Die Sonne ging über den Bergen Tralliens auf, als Rowan am Fenster seines Gemaches stand und auf das Treiben im Schlosshof hinabblickte. Er konnte seinen Knappen Sero sehen, der seinen Hengst Agrippa aus dem Stall an die Wassertränke führte, ihn abbürstete und aufsattelte. Es war gerade wenige Minuten nach Sechs. Rowan war seit einer Stunde auf den Beinen und hatte alles versucht, um wachzuwerden nach dieser unsteten Nacht. Sero sah auf die Entfernung auch nicht viel frischer aus, allerdings hatte Rowan die Vermutung, dass das eher an einer Dame lag als an merkwürdigen Träumen von ihm, wie er durch eine Felswüste irrte, auf der Suche nach Kindern, die er gar nicht hatte. Und wann immer er glaubte, eines zu fassen zu kriegen, verschwanden sie und das Spiel ging von vorn los. Rowan fühlte sich, als wäre er tatsächlich durch ein Geröllfeld gerannt, über Stock und Stein, einer Illusion hinterher.
Er würde es Sero schon noch austreiben, hinter jedem Weiberrock herzusein, solange sie auf Reisen waren. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn sich abwenden.
»Ja?«, rief er und sein Leibdiener Brigg öffnete die Tür.
»Königliche Hoheit, Ihre Majestät die Königin lässt Euch fragen, ob Ihr ihr beim Frühstück Gesellschaft leistet.«
Rowan lächelte. Er hatte gewusst, dass seine Mutter aufstehen würde, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Sie hatten sich gestern während des Abendessens oft genug voneinander verabschiedet. Er hoffte nur, dass Jonah nicht aufwachte. Er wollte nicht, dass sein kleiner Bruder bei seinem Aufbruch dabei war. Das würde nur wieder Tränen geben.
»Richte ihr bitte aus, ich bin in fünf Minuten da, ich bin noch nicht angekleidet«, sagte der Prinz und griff nach seinen Reisekleidern. Meister Plinus, der Hofschneider, hatte selbst für diesen Zweck seine Kunst walten lassen und Hosen aus robustem Stoff gefertigt, die langes Reiten aushielten und einen nachts warmhielten. Ebenso hatte er Rowan einen strapazierfähigen Rock in einer unauffälligen ockergrünen Farbe gefertigt und einen Umhang aus feiner, aber warmer Wolle. In seinem Reisesack befand sich eine weitere Hose und einige Hemden, damit er sich nicht zu schämen brauchte, wenn er vor den trallischen König trat. Seife, in ein Handtuch eingewickelt, konnte zum Waschen der Kleidung verwendet werden. Er würde schlicht daher kommen, aber sauber. Er konnte sich auf einer Reise zu Pferde nicht mit Zierrat beladen.
Fertig angezogen betrat er den Speisesaal, wo seine Mutter gerade eine Tasse Kaffee serviert bekam. Rowan seufzte, denn alle waren sie wach, außer Jonah.
»Ich hatte doch gesagt, ihr braucht nicht extra aufzustehen«, murrte der Kronprinz.
»Wir können dich nicht ohne Verabschiedung ziehen lassen, das bringt Unglück«, knurrte Eugena, die offenbar mit dem falschen Fuß aufgestanden war. Selbst Ferdic und König Marek, bekannt für Morgenmuffeligkeit, waren wach und hingen mit den Nasen in den Krügen voller Kaffee.
»Nun gut.« Rowan nahm Platz und genoß ein letztes ausgiebiges Frühstück. So gestärkt würde er den Rest des Tages nicht mehr viel zu essen benötigen und sie konnten ohne große Rast durchreiten.
Die Familie betrat geschlossen den Schlosshof, um Rowan und seinen Knappen zu ihrer Reise zu verabschieden und ihnen eine sichere An- und Heimkunft zu wünschen. Der Prinz und Sero verrichteten die letzten Handgriffe, um die Pferde mit dem Gepäck zu bestücken, während diese durch einen Hafersack vor der Schnauze abgelenkt waren.
Rowan reichte seinem Knappen ein Päckchen, das ein dick mit Fleisch belegtes Brot und etwas Käse enthielt. Er wollte bis zum Abend durchreiten und ein Butterbrot konnte man während des Reitens verzehren.
»Danke, mein Prinz.«
»So kommen wir heute vielleicht ein gutes Stück voran. Ist der restliche Proviant verstaut?«
»Ja, Hoheit. Ich habe zwei Laiber Brot, einen halben Käse und geräucherten Schinken in meinem Reisesack und den Satteltaschen. Die Wasserschläuche sind gefüllt und wie Ihr es plantet, ist genug Gold im Gepäck, um Lebensmittel zu kaufen.«
Rowan nickte und wandte sich an seine Familie. »Nun, wir sind soweit.«
König Marek, der sich nur einen Gehrock über das Nachthemd geworfen hatte, trat auf seinen Sohn zu und umarmte ihn kurz.
»Gib auf dich Acht und mach mir keine Schande. Alles, was du tust, fällt auf mich und das Königreich zurück. Also handle mit Bedacht, bleib höflich und lass' dich nicht provozieren.«
»Ja, Vater.«
Königin Rabea und Rowans Geschwister umarmten ihn ebenfalls und Eugena klimperte mit den Wimpern.
»Nun, Gena? Was möchtest du, dass ich dir mitbringe? Sonst würdest du nicht so schauen«, lächelte der Prinz und das Mädchen bekam rote Wangen in der blassen Morgensonne.
»Trallien ist bekannt für seine Edelsteinarbeiten … ich möchte … wenn du kannst … bringst du mir einen Edelstein mit? Oder ein Schmuckstück?« Die Prinzessin blickte verlegen auf ihre Finger. Eine Handlung, die Rowan verwunderte, weil sie sonst immer sehr forsch war. Der junge Mann grinste und küsste seine Schwester auf die Stirn.
»Ich werde mich bemühen, wenn du versprichst, lieb zu Jonah zu sein, solange ich weg bin. Ich werde es erfahren, wenn du ihn ärgerst oder ihm Angst machst. Und dann werde ich das Geschenk behalten. Hast du mich verstanden?«
Prinzessin Eugena nickte. Rowan wandte sich an Ana, die an der Seite stand, und umarmte sie lange.
»Nun dann, bevor noch mehr Zeit des Tages verstreicht, werden Sero und ich jetzt besser aufbrechen.« Der Prinz legte seinen wollenden Umhang um, denn der Morgen war kühl, und stieg auf seinen Hengst Agrippa, der bereits unruhig mit den Hufen scharrte. Das Tier schnaubte und wieherte leise, als Rowan aufsaß.
»Mutter, Vater. Ich kehre bald zurück. Wenn das Schicksal mir gewogen ist, werde ich eine Prinzessin mit mir führen. Wenn nicht, bin ich um eine Erfahrung reicher.«
Angehörige der Dienerschaft, die auf dem Schlosshof versammelt waren, wünschten ihrem Prinzen eine gute Reise und machten den Weg frei, als er seinem Pferd die Sporen gab und über die Pflastersteine galoppierte.
»Auf, Sero, wir haben einen weiten Weg vor uns«, rief er seinem Knappen zu, der ebenfalls sein Reittier in Bewegung setzte.
.
Prinz Rowan und Sero durchquerten die Königsstadt Isara, als die Sonne die Dächer erhellte und die ersten Menschen auf den Straßen grüßten die Vorbeireitenden freundlich. Die Stadt war wunderschön im Morgenlicht, die hellgrauen Häuser leuchteten, die Blumen in den ordentlichen Kästen und kleinen Vorgärten erfüllten die Straßen mit Farbe und feinem Duft. König Marek legte großen Wert darauf, dass es seinem Volk gut ging und investierte viel, um das zu ermöglichen. Und das Volk liebte ihn dafür. In Isara und Annwyn gab es nur wenig Not unter der Bevölkerung und man bemühte sich durch sorgfältige Planung und Verwaltung von Ressourcen, erst gar keine ernsten Missstände aufkommen zu lassen.
Rowan bewunderte seinen Vater und den Stab seiner Staatsmänner für diese Leistung und hoffte, dass er dieser würde gerecht werden können, sobald er eines Tages selbst König war. Denn ein Regent konnte nur herrschen, wenn es auch ein Volk gab, das er regieren konnte.
In allen Königreichen war es ähnlich. Alle Herrscherhäuser achteten auf das Wohlergehen ihrer Menschen. Nur natürlich, wenn man bedachte, dass die königlichen Familien von den Ernteabgaben und Steuern der Bürger und Bauern lebten. Je besser es ihnen ging, desto sicherer waren die Steuereinnahmen und desto besser ging es dem Land.
Rowan wusste allerdings nicht, wie es in Trallien zuging. Sein Vater hatte ihm nicht viel über das Land erzählt. Er wusste nur, dass König Thedosio sehr zurückgezogen lebte, ein Eigenbrötler war und dass das Reich streng regiert wurde. Es herrschten dort andere Zustände als in den tiefer gelegenen Königreichen, da das Land zwar fruchtbar, aber auch rauer und kälter war. Die Menschen waren ein anderer Schlag.
Der Prinz war nervös und aufgeregt, was ihn erwartete.
Es dauerte nicht lange, bis er und Sero die Tore der Stadt durchschritten hatten und auf der festgefahrenen, aber nicht gepflasterten Straße entlang ritten.
Annwyn begrüßte seinen Prinzen mit einem herrlichen Morgen. Die Sonne ließ das weite Weideland saftig grün leuchten, der Himmel wölbte sich hellblau über das Land und feine, weiße Wolken zierten ihn. Das Wetter war kühl, aber der Tag versprach mild zu werden. Der Frühling hielt Einzug in Annwyn und die ersten Gräser am Rande der Handelsstraße begannen bereits, zu blühen.
Die beiden Männer ritten, bis die Sonne im Zenit stand, bevor Rowan Sero anzeigte, zu halten.
»Mein Prinz? Ich dachte, Ihr wolltet keine Rast einlegen?« Der Junge stieg ab und hielt Agrippa, damit Rowan von dem tänzelnden Hengst absteigen konnte.
»Das stimmt. Doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass es zur Mittagszeit so heiß werden würde. Wir müssen die Pferde tränken, sonst beginnen sie, zu lahmen und wir kommen nicht voran. Wir müssen auf sie achtgeben.«
Der Prinz nahm die Zügel seines Hengstes entgegen und führte das Tier von der Straße in eine kleine Baumgruppe. Ein kleiner, flüsternder Bach floß zwischen den Gehölzen hindurch und er führte Agrippa zum Wasser. Gierig begann das Tier zu saufen. Sero tat es seinem Herrn mit seinem eigenen Pferd gleich und erfrischte sich selbst das Gesicht.
»Nun … dann können wir ebenfalls eine Pause machen und etwas essen. Wir sind gut voran gekommen. Wir schaffen es sicher vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Andùn und nehmen uns dort ein Zimmer für die Nacht.« Rowan ließ sich unter einem Baum nieder und packte das Päckchen mit dem Brot aus.
»Wir könnten doch auch durchreiten, mein Herr?«
Der Prinz schüttelte den Kopf. »Nein, die Pferde brauchen Rast und wir auch. Glaub mir, Sero. Du wirst deinen Körper heute Abend mit jedem einzelnen Muskel spüren. Langstreckenritte sind sehr anstrengend. Du wirst die Pause brauchen. Und nun iss, wir wollen uns nicht lange aufhalten.«
Der junge Knappe nickte. Er konnte bereits jetzt einen dumpfen Schmerz in seinem Gesäßmuskel spüren, weil er es nicht gewöhnt war, über mehrere Stunden im Sattel zu sitzen. Hungrig verzehrten die beiden jungen Männer ihr karges Mittagsmahl und spülten mit kaltem Wasser nach, während die Pferde sich satt tranken und etwas an den frischen, duftigen Gräsern knabberten, die das Bächlein säumten.
Sero beobachtete das Spiel der Wolken am Himmel, während Rowan eine Landkarte von Annwyn studierte. Bei Einbruch der Nacht würden sie das kleine Städtchen Andùn erreichen. Dort gab es ein kleines Gasthaus, in dem sie sicher ein Zimmer bekommen oder im Notfall im Stall bei den Pferden liegen konnten. Rowan war in Annwyn, zumindest im direkten Umfeld von Isara, sehr bekannt. Es gab aber auch Regionen im Land, in denen man die Gesichter der Königsfamilie nicht unbedingt kannte, weil diese Menschen entweder nicht in die Hauptstadt kamen oder der Regent und seine Familie nicht in diese Regionen reisten.
König Marek hatte natürlich sein ganzes Land bereist, als er den Thron übernommen hatte, doch inzwischen war er älter geworden, hatte sich verändert. Und seine Kinder kannten das Reich von der Landkarte her, aber hatten freilich noch nicht alles mit eigenen Augen gesehen.
Rowan konnte sich kaum vorstellen, dass die Menschen in Andùn ihren Kronprinzen in einem Stall schlafen ließen, wenn sie ein Zimmer für ihn und seinen Dienstboten hatten. Die Menschen dort kannten ihn immerhin. Doch der junge Mann hatte keine Probleme damit, bei Agrippa zu schlafen, solange das Heu frisch war. Das hatte er als Halbwüchsiger oft bei seinem alten Pferd gemacht, bevor dieser Hengst starb und er den schneeweißen Agrippa bekommen hatte. Dieser war nun sechs Jahre alt, rassig und sehr ausgeglichen.
Der Knappe war eingeschlafen, als Rowan die Karte wieder zusammenrollte und in der dafür vorgesehenen Tasche verstaute. Der Prinz seufzte, als er den Jungen weckte.
»Es tut mir leid, aber wir sollten weiter, sonst schaffen wir den Ritt nicht.«
Sero gähnte, aber gehorchte und wenige Minuten später waren sie wieder auf der Straße.
Regen hatte eingesetzt, als die Abenddämmerung in Dunkelheit überging. Die Lichter der kleinen Stadt Andùn waren bereits in der Entfernung zu sehen und Rowan war froh, dass Meister Plinus eine Kapuze an den Wollumhang genäht hatte. Dieser war bereits vollgesogen und schwer, doch Rowans Gesicht war trocken und das Wasser behinderte nicht seine Sicht. Er trieb Agrippa an, um endlich aus dem Regen zu kommen.
Nachdem der ganze Tag klar, warm und sonnig gewesen war, hatte es sich zum Abend hin zugezogen und der Wolkenbruch kam plötzlich und heftig.
Laut erklangen die Hufschläge auf dem Pflaster, als Rowan und Sero durch das Stadttor von Andùn ritten. Das Geräusch brach sich an den Mauern der engen Gassen und der Regen wirkte in der Stadt noch viel lauter als auf der Straße.
Menschen eilten durch die Regenschwaden, Kutschen und Wagen wurden gezogen oder standen am Rand, Pferde wieherten an Haltepflöcken, Betrunkene grölten über die Straße. Es herrschte ein munteres Treiben. Wie in Isara auch, begann in vielen Gasthäusern und Tavernen das Leben erst mit Einbruch der Dunkelheit.
»Mit Verlaub, mein Herr, aber hier riecht es doch reichlich streng«, bemerkte Sero, der nahe neben Rowan ritt, damit sie sich im Getümmel nicht verloren.
Der Prinz nickte. Der Knappe hatte Recht. Der Regen hatte den Unrat von den Straßen aufgeweicht und dieser hing nun wie eine Dunstglocke in den Gassen. Das geschah, wenn sich niemand um den Pferdemist kümmerte, den die Tiere den ganzen Tag fabrizierten.
»Sehen wir zu, dass wir eine Bleibe für die Nacht finden und etwas heißes in den Magen bekommen. Das wird uns bei diesem Hundewetter guttun«, antwortete Rowan und lenkte seinen Hengst durch die Menschen. Diese blieben stehen und sahen ihm trotz der Dunkelheit nach. Ein weißes Pferd sah man in der einfachen Bevölkerung nur äußerst selten, da diese Tiere sehr teuer waren. Das Reiten von Agrippa zeichnete Rowan als hohe Persönlichkeit aus, noch bevor er den Umhang lüften und sein Gesicht zeigen musste.
Königin Rabea hatte Sorgen gehabt, dass ihm etwas geschehen könne, wenn jeder bereits an seinem Reittier seinen hohen Stand ablesen konnte, doch ihr Gemahl hatte sie beschwichtigt. Wozu besaß Rowan Agrippa, wenn er ihn nicht auch ritt? Rowan sah das ganz genauso. Er liebte seinen Hengst und war sehr stolz auf das schöne Tier.
Gemurmel unter den Menschen wurde laut, doch der junge Mann hielt nicht an, da ihn niemand ansprach. Er war nur auf der Suche nach einem Gasthaus, bei dem nicht dutzende Betrunkene vor der Tür standen.
Andùn war eine Zwischenstation für Händler auf dem Weg nach Isara und deswegen war es immer voll und immer laut. Die Gebäude waren aus dunklem Stein und Holz gefertigt, was der Stadt einen düsteren Anschein verlieh, der bei Tag allerdings weniger beängstigend wirkte.
Vor einem der etwas teureren Gasthöfe stoppte Rowan sein Pferd, sprang ab und reichte Sero die Zügel. Es war ruhiger hier und nicht so voll, da die meisten normalen Bewohner der Stadt ihr billiges Bier in einer der Tavernen tranken.
»Ich gehe uns ein Nachtlager besorgen. Bleib' hier und pass' auf, dass niemand an die Pferde geht. Erwische ich dich, wie du einer der Huren nachstarrst, wird dir morgen mehr als der Hintern vom Reiten wehtun!«
Sero nickte zerknirscht, doch da er seinem Herrn ergeben war, würde er sich an den Befehl halten. Es wäre eine Katastrophe, wenn die Pferde oder das Gepäck verloren gingen.
Rowan betrat unterdessen das Gasthaus. Wärme, der Duft von Gemüse und Pfeifentabak schlug ihm entgegen und augenblicklich hatte er das Gefühl, zu dampfen zu beginnen, da sein Umhang nass war und seine Stiefel Pfützen auf dem abgetretenen Läufer hinterließen, die sofort versickerten. Er schlug die nasse und schwere Kapuze zurück und ging an den Tresen, hinter dem ein dicker Wirt mit einem ausladenen Schnurrbart monoton einen Glaskrug polierte. Im Schankraum war nicht viel los. Nur an drei Tischen von zehn saßen Gäste. Händler, ihrer guten, aber robusten Kleidung nach zu urteilen. Einige von ihnen spielten miteinander Karten, ein anderer studierte Unterlagen und eine Landkarte und ein dritter ließ sich eine Schüssel Eintopf schmecken.
»Ich wünsche einen guten Abend, guter Mann. Ich brauche ein Nachtlager für mich und meinen Knappen sowie einen Platz in Eurem Stall für meine Pferde.«
Der dicke Mann am Tresen machte sich kaum die Mühe, die Augen von seiner langweiligen Arbeit zu heben. Er grunzte nur: »Wir haben nichts mehr frei, verschwinde wieder, Streuner.«
Rowan zog die Augenbrauen hoch und räusperte sich laut, um den Mann dazu zu bewegen, ihn anzusehen. Dieser glotzte stur wie ein Frosch eine Fliege seinen ollen Lappen an.
»Guter Mann, ich habe Geld. Wärt Ihr so freundlich, mich wenigstens anzusehen, wenn Ihr mir schon ein Nachtlager verweigert?«
Die anderen Gäste waren aufmerksam geworden und betrachteten das Schauspiel. Rowan empfand nicht den leisesten Hauch von Scham, wie er da so vor dem fetten Kerl stand, der ihm nicht nur den nötigen Respekt verweigerte, sondern generell jedes bisschen Anstand vermissen ließ. Einer der Gäste erhob sich und ging an den Tresen. Er lächelte Rowan freundlich an und verbeugte sich leicht. Er hatte ihn zweifellos erkannt.
»Es freut mich außerordentlich, Euch einmal zu treffen, Königliche Hoheit«, sagte der gut gekleidete Handelsmann mittleren Alters. Der angesprochene Prinz lächelte, zog seine Handschuhe aus und reichte dem Herrn seine Hand, damit dieser seinen Siegelring, Zeichen seiner königlichen Herkunft, küssen konnte.
»Sehr erfreulich, dass wenigstens einer hier über die nötigen Umgangsformen verfügt«, lächelte Rowan. Der Handelsmann nickte und jetzt endlich hatte sich auch der Wirt entschlossen, seinen neuen Gast einmal direkt anzusehen. Es war deutlich erkennbar, wie ihm die Farbe aus den feisten Wangen wich.
»Eure … Eure Majestät ...«, röchelte er, doch Rowan schüttelte den Kopf.
»'Majestät' ist mein Vater, Euer König. Seid Ihr im Wald aufgewachsen oder behandelt Ihr alle zahlenden Gäste wie Tagediebe? Ich nehme an, jetzt kann ich ein Zimmer bekommen?«
Der fette Wirt war aus seiner Lethargie erwacht und als er nickte, wackelten seine Wangen wie die eines alten Hundes. Er rief nach einem Burschen, der eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm hatte und höchstwahrscheinlich sein eigener Sohn war.
»Der Junge wird Eurem Diener mit den Pferden helfen und dann Euer Gepäck auf das Zimmer tragen. Folgt mir bitte, ich will es Euch zeigen. Ich habe nur ein einfaches Gasthaus, Eure Hoheit, doch ich hoffe, es trifft Eure Zufriedenheit.«
Rowan seufzte innerlich. Er hasste es eigentlich, von seinem Stand Gebrauch zu machen und er hasste es noch mehr, wenn sich die Menschen anschließend aufführten, als würde er, nur weil er ein Prinz war, Gold scheißen und kein rotes Blut in den Adern haben.
»Mein Knappe wartet draußen mit zwei Hengsten. Gebt Acht, dass sorgsam mit den Tieren und dem Gepäck umgegangen wird«, sagte Rowan und der Wirt scheuchte seinen Jungen nach draußen in den Regen. Sero musste inzwischen das Wasser in den Stiefeln stehen.
Anschließend wackelte der Wirt die schmalen Stiegen nach oben. Es war üblich, dass man einer Hoheit den Vortritt ließ, doch da Rowan sich nicht auskannte und nur ein Gast war, sah er gern davon ab.
»Hier habe ich mein bestes Zimmer. Wie Ihr sehen werdet, hat es noch ein angrenzendes kleines Gemach für Euren Diener.« Er öffnete die leise knarrende Tür und ließ Rowan als erstes eintreten.
Das Zimmer war nicht sehr groß, wirkte aber sehr ordentlich. Das Bett in der Mitte stand auf einem alten Teppich, der einst einmal sicher sehr kostbare und reiche Farben hatte, nun aber durch Staub und Alter ausgeblichen war. Das Fenster zeigte auf die Straße raus, wo man das leise Rattern vorbeifahrender Pferdewagen und das Rauschen des Regens hören konnte. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Bett, einer Kommode und einem Waschtisch mit einem Spiegel. Das angrenzende Zimmer enthielt ebenfalls einen Waschtisch und sonst nur ein schmales, aber sauberes Bett.
Es roch nach alten Holz, überall in dem Zimmer und in einer Ecke des Raumes konnte er ein Spinnennetz entdecken, aber das machte Rowan nichts aus. Im Palast seiner Eltern gab es davon mehr als genug.
Der Wirt hatte zu schwitzen begonnen und wartete ängstlich dreinblickend auf das Urteil des Prinzen. Sicher schämte er sich in Grund und Boden, ihn so respektlos als Streuner bezeichnet zu haben. Hätte sich Rowan davon beleidigt gefühlt, wäre es sein gutes Recht gewesen, dafür das Leben des Mannes zu fordern. Aber dem Prinzen lag nichts an solchen Machtspielchen.
»Das Zimmer wird genügen für die Nacht. Reicht ein Goldstück als Miete?«
Der Wirt schluckte. Ein Goldstück. Um das zu verdienen, musste selbst er als einer der etwas teureren Gasthausbetreiber alle Zimmer für mindestens zwei Tage belegt haben. Er beeilte sich, zu nicken. Er wollte unter keinen Umständen den jungen Prinzen erneut verärgern.
»Aber ja, königliche Hoheit.«
Rowan nahm die Münze aus der Tasche und legte sie in die schwitzige Hand des anderen Mannes.
»Dafür erwarte ich jedoch, dass meine Pferde sicher stehen und mit gutem Heu und Hafer versorgt werden, ich erwarte eine Mahlzeit für mich und meinen Knappen und heißes Wasser, damit wir uns von den Strapazen der Straße und des Regens befreien können.«
Der Wirt nickte wieder. »Ganz wie Ihr wünscht. Wenn Ihr es wünscht, lasse ich meinen Jungen heute Nacht in der Box bei den Tieren schlafen, um ganz sicher zu gehen.«
»Tut wie Ihr es für richtig haltet, doch seid Euch bewusst, dass ich Euren Kopf fordere, wenn mein Eigentum während meines Aufenthalts hier zu Schaden kommt.« Innerlich grinsend genoß Rowan, wie sich der fette, schwitzende Mann wand und verbog, um ihm zu gefallen. Der Prinz hatte kein Mitleid mit ihm. Er hatte sich das verwöhnte und eingebildete Verhalten Rowans, das eigentlich überhaupt nicht dessen Art war, dadurch verdient, dass er ihn abgewiesen hatte, ohne ihn einmal angesehen zu haben, und das, obwohl Rowan hatte sehen können, dass nicht nur dieses eine Zimmer frei war.
Hatte dieser Mann lieber leere Zimmer als einen zahlenden Gast, der vielleicht nicht so viel Geld dabei hatte? Die Gier der Menschen schockierte Rowan immer wieder.
»Wenn Ihr dann mit in den Gastraum kommt, lasse ich Euch das beste Essen auftischen, was wir anzubieten haben. Ich habe leider keinen privaten Gastraum, in dem Ihr ungestört speisen könntet.«
»Das spielt keine Rolle. Ich bin den ganzen Tag geritten und will nun nur noch etwas zwischen die Zähne bekommen, bevor ich mich zu Bett begebe.«
Rowan folgte dem Wirt wieder die Treppe runter und konnte Sero an der Hintertür stehen sehen, wie er sich die Haare aus dem Gesicht wischte. Er war klatschnass und hatte das bescheidene Gepäck zu seinen Füßen stehen.
»Lasst Euren Sohn Handtücher für meinen Knappen bringen, damit er sich abtrocknen kann, bevor er zum Essen kommt.«
Der Wirt nickte und watschelte davon, während Rowan in den Gastraum ging. Der Handelsmann, der ihn so freundlich begrüßt hatte, hatte sein Abendessen beendet und blätterte in Unterlagen. Er nickte freundlich, als Rowan an einem Nachbartisch Platz nahm und zum ersten Mal seit Stunden die Beine ausstrecken konnte. Er war es gewöhnt, viel und lange zu reiten, aber so einen Gewaltritt über einen ganzen Tag hatte er lange nicht mehr gemacht. Es hatte ihn mehr geschlaucht, als er zugeben wollte. Er war immerhin noch ein junger Mann und sollte mehr als das abkönnen.
Vermutlich lag es nur an dem kalten Regen, der bis ins Mark ging. Rowan legte den wollenden Umhang ab, den er noch immer trug und hängte ihn in der Nähe des entfachten Kamins auf, damit er trocknen konnte. Er wärmte sich die Hände, als der Handelsmann neben ihn trat.
»Königliche Hoheit.«
»Kann ich etwas für Euch tun?«
»Ich möchte mich nicht aufdrängen. Vielmehr biete ich eine Abendkonversation an, wenn Ihr beliebt.«
Rowan blickte den Mann an. Er war hochgewachsen und spindeldürr. Sein Bart war schmal und sehr ordentlich und seine Kleidung war sehr ausgesucht. Er sah aus wie ein typischer, wohlhabender Stadtbewohner. Der Prinz machte eine Geste mit der Hand und der Mann nahm Platz.
»Was führt Euch nach Andùn, mein Prinz?«
Rowan lächelte. Der Mann redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern fragte ihn frech und sehr direkt.
»Gar nichts. Nur ein Nachtlager. Ich bin auf der Durchreise und beabsichtige, das Versäumnis nachzuholen, nie in Trallien gewesen zu sein.«
Der Mann lächelte. »So ein Zufall. Ich komme gerade aus Trallien. Ich handle mit Schmuckstücken und die Fertigungstechniken dort sind unangefochten. Ebenso wie Edelsteine aus Trallien.«
»Was könnt Ihr mir über dieses Land berichten?«
Der Händler lächelte. »Nun, zum ersten ist es gut, dass Ihr einen warmen Umhang dabei habt, denn es ist kalt, selbst im April. Die Menschen sind einfach, aber fleißig, ein bisschen rauh und schroff, aber sehr talentiert in ihren Handwerken. Es ist eine Reise wert, Königliche Hoheit.«
Der junge Prinz lächelte und hob den Kopf, als Sero den Gastraum betrat, sich umsah und geraden Schrittes auf seinen Herrn zukam.
Er verbeugte sich, bevor der Prinz ihm deutete, Platz zu nehmen.
»Sind deine Aufgaben erledigt?«
Sero nickte. »Agrippa und Vito stehen in einem trockenen Stall, sind abgesattelt, trockengerieben, mit Heu versorgt und das Gepäck ist sicher verstaut in unserem Gemach. Draußen regnet es Katzen und Hunde, mein Prinz. Es ist nicht zu glauben.«
Rowan nickte und hob die Hand, als der dicke Wirt wieder im Gastraum auftauchte. Sofort kam er angewackelt.
»Königliche Hoheit?«
»Bring' uns Essen, was du da hast, nur warm muss es sein. Und Wein.« Der Wirt nickte mit seinem feisten Gesicht und Sero blickte ihm zweifelnd nach.
»Sein Sohn ist ziemlich zurückgeblieben.«
»Das soll nicht unser Problem sein. Sagt mir, Handelsmann, was könnt Ihr mir über Thalea berichten?«
Der adrette Mann dachte einen Moment nach. »Thalea ist anders als Isara oder Piscina. Es ist nicht kleiner oder vornehmer, aber es ist … wie soll ich es sagen … es ist irgendwie schäbig. Schade für die Stadt eines Regenten, aber König Thedosio scheint sich nicht um den Zustand Thaleas zu kümmern. Sein Palast liegt außerhalb. Ich kenne ihn nicht. In dieser Stadt gibt es viel Elend. Ich kann es nicht anders sagen.«
Rowan machte ein unbestimmtes Geräusch. Er hatte schon häufiger Gerüchte gehört, dass Thalea für eine Königsstadt sehr vernachlässigt wirkte. Er wollte sich mit eigenen Augen davon überzeugen.
»Königliche Hoheit, es war mir eine Freude, Euch kennenzulernen. Ich habe jedoch noch eine längere Reise vor mir und werde mich deswegen zurückziehen. Verzeiht meine Unverfrorenheit, Euch einfach sitzenzulassen, aber ich bin sehr müde.«
Rowan erhob sich, als der Handelsmann es tat und reichte ihm zum Abschied nochmals die Hand, damit dieser seinen Ring küssen konnte.
»Es war mir ebenfalls ein Vergnügen. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht.« Der Handelsmann verließ den Raum und Rowan wandte sich wieder dem Kamin zu. Sero kauerte davor und zitterte sichtbar.
»Hat man dir Handtücher gebracht?«
»Ja, mein Prinz. Doch meine Kleider sind immer noch klamm.«
»Ich hoffe, der Wirt lässt uns nicht zu lange mit dem Essen warten, dann wird dir schon wieder warm werden.«
Und tatsächlich kamen bereits wenige Minuten später der dicke Gasthausbetreiber und sein Sohn. Sie trugen beide Tabletts, auf denen Teller mit Fleisch und Gemüse standen, sowie Schüsseln mit Eintopf, einem halben Brot und einer Karaffe mit Wein.
»Ich hoffe, es ist alles zu Eurer Zufriedenheit, Königliche Hoheit«, katzbuckelte der Wirt. Der Kronprinz ließ einen Blick über das Essen gleiten, nickte und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu gehen.
Sero schmunzelte, was Rowan fragend gucken ließ. »Hast du etwas?«
»Nein, mein Prinz. Es ist nur amüsant zu sehen, wie Ihr Euch so entgegen Eures Naturells benehmt.«
»Ach, das ist dir aufgefallen? Nun, dieser feiste Herr hat mich abgewiesen, ohne mich anzusehen, obwohl er mehrere Zimmer frei hatte. Er hat mich erst angenommen, als er wusste, mit wem er es zu tun hatte. Also kann ich mich auch mal wie ein typischer, verwöhnter Prinz benehmen.«
»Absolut.«
»Aber genug davon. Lass uns essen, solange es heiß ist und dann zu Bett gehen, damit wir morgen zeitig loskommen. Wenn wir gut durchkommen, sind wir in eineinhalb Tagen am Caystros. Mir ist jetzt schon flau, wenn ich an die Fähre denke.«
Sero lächelte. Der Prinz konnte nicht schwimmen und wann immer man Gewässern zu nahe kam, wurde ihm unwohl.
Hungrig leerten die beiden jungen Männer ihre Tabletts. Das Essen war überraschend gut, der Eintopf dick und gut abgeschmeckt, das Gemüse noch immer bissfest und das Fleisch zart. Der Wein war etwas sauer, harmonierte aber gut mit dem Essen. Rowan hätte nicht mit so gutem Essen gerechnet und war deswegen ein wenig besänftigt.
Satt und aufgewärmt zogen sich die beiden nach einer Stunde in ihre Gemächer zurück. Sero verabschiedete sich gleich ins Bett, da er durch die Kälte und das ungewohnte lange Reiten sehr erschöpft war, während Rowan noch wachblieb und sich am Waschtisch gründlich reinigte. Er hatte das Gefühl, dass sein Kopf sehr aktiv war und er vermutete, dass auch diese Nacht nicht erholsam sein würde, wie es bereits die vorangegangene nicht gewesen war. Doch kaum lag er in dem einfachen, aber sauberen Bettzeug und hatte die Decke über sich gezogen, war er auch schon eingeschlafen und schlief traumlos, bis das erste Licht des neuen Tages ihn am Morgen weckte.