Die Dunkelheit des Raumes umhüllte Julia wie eine schwere Decke. Sie lag wach auf dem großen, klobigen Ledersofa, welches sich kühl unter ihrer Haut anfühlte. Ihre Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt, und sie konnte die Umrisse der Möbel im Raum erkennen. Das leise Summen der Computerbildschirme und das gelegentliche Klicken der Tastatur waren die einzigen Geräusche, die die Stille durchbrachen. Julia drehte ihren Kopf leicht und beobachtete Joons Silhouette am Schreibtisch. Er saß regungslos da, sein Gesicht vom bläulichen Licht der Bildschirme erhellt. Sie fragte sich, ob er überhaupt vor hatte zu schlafen.
Sie erinnerte sich an das, was er zu ihr gesagt hatte: »Ich brauche nicht viel Schlaf.« Der Ausdruck in seinen Augen, als er das zu ihr sagte, war ihr seltsam vorgekommen. So als läge mehr in dieser Aussage. Doch sie traute sich nicht, ihn zu fragen. Weder vorhin noch jetzt.
Ein Gefühl der Schuld nagte an ihr. Sie wusste, dass sie ihm endlich die Wahrheit sagen musste, aber die Angst vor seiner Reaktion lähmte sie. Jedes Mal, wenn sie den Mut fasste, es ihm zu gestehen, erinnerte sie sich an den wütenden Ausdruck in seinen Augen und die Worte blieben ihr im Hals stecken.
Julia schloss die Augen und versuchte, die wirren Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. Die Ereignisse der letzten Tage schienen wie ein surrealer Traum. Sie hatte nie vorgehabt, in so etwas Gefährliches verwickelt zu werden. Und sie hatte sicher nicht damit gerechnet, jemandem Joon so nahe zu kommen. Sie erinnerte sich an das, was Alex zu ihr sagte: »Dieser Mann ist gefährlich.« Das durfte sie nicht vergessen. Niemals. Zudem hatte sogar Joon selbst sich nicht als Helden, sondern Bösewicht bezeichnet. Das hätte ihr schon längst zu denken geben sollen.
Ein leises Seufzen entfuhr ihr, und sie hörte, wie Joon sich in seinem Stuhl bewegte. Julia hielt den Atem an, unsicher, ob sie vorgeben sollte zu schlafen. Nach einem Moment der Stille hörte sie, wie er erneut zu tippen begann. Sie öffnete ihre Augen wieder und starrte an die Decke. Die Dunkelheit schien ihre Geheimnisse zu verschlucken, aber Julia wusste, dass sie nicht für immer schweigen konnte. Irgendwann würde die Wahrheit ans Licht kommen, und sie fürchtete sich vor diesem Moment. Allein daran zu denken, ließ ihr Herz schneller schlagen.
Mit einem leisen Rascheln drehte sie sich auf die Seite, ihr Blick fest auf Joons Rücken gerichtet. Sie beobachtete, wie seine Schultern sich bei jedem Atemzug hoben und senkten, und spürte eine Welle von Reue, die sich in ihr breit machte. Natürlich, sie und Joon hatten nicht den besten Start gehabt, doch seit der Sache mit Eclipse war er nett zu ihr gewesen. Sogar fürsorglich. Und was tat sie? Nichts.
Julia wusste, dass sie eine Entscheidung treffen musste. Aber für den Moment lag sie da, gefangen zwischen Furcht und Sehnsucht, während die Nacht voranschritt. Sie konnte nur hoffen, dass sie den Mut finden würde, ihm bald davon zu erzählen, bevor er es selbst herausfand. Mit diesen Gedanken schlief sie ein.
Als Julia das nächste Mal erwachte war es, weil ein erschrockenes Keuchen sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf riss. Sie sah sich um, in dem Gedanken es könnten Einbrecher sein, doch erkannte schnell, dass außer Joon niemand hier war.
Verschlafen setzte sie sich auf und sah zu ihm hinüber. Joon war eingeschlafen. Sein Kopf lag auf seinen Armen, die Bildschirme des Computers leuchteten in einem gespenstischen Blau. Es ließ ihr kurz eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
»Yuri«, hörte Julia ihn vor sich hin murmeln. »Nein, bitte nicht. Verlass mich nicht.«
Julia erstarrte. Wer war Yuri? Und wieso rief Joon so verzweifelt nach ihr in seinen Träumen? Sie konnte fühlen, wie sich Eifersucht in ihr breit machte. Sie zögerte, nicht sicher, was sie jetzt tun sollte. Doch dann ging sie zu ihm hinüber.
»Joon, wach auf.« Julia rüttelte ihn kurz an seiner Schulter, was jedoch nicht viel half. Dabei fiel ihr auf, wie schweißnass seine Stirn war. Langsam bekam sie Angst. »Joon, bitte.«
Julia verstärkte ihren Griff leicht. »Joon, komm schon. Wach auf. Du hast einen Alptraum.«
Plötzlich schoss Joons Kopf abrupt nach oben, seine Augen waren weit aufgerissen und voller Panik. Für einen Moment starrte er sie an, als würde er sie nicht erkennen und sähe sie zum ersten Mal. »Y-Yuri?«, murmelte er verwirrt.
»Nein, tut mir leid. Ich bin es, Julia.« Sie zog ihre Hand zurück. »Du hattest einen Alptraum Joon.«
Joon blinzelte mehrmals, als würde er versuchen, die Realität von seinen Träumen zu trennen. Langsam kehrte das Bewusstsein in seine Augen zurück, und er sah Julia an, diesmal wirklich sie erkennend. »Julia«, sagte er leise, seine Stimme rau vom Schlaf. »Es tut mir leid. Ich... ich habe schlecht geträumt. Ich wollte dich nicht wecken.«
Julia nickte mitfühlend, obwohl sie innerlich mit Fragen brannte, die sie ihm am liebsten alle sofort stellen wollte. »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie ihn vorsichtig.
Joon schüttelte den Kopf und rieb sich müde die Augen. »Nein, es... es war nur ein Traum. Nichts Wichtiges.«
»Bist du sicher?«, erkundigte sie sich. »Es schien mir mehr als nichts zu sein.«
»Ich will nicht darüber reden.« Joons Stimme klang so scharf wie eine Klinge. »Außerdem geht es dich auch gar nichts an.«
Julia zuckte unwillkürlich zusammen. Sie wusste, dass er Recht damit hatte. Aber das machte es nicht besser. Im Gegenteil. Es zeigte ihr nur einmal mehr, dass auch er Geheimnisse vor ihr hatte. Sie war nicht die Einzige, die etwas vor ihm verbarg.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Ich wollte nicht aufdringlich sein. Sondern ... helfen.«
Joon fuhr sich mit einer frustrierten Handbewegung durch seine Haare. »Ich weiß. Ich bin dir nicht böse.«
Da war Julia sich nicht so sicher. Doch das sagte sie nicht. »Ich denke wir sollten versuchen weiter zu schlafen?« Joon nickte. »Ja. Morgen wird ein langer und anstrengender Tag. Es gibt viel zu tun.«
»Ja, da hast du wohl Recht.« Julia versuchte sich an einem Lächeln, um ihm zu zeigen, dass sie ihm nicht böse war. Was der Wahrheit entsprach. Denn sie hatte sich vor allem erschrocken. Anscheinend gibt es also auch Dinge, die Joon Angst machen, schoss es ihr durch den Kopf. »Also dann gute Nacht.« Mit hängenden Schultern trottete sie hinüber zum Sofa.
Julia legte sich hin und zog die dünne Decke über sich. Sie schloss die Augen, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Zu viele Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Wer war Yuri? Was hatte Joon so erschreckt? Und würde sie jemals den Mut finden, ihm die Wahrheit zu sagen? Nach einer Weile hörte sie, wie Joon leise aufstand und zu ihr herüber kam. Sie hielt die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, um den Anschein zu erwecken, sie würde schlafen. Sie spürte, wie er die Decke vorsichtig höher zog und sie besser zudeckte.
»Es tut mir leid, Julia«, hörte sie ihn flüstern, so leise, dass sie es fast nicht verstanden hätte. »Ich wünschte, ich könnte dir alles erzählen. Aber ich kann nicht. Es ist unmöglich.«
Dann, zu ihrer Überraschung, spürte sie, wie er sanft eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht strich. Die Berührung war so zärtlich, dass es ihr den Atem verschlug.
Julia kämpfte gegen den Drang an, die Augen zu öffnen und ihn anzusehen. Stattdessen blieb sie regungslos liegen, während sie hörte, wie Joon sich wieder entfernte und zu seinem Schreibtisch zurückkehrte.
Das leise Klackern seiner Finger auf der Tastatur und das Klicken der Maus begleiteten sie nach einer Weile in einen tiefen und traumlosen Schlaf fallen.