Joon stand breitbeinig da, seine Waffe im Anschlag, alle Sinne bis aufs Äußerste gespannt. Er konnte spüren, wie seine Augen vor Wut und Herausforderung funkelten. Julia sah zu ihm herüber, und kurz hatte er den Eindruck, als hätte sie mehr Angst vor ihm, als vor dem Mann, der ihr noch immer die Arme auf den Rücken drehte.
War es wegen ihres Gesprächs oder wegen der aktuellen Situation? Ein Teil von ihm war überrascht von dieser Reaktion. Hatte er wirklich eine so einschüchternde Präsenz? Gleichzeitig war er sich bewusst, dass er zu Julia nicht gerade nett gewesen war. Im Gegenteil, er hatte sie vor ein paar Minuten sogar noch angeschrien. Dennoch: Dass sie trotzdem mehr Angst vor ihm hatte, als vor dem anderen, war absurd. Aber das spielte jetzt ohnehin keine Rolle: Die Situation war zu ernst, um Schwäche zu zeigen.
»Loslassen habe ich gesagt«, befahl Joon erneut, seine Stimme hart und unnachgiebig. »Oder sind Sie taub?« Er wollte keinen Zweifel daran lassen, dass er es ernst meinte.
Der bewaffnete Mann, der Julia festhielt, lachte kalt. Seine Arroganz ließ Joons Wut nur weiter ansteigen. »Du bist mutig, Agent«, höhnte der Mann in Joons Richtung. »Aber ich bin nicht hier, um zu verlieren. Glaub mir, ich habe keine Angst vor dir oder deiner Waffe.«
»Glauben Sie ich mache Witze?«, knurrte Joon und machte einen weiteren Schritt nach vorne, die Waffe immer noch auf den anderen gerichtet.
Der lachte erneut. »Nicht unbedingt. Aber mit diesem Ding da, wirst du wohl kaum was gegen uns ausrichten. Wo hast du es her? Aus einem Museum?«
Zuerst ich bin nicht du für Sie, sondern Agent Kim«, fauchte Joon ihn an. »Zweitens, wenn Sie sie nicht sofort loslassen, wie ich Sie jetzt schon mehrfach gebeten habe, werde ich Ihnen zeigen, wie alt meine Waffe wirklich ist.«
»Joon...« Julias Stimme klang zittrig.
Er würdigte sie keines Blickes. Stattdessen war seine ganze Aufmerksamkeit auf den Mann hinter ihr gerichtet. »Von welcher Einheit sind Sie überhaupt? Ich kenne jede hier in der Stadt, aber Ihre habe ich noch nie gesehen.«
Für einen Moment glaubte Joon das eine Auge des Mannes vor ihm nervös Zucken zu sehen.
Er wertete das als gutes Zeichen. »Außerdem ist das hier das Territorium meiner Einheit«, fuhr er fort. »Und ich schätze es nicht, wenn sich andere hier aufhalten.« Dass diese aus ihm selbst bestand, da er immer alleine arbeitete, ließ Joon unerwähnt. »Sollten Sie sich nicht umgehend ausweisen, werde ich Sie beim HQ melden«, fügte er hinzu, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Du hast echt Nerven, Kleiner. Das muss muss dir echt lassen«, meinte der Mann. »Also gut.« Er griff mit einer Hand in seine Tasche. »Schon mal was von Eclipse gehört?«
Joon spürte, wie sich sein Magen zusammenzog wie Kaugummi. Er hatte Gerüchte über diese Einheit gehört, aber nie geglaubt, dass sie existierte. Sondern es lediglich für eines dieser modernen Märchen gehalten, die sich immer mal wieder im Netz und unter den Leuten breit machten. Eine Schattenorganisation, die außerhalb jeglicher Kontrolle der Regierung operierte und einem unbekannten Dritten unterstand? Als ob die Regierung so etwas zulassen würde. Es erschien ihm komplett absurd. Denn was für eine Einheit konnte schon stärker sein, als die von ihrem Hauptquartier? Und nur weil einige Leute etwas erzählten, dann auch online, musste das noch lange nicht wahr sein. Doch gesetzt dem Fall, dass es der Wahrheit entsprach, war die Situation weit gefährlicher, als er befürchtet hatte.
Äußerlich ließ Joon sich seine Überraschung und Besorgnis nicht anmerken. Er hielt seine Waffe weiterhin fest im Griff, während er versuchte, die neue Information einzuordnen und zu verarbeiten.
»Eclipse oder nicht, Sie haben kein Recht, hier so aufzutreten. Zeigen Sie mir Ihre Autorisierung«, forderte er mit fester Stimme.
Der Mann grinste ihn überheblich an. »Wir brauchen keine Autorisierung, Kleiner. Unser Wort ist Gesetz.«
Joon wusste, dass er vorsichtig sein musste. Eclipse war berüchtigt für ihre brutalen Methoden und ihre Unabhängigkeit von offiziellen Strukturen. Gleichzeitig konnte er Julia nicht ihrem Schicksal überlassen. Das hatte sie nicht verdient. Außerdem: Wenn Eclipse so sehr an ihr interessiert war, dann konnte er sie ihnen erst recht nicht aushändigen. Er musste einen Weg finden, die Situation zu entschärfen, ohne einen offenen Konflikt mit Eclipse zu riskieren.
»Hören Sie«, begann Joon, seine Stimme nun ruhiger, aber immer noch bestimmt, obwohl er sich ärgerte wie herablassend der Eclipse-Agent mit ihm sprach. »Ich verstehe, dass Sie Ihre Arbeit machen. Aber diese Frau steht unter dem Schutz von mir und meiner Agentur. Was auch immer Sie von ihr wollen, wir können das sicher auf zivilisierte Weise klären.«
»Du bewegst dich auf dünnem Eis, Kleiner. Ganz dünnem Eis«, knurrte der Eclipse-Agent in seine Richtung. »Ich hoffe, dass ist dir bewwusst.«
»Wie gesagt: Das hier ist mein Territorium«, wiederholte Joon gezwungen ruhig, das, was er zuvor gesagt hatte. »Sollten Sie unzufrieden sein, melden Sie sich bitte mit Angabe der Gründe an das zuständige HQ. Dann lässt sich bestimmt alles klären.« Joon wusste, dass er mit dem Feuer spielte.
Die Spannung im Raum war greifbar. Der Eclipse-Agent fixierte Joon mit einem durchdringenden Blick, während er Julia noch immer grob den Arm auf ihren Rücken gedreht hatte.
Joon konnte die Angst in Julias Augen sehen. Er hätte sie gerne beruhigt, doch das war jetzt zweitrangig. Zuerst musste er dafür sorgen, dass sie beide überhaupt wieder aus dieser Situation heraus kamen. Und zwar unbeschadet. Was sicher nicht leicht werden würde.
»HQ? Von was träumst du nachts, Junge? Wir sind Eclipse. Wir haben es nicht nötig den offiziellen Weg zu gehen.«
Doch bevor Joon etwas darauf erwidern konnte, vibrierte das Handy des Eclipse-Agenten in seiner Tasche.
Mit einem verärgerten Blick zog er es heraus und hielt es ans Ohr. »Was ist jetzt?«, knurrte er, während seine Miene sich veränderte, als er den Anruf entgegen nahm.
Nach wenigen Sekunden schien sich seine Haltung zu verändern. »Was? Das kann nicht sein!«, bellte er in sein Handy. »Ja, ich verstehe.« Er sah Joon an, seine Augen verengten sich voller Zorn. »Das wird noch ein Nachspiel haben, Kleiner. Eines, das dir nicht gefallen wird.«
Er löste den Griff von Julias Armen so plötzlich, dass diese in Joons Arme fiel. »Wir ziehen uns zurück. Aber sei dir bewusst, dass wir euch beide im Auge behalten werden. Ganz besonders aber dich.«
Joon konnte kaum fassen, was gerade passiert war. Der Agent drehte sich um und machte sich mit seinen Männern auf den Weg zur Tür. Joon war sich sicher. Dies würde nicht das letzte Mal war, dass er mit Eclipse konfrontiert wurde.
»Ich hätte jetzt gerne, den versprochenen Drink«, hörte er Julia sagen. »Und zwar bitte extra stark.«