Das erste, was Joon wahrnahm, als er erwachte, war der stechende Schmerz in seinem Nacken. Er hatte die Nacht über seinem Schreibtisch verbracht, den Kopf unbequem auf seinen Armen gebettet. Langsam hob er den Kopf und blinzelte gegen das grelle Licht der Computerbildschirme, die er vergessen hatte auszuschalten.
Die Erinnerungen an die vergangene Nacht kehrten in Bruchstücken zurück. Der Alptraum. Yuris Gesicht, das sich in Nebel auflöste. Und dann ... Julia. Julia, die ihn geweckt hatte, ihre Stimme voller Sorge. Julia, die er angefahren hatte, als sie nur helfen wollte.
Joon rieb sich müde die Augen und warf einen vorsichtigen Blick zum Sofa hinüber. Julia lag dort, tief schlafend, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Er erinnerte sich daran, wie er mitten in der Nacht aufgestanden war, um sie zuzudecken. Wie er ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen und sich entschuldigt hatte, obwohl er dachte, sie würde schlafen.
Ein Gefühl der Reue überkam ihn. Er hatte sie weggestoßen, als sie nur freundlich sein wollte. Und doch konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen. Nicht über Yuri, nicht über seine Vergangenheit, und ganz sicher nicht über die Gefahr, in der sie sich beide befanden.
Joon stand leise auf, bemüht, Julia nicht zu wecken. Er streckte sich und spürte, wie seine verspannten Muskeln protestierten. Während er zur kleinen Küchenecke ging, um Kaffee zu machen, ließ er seinen Blick wieder zu Julia wandern. Sie sah so friedlich aus, so unschuldig. Er wünschte, er könnte sie aus all dem heraushalten, sie vor der Dunkelheit seiner Welt beschützen.
Aber er wusste, dass es dafür zu spät war. Sie waren beide zu tief in dieser Sache drin. Ein Teil von ihm, ein Teil, den er zu ignorieren versuchte, war froh, dass sie hier bei ihm war. Joon seufzte leise und wandte sich dem Kaffeemacher zu. Er hatte viel zu tun heute, und je eher er anfing, desto besser. Vielleicht, so dachte er, während der erste Duft von frischem Kaffee den Raum erfüllte, vielleicht würde er einen Weg finden, Julia die Wahrheit zu sagen. Eines Tages. Aber nicht heute.
»Außerdem ist es nicht so, als hättest du keine Geheimnisse vor mir, richtig?«, murmelte er in ihre Richtung. Was kein Wunder war. Egal ob reich oder arm. Jeder hier in der Stadt hatte vor jemand anderem Geheimnisse. Das war ganz normal.
Joon nahm einen Schluck von seinem Kaffee und ließ seinen Blick über die schlafende Julia schweifen. Er konnte nicht leugnen, dass etwas an ihr ihn faszinierte. Vielleicht war es ihre Entschlossenheit, vielleicht ihre Verletzlichkeit. Oder vielleicht war es einfach die Tatsache, dass sie, trotz all der Gefahren, immer noch hier war. Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und fuhr den Computer hoch.
Die Bildschirme flackerten zum Leben und zeigten eine Flut von Informationen, Codes und Daten. Joon begann zu tippen, seine Finger flogen über die Tastatur, während er versuchte, die losen Enden zusammenzufügen. »Was verbirgst du, Julia?«, murmelte er leise, während er arbeitete. »Und warum kann ich das Gefühl nicht loswerden, dass es wichtig ist?«
Er wusste, dass er vorsichtig sein musste. Julia war nicht nur irgendein Mädchen, das zufällig in diese Situation geraten war. Sie war clever, möglicherweise gefährlich. Und doch konnte er nicht anders, als sich zu ihr hingezogen zu fühlen.
Joon schüttelte den Kopf, um die ablenkenden Gedanken zu vertreiben und sich zu konzentrieren. Eclipse war da draußen, eine unsichtbare Bedrohung, die jeden Moment zuschlagen konnte. Er musste bereit sein. Denn wäre er es nicht, würde das zweifelsfrei Konsequenzen haben. Solche, die ihm nicht gefallen würden.
»Was wollen sie nur von uns?«, murmelte er und sein Blick fiel auf den Rucksack, den Julia und er am Tag zuvor fanden. Sich die Dokumente darin anzusehen hatte er keine Zeit gefunden. Aber jetzt war die perfekte Gelegenheit dazu. Julia schlief noch immer. Das hieß, er konnte selbst entscheiden inwieweit und ob er die Informationen später an sie weiter geben würde.
»Wer schreibt denn bitte heute noch auf Papier?«, murmelte er, als er die Akte öffnete. Es war nicht viel, nur knapp zwanzig Seiten. Er begann, die Dokumente durchzublättern. Seine Augen weiteten sich, als er den Inhalt erfasste. Die Akte enthielt detaillierte Informationen über ein Projekt, ein hochgeheimes Vorhaben mit weitreichenden Konsequenzen.
Er fand Berichte über experimentelle Technologien, die die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verwischen sollten. Dazu fand er Listen mit Namen. Wissenschaftler, Politiker, Unternehmer. Einige waren durchgestrichen, andere mit Fragezeichen versehen. Eine Seite zeigte eine Karte der Stadt, auf der bestimmte Areale markiert waren. Joon erkannte einige der Orte wieder. Darunter das Café, in der er und Julia angegriffen worden waren.
Auf der letzten Seite fand er etwas, das sein Blut gefrieren ließ: Ein Foto von sich selbst, zusammen mit einer kurzen Notiz: »Priorität: Eliminieren oder rekrutieren.«
Joon erstarrte. Dass er sich von Eclipse rekrutieren ließ, war unvorstellbar für ihn. Niemals würde er sich einer Organisation anschließen, die derart unberechenbar war und über die er so wenig wusste. Dass er für die Regierung als Agent arbeitete, war nur so, weil er noch etwas zu erledigen hatte. Etwas ganz Bestimmtes, was er nur erreichen konnte, wenn er jetzt die Drecksarbeit erledigte.
Joon hielt inne und legte die Akte kurz zur Seite. »Yuri, ich schwöre, ich habe dich nicht vergessen.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
Er schloss für einen Moment die Augen und sah sie wieder vor sich. So, wie er sie zum letzten Mal gesehen hatte. Er wusste, dass es ihm niemals möglich sein würde, dieses Bild von ihr zu vergessen. Ihre weit vor Angst aufgerissenen Augen. Die Verzweiflung und-
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, seine eigenen Augen noch immer geschlossen, seine Hände auf seine Ohren, so als könne er auf diese Art verdrängen, was sich tief in sein Gedächtnis gebrannt hatte.
Joon zwang sich, tief durchzuatmen und die Erinnerungen zurückzudrängen. Er konnte es sich nicht leisten, jetzt in der Vergangenheit zu versinken. Nicht wenn die Gegenwart so gefährlich war und die Zukunft auf dem Spiel stand.
Mit zitternden Händen griff er wieder nach der Akte. Er musste sich konzentrieren, musste einen Weg finden, Eclipse aufzuhalten und gleichzeitig sein eigenes Ziel zu erreichen. Für Yuri. Für sich selbst. Und vielleicht auch für Julia, die unwissentlich in dieses gefährliche Spiel hineingezogen worden war. Zumindest machte es bisher den Anschein. Es konnte trotzdem genau so gut sein, dass Julia noch tiefer drin hing, als es ihm jetzt bewusst war.
Joon ballte seine Hände so sehr zu Fäusten, dass seien Fingerknöchel weiß wurden. Ihm war es nie leicht gefallen anderen zu vertrauen. Nicht, seit damals. Seit er alles verloren hatte, was ein Mensch verlieren konnte.
Um sich von seinen finsteren Gedanken abzulenken, blätterte Joon erneut durch die Eclipse-Dokumente. Er musste etwas unternehmen, so viel war sicher. Die Frage war nur, was. Eclipse war wie ein Geist. Anwesend und doch nicht greifbar. Aber wenigstens hatte er jetzt so etwas wie eine Spur. Das war auf jeden Fall schon mal was, mit dem er Arbeitens konnte.
Plötzlich hörte er ein leises Rascheln hinter sich. Joon erstarrte und drehte sich langsam um. Julia bewegte sich auf dem Sofa, streckte sich und öffnete verschlafen ihre Augen, die noch immer mit Schlafsand verklebt waren. »Morgen«, murmelte sie und rieb sich das Gesicht. »Wie spät ist es?«
Joon zwang sich zu einem neutralen Gesichtsausdruck und schloss unauffällig die Akte. »Kurz nach sieben«, antwortete er und überlegte fieberhaft, wie viel er ihr sagen sollte. »Hast du gut geschlafen?«
Julia nickte langsam und setzte sich auf. Ihr Blick fiel auf den Schreibtisch und die Papiere, die Joon hastig beiseite schob. »Hast du etwas gefunden?«, fragte sie neugierig.
Joon zögerte. Er wusste, dass er ihr vertrauen musste, wenn sie zusammenarbeiten sollten. Aber er wusste auch, dass jede Information, die er preisgab, sie in noch größere Gefahr bringen könnte. »Ich... ich habe ein paar interessante Dinge entdeckt«, sagte er schließlich vorsichtig. »Aber ich muss sie noch genauer analysieren. Möchtest du einen Kaffee?«
Julia nickte dankbar, offensichtlich nicht wach genug, um seine Ausweichtaktik zu bemerken. Was ihm jetzt zugute kam.
Während Joon aufstand, um Kaffee zu machen, warf er einen letzten Blick auf die geschlossene Akte. Er wusste, dass er bald eine Entscheidung treffen musste. Wie viel er Julia anvertrauen konnte und wie er sie beide aus dieser gefährlichen Situation befreien konnte, ohne seine eigene Mission zu gefährden.