um den letzten Schlafsand zu vertreiben. »Ja, bitte. Ich glaube, ich brauche etwas, um richtig wach zu werden.« Sie schwang ihre Beine über die Bettkante und streckte sich. »Wie lange bist du schon auf?«
»Nein, keine Sorge.« Er goss ihr eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihr. »Auf dem Boden zu schlafen ist nicht bequem aber ich bin schlimmeres gewohnt.«
Für einen Moment herrschte Stille zwischen ihnen, nur unterbrochen vom leisen Schlürfen des heißen Kaffees. Dann blickte Julia ihn an. »Wenn du willst können wir uns mit dem Bett auch abwechseln.«
»Nein, das kommt nicht in Frage.« Er winkte ab. »Ich brauche dich fit und gut in Form. Wie gesagt: Ich bin es gewohnt auch mal auf dem Boden zu schlafen. Du sicher nicht. Oder irre ich mich?«
»Nein, tust du nicht«, gab Julia zu. »Also, was hast du eben von Fäden und Knoten geredet?« Sie sah ihn neugierig an, während sie einen weiteren Schluck ihres Kaffees trank.
Joon seufzte und sah sie an. »Nichts besonderes ... Es ist nur, es gibt so viele Lose enden in all dem, was passiert ist.« Er fuhr sich fahrig durch seine Haare. »Ich versuche es zu verstehen. Doch je mehr ich es versuche, desto mehr scheint alles nur noch komplizierter zu werden.«
»Ich weiß, was du meinst«, meinte Julia. »Es ist als stürze eine Lawine auf einen ein.«
»Genau.« Joon nickte. »Der Hacker, der versucht hat meine Daten einzusehen, Eclipse, die auf einmal auftauchen und dich verhaften wollen...« Er ballte seine Hände zu Fäusten. »Dann noch meine aktuellste Mission. Ich habe das Gefühl, dass das alles irgendwie zusammenhängt. Ich weiß nur nicht wie.« Er blickte sie direkt an. »Gibt es da vielleicht irgendwas, das du mir nicht erzählt hast?«
»Nein, ich-« Julia, sah ihn mit einem Blick an, der ihn mehr als skeptisch machte. »Ich weiß auch nicht, was die auf einmal von mir wollen.«
»Das war nicht meine Frage.« Joon lehnte sich ein Stück weiter nach vorne zu ihr. »Meine Frage war, ob du mir etwas verschweigst.«
Julia wich seinem Blick aus und starrte in ihre Kaffeetasse. Die Spannung im Raum war greifbar. Joon beobachtete sie genau, jede kleine Bewegung, jedes Zucken in ihrem Gesicht. Sie seufzte tief. »Ja. Ich weiß.«
»Julia.« Joon hob seine Hand und zwang Julia sanft, ihn anzusehen. »Wir müssen einander vertrauen können, um aus der ganzen Sache wieder heraus zu kommen.« Was genau der Grund war, weshalb er lieber alleine arbeitete. Nur war das jetzt nicht möglich. Zumindest nicht, ohne sie in Gefahr zu bringen.
Julia biss sich auf die Unterlippe, ihre Augen voller Konflikt. Sie schien mit sich zu ringen, unsicher, wie viel sie preisgeben sollte. Schließlich atmete sie tief durch und nickte. »Du hast Recht«, sagte sie leise zu ihm. »Es gibt tatsächlich etwas, das ich dir noch nicht erzählt habe.« Sie stellte ihre Kaffeetasse behutsam ab und faltete die Hände in ihrem Schoß. »Der Grund, warum ich in die Stadt gekommen bin.«
»Ja?« Joon sah sie an. Mit einem Mal wirkte sie wieder so zerbrechlich und hilflos auf ihn, wie an dem Tag, da er sie im Gasthaus zum ersten Mal gesehen hatte. »Weshalb bist du in die Stadt gekommen?«
Julia holte tief Luft. »Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder. Er... er ist vor sechs Monaten verschwunden. Die letzte Nachricht, die ich von ihm bekam, kam aus dieser Stadt. Danach war Funkstille.«
Joon konnte fühlen, wie sich seine Augen vor Überraschung weiteten. Er hatte mit vielem gerechnet. Aber nicht damit.
»Dein Bruder ist verschwunden?«, wiederholte er ungläubig. Das alles machte immer weniger Sinn. Anstatt dass der Knoten sich löste, zog er sich nur fester zusammen. Er nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse, um zumindest zu versuchen, seinen Verstand durch das Koffein aufzuwecken.
»Ja.« Julia nickte. »Ich habe immer noch seine letzte Nachricht. Willst du sie sehen?«
Joon nickte ernst. »Ja, bitte. Jedes Detail könnte wichtig sein.«
Julia griff in ihre Tasche und zog ihren Messenger hervor. Nach einigen Momenten des Scrollens reichte sie ihn Joon. Er nahm es vorsichtig entgegen und begann zu lesen.
»Hallo Juli.« Joon sah Julia mit einem Grinsen an. »Juli?«, erkundigte er sich amüsiert.
Julias Wangen färbten sich rosa. »Das war sein Spitzname für mich.«
»Süß.« Joon lachte. Dann fuhr er fort mit Lesen. »Ich weiß, du machst dir Sorgen, aber ich bin einer großen Sache auf der Spur. Ich kann nicht viel sagen, aber wenn ich Recht habe, könnte das alles verändern. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Pass auf dich auf. Ich hab dich lieb.«
Joon las die Nachricht mehrmals, sein Gesicht wurde ernst. »Wann genau hast du diese Nachricht erhalten?«
»Vor genau sechs Monaten und drei Tagen«, antwortete Julia prompt. »Ich habe jedes Detail im Kopf. Danach... nichts mehr. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Es war, als wäre er vom Erdboden verschluckt.«
Joon gab ihr den Messenger und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. »Also du bist hierher gekommen, um ihn zu suchen«, stellte er fest.
»Ja«, bestätigte Julia. »Ich wusste nicht, wo ich sonst anfangen sollte. Ich hatte gehofft, hier Spuren zu finden, irgendetwas, das mir helfen könnte, ihn zu finden.«
»Hast du mich deshalb neulich angesprochen?«, wollte Joon wissen. »Oder willst du wirklich, dass ich jemanden für dich töte.«
Wieder wich Julia seinem Blick aus, also hatte er wohl ins Schwarze getroffen. »Ich... ich habe viel über dich gehört«, gab sie zu. »Ich hatte das Gefühl, dass du der Einzige bist, der mir helfen kann.«
Joon zog eine Augenbraue in die Höhe. »Aber mich darum bitten jemanden zu töten... Ist das nicht ein bisschen krass, nur um zu erreichen, dass ich dir zuhöre?«
Julia zuckte mit Schultern. »Du hast mir auch neulich gar nicht zugehört. Stattdessen hast du mich rausgeschmissen«, erinnerte sie ihn. »Aber ich bin dir auf diese Weise im Gedächtnis geblieben.«
»Stimmt«, musste er zugeben. »Das ist wahr.« Er stellte seine leere Tasse Kaffee auf den Tisch und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Dir ist aber schon klar, dass diese Methode mich zu fragen gefährlich war, oder? Für uns beide.« Er sah sie jetzt direkt an. »Ich hätte dich auch festnehmen können.«
Julia nickte langsam. »Das weiß ich.« Sie klang kleinlaut. Nicht so selbstbewusst wie sonst.
Ihm fiel etwas ein. »Du hast keine Suchmeldung nach deinem Bruder aufgegeben, oder?«, wollte er wissen. Er hatte von keiner Abteilung in der Stadt im letzten halben Jahr von einer Vermisstenanzeige gehört.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das habe ich mich nicht getraut.«
»Ich verstehe.« Jetzt war es Joon, der nickte. »Du wolltest offizielle Behörden meiden um niemanden aufzuschrecken.« Um sie aufzumuntern, versuchte er sich an einem Lächeln in ihre Richtung. »Das war eine gute Idee.«
»Vielleicht.« Julia erwiderte sein Lächeln schwach. »Aber auch das hat letztlich nichts gebracht. Eclipse hat mich gefunden.«
Joon dachte nach. »Wie gesagt: Fürs Erste sind wir hier in Sicherheit. Aber es wäre wirklich besser, wenn wir zu mir in die Wohnung könnten, da steht meine ganze Technik. Ohne die kann ich nicht viel anfangen.« Er fuhr sich frustriert durch die Haare.
Julia sah ihn mit einem Blick an, den er nicht zu deuten vermochte. »Was meinst du mit Technik?«
»Na meinen Computer zum Beispiel und andere technische Spielereien«, antwortete er ausweichend. »Außerdem stecke ich immer noch knietief in einer Mission, die ich auch nicht von hier aufklären kann.«
»Du hast eine Mission?« Mit großen Augen sah Julia ihn an.
»Ja.« Joon beschloss, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich habe den Auftrag von meinem Boss erhalten, in der Sache der Explosion im Industrieviertel zu ermitteln. Du hast sicher davon gehört. Die Nachrichten waren überall voll davon.« Was die Sache verkomplizierte.
»Ich hatte also Recht«, hörte er Julia leise murmeln.
»Du hattest Recht? Womit?«, erkundigte er sich bei ihr.
»Damit dass du echt ein Superagent bist«, antwortete sie auf seine Frage.
Joon runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass das nicht das war, was sie wirklich dachte. Und überhaupt hatte er den Eindruck, dass sie ihm noch immer nicht alles erzählte. Doch er beschloss es für jetzt gut sein zu lassen. Vorerst.
Er stand auf und hielt ihr seine Hand hin. »Was würdest du davon halten, wenn ich dir hier ein bisschen die Gegend zeige?«