Nachdem die Entscheidung gefallen war, Ines auf unbestimmte Zeit zu beurlauben, Selina aber auch demnächst von der Bildfläche verschwinden würde, hatte Selina am Nachmittag Mühe, das Administrative für die Stiftung zu regeln und Ersatz für Schwester Ines zu organisieren. Mir fiel die Aufgabe zu, den weiteren Verlauf unserer Flucht, bzw. deren vorläufiges Ziel zu planen. Selina hatte bei ihrer Einkaufstour für mich ein paar Hosen, Pullis und Shirts und eine Winterjacke besorgt. Sie war der Ansicht, meine Lederjacke würde mich vor allem schützen, nur nicht vor Kälte. Kluges Kind. Es hatte angezogen draußen und man konnte ihrer Denkweise nichts entgegenhalten. Die Fürsorge und menschliche Wärme dieser Frau, dazu ihr hinreißendes Äußeres, gepaart mit überdurchschnittlicher Intelligenz, beeindruckten mich immer wieder aufs Neue. In meinen kühnsten Träumen hatte ich nie auf einen dermaßen perfekten Partner gehofft. Jetzt war es an mir, dafür zu sorgen, dass wir auch lange genug am Leben blieben, um unser Glück auch auskosten zu können. Eine schwierige Aufgabe, wenn man einen Mann wie Viktor Lejbosz zum Gegner hatte. Mit geänderter Identität, seiner langjährigen Erfahrung und ungeheurer Gewaltbereitschaft war er gefährlicher denn je...
Ich versuchte ein paarmal aufzustehen und mit Hilfe der beiden Krücken ein paar Schritte zu gehen, aber Selina hatte gewusst wovon sie sprach. Auch als Erfinder konnte ich meinen Körper nicht dazu überreden, die schwere Verletzung zu ignorieren, die von den beiden Frauen in bewundernswerter Weise behandelt worden war. Immerhin wurden die Schritte jede Stunde ein Wenig sicherer und schmerzten nicht mehr so stark, wie mittags.
Wo sollten wir hin? Mir wollte einfach keine vernünftige Lösung einfallen. Zu Freunden kam überhaupt nicht in Frage, denn ich wollte nicht noch mehr Leute in Gefahr bringen. Viktor hatte, wie er schon bewiesen hatte, nicht das geringste Problem mit Kollateralschäden!
Der Abend kam. Selina hatte weitgehend alles geregelt. Ich hingegen war nicht so erfolgreich gewesen. Sie richtete uns eine Kleinigkeit zum Abendessen. Wir beschlossen, heute früh schlafen zu geh'n, um morgen fit zu sein.
Eduard Kavcec hatte seine Papiere erhalten. Er fuhr seelenruhig in einem S-Klasse-Modell der vorletzten Baureihe Richtung Salzburg. Dort würde er in einem Hotel absteigen und den lästigen Mitwisser Robert Meister beseitigen. Er betrachtete es, wie ein Hungriger eine Zwischenmahlzeit betrachtet, diese Lusche zu eliminieren. So, als würde er gerade warmlaufen, zum Finale furioso...
Währenddessen lag ich wach und bewunderte Selina. Sie war eingeschlafen und atmete ruhig und gleichmässig. Sie bot ein wunderschönes Bild und ich konnte meinen verliebten Blick nicht von ihr wenden. Einer meiner Lieblingssongs kam mir in den Sinn, während ich meine Göttin betrachtete. "Sometimes late at night" hies es da "I lie awake and watch her sleeping..." Selina gab ein paar leise Grunzlaute von sich und drehte sich zu mir her. nach einer Weile schlug sie die Augen auf. "Michael, du schläfst ja gar nicht. Was ist denn los mit dir? Hast du Schmerzen?" - "Nein. Du bist wunderschön, weißt du das? Ich hab meinen Blick nicht von dir wenden können, mein Engel. Mir geht so vieles durch den Kopf!" "An was dachtest du denn?" - "An eines meiner Lieblingslieder... If tomorrow never comes..." Wortlos schmiegte sie sich an meine Seite und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Liebevoll legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und streichelte mich in einen erlösenden Schlaf...