MONTAG.
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
Während dieser Song aus dem Radio plärrt, steuert Martha Woolrich auf Dr.Beeverstones Sprechzimmer zu:
„Doc, hier ist ein neuer Patient für Sie!“
„Bitte setzen Sie sich“, sagt Dr.Beeverstone und weist auf den Sessel am Schreibtisch.
Die Patientin, eine Dame im mittleren Alter mit untersetzter Statur und streng zurück gekämmtem Knoten ruckelt sich im Patientensessel zurecht. Sie wirkt nervös und nestelt an ihrer Handtasche herum. Sie räuspert sich:
„Hm, ja, ich denke, es ist wohl eine Missbefindlichkeit. Stimmungsschwankungen, Schwindel, immer wieder ändert sich mein Gewicht und mein Körperumfang. Manchmal weiß ich gar nicht so richtig, wer ich bin…“
„Hmhm“, macht Doktor Beeverstone während er die Symptome mitschreibt.
„…mal fühle ich mich wie ein junges Ding, und an anderen Tagen uralt. Mein größtes Problem ist das Schwitzen! Ich sondere so viel Schleim ab, dass ich das Gefühl habe, es könne nichts mehr von mir übrig bleiben.“
„Sie sagten Schleim?“
„Ja, Schleim.“
„Können Sie das konkretisieren?“
„Nein.“
„Könnte man vielleicht sagen, es bricht Ihnen der Schleim aus, so, wie man sagt, mir bricht der Schweiß aus?“
„Nein.“
„Würden Sie sagen, es hätte mit Hitzewallungen zu tun? Sie sind jetzt im mittleren Alter. Könnte das Klimakterium sein. Viele Frauen haben dann Probleme mit übermäßiger Schweißproduktion…“
„Mir ist nicht heiß dabei.“
„Ja, das muss auch nicht unbedingt sein. Wir kennen in der Medizin ja auch kalte Schweißausbrüche.“
„Das schon eher.“
„Es scheint mir am wahrscheinlichsten, dass es sich um ein Ungleichgewicht Ihrer Körperenergien handelt. Das bekommen wir nur mit TCM in den Griff.“
„TCM?“
„Traditionelle Chinesische Medizin. Akupunktur, Kräutermedizin, Ernährung.“
„Ach, so. Ja, ich habe schon mal was darüber gelesen…“
„Bei Frauen in Ihrem Alter handelt es sich häufig um eine Schwächung des Erdelements. Es entsteht feuchte Hitze im Körper. Hält dieser Zustand zu lange an, so bildet sich Schleim. Also im Terminus der chinesischen Medizin gesprochen. Ich sehe mir jetzt Ihre Zunge an und ertaste den Puls.“
Die Patientin versteht zwar nicht viel von dem Gesagten, lässt sich aber bereitwillig untersuchen.
„Genau, wie ich erwartet habe, Yin-Mangel im MilzPankreasMeridian. Ich schlage Ihnen vor, dass wir es mit einer sechswöchigen Akupunkturbehandlung versuchen. Ich sehe Sie dafür zweimal die Woche zu einer Akupunkturbehandlung. Meiden Sie zunächst Nahrungsmittel wie Joghurt, Rohkost und Melonen, und lassen Sie sich für Freitag einen Termin von Mrs Woolrich geben.“
„Und, Doktor, Sie meinen, dass das hilft?“
„Ich bin mir sicher Mrs Gardner!“
DIENSTAG.
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
Während dieser Song aus dem Radio plärrt, steuert Martha Woolrich auf Dr.Beeverstones Sprechzimmer zu:
„Doc, hier ist ein neuer Patient für Sie!“
Doktor Beeverstone erhebt sich aus seinem Sessel und geht einem stark schnaufenden übergewichtigen Mann entgegen.
„Guten Tag. Bitte, nehmen Sie hier Platz. Mrs Woolrich, schicken Sie doch bitte Hillary mit einer Flasche Eiswasser herein!“
Der dicke Mann lässt sich in den Untersuchungsstuhl fallen und keucht.
„Lungenemphysem“, sagt er und zeigt auf seinen Brustkorb.
„Hm ja“, sagt Beeverstone mit einem kritischen Blick auf den Patienten. „Seit wann haben Sie die Diagnose?“
„Seit wann? Seit wann? Wenn Sie mich das so fragen, müsste ich erstmal meine Sekretärin anrufen, damit sie nachsieht.“
„Dann nehme ich an, schon seit Jahren?“
„Kann sein, kann sein“, schnauft der Patient, „man hat ja immer so viel um die Ohren.“
„Was machen Sie denn beruflich?“
„Ich bin Senior Controller einer großen Automobilfirma… Da kann ich mir Ausfälle nicht leisten. Bitte, Doktor, tun Sie was.“
„Wie groß sind Sie?“
„Einsdreiundsiebzig.“
„Und Sie wiegen?“
„Och, so hundertzwanzig Kilogramm.“
„Vielleicht etwas mehr?“, fragt Beeverstone vorsichtig, der den Mann locker auf hundertvierzig Kilo schätzt, es den meisten seiner Patienten aber erspart, ihr Gewicht schonungslos auf der Waage anzeigen zu lassen.
„Na, vielleicht zwei, drei Kilo mehr. Handelt sich aber überwiegend um Muskeln“, keucht der Patient stolz, „hab in meiner Jugend Rugby gespielt.“ Und er greift sich demonstrativ an den Bizeps.
„Rauchen Sie?“
„Naja, sonst würd ich den ganzen Stress nicht aushalten!“
„Wieviel?“
„Ach, nicht so viel. Komme höchstens auf eine Schachtel pro Tag…“
„Machen Sie doch bitte mal den Oberkörper frei“, fordert ihn Dr.Beeverstone auf und nähert sich mit dem Stethoskop.
Da wird die Tür aufgestoßen, und herein kommt eine junge Frau mit Nasen- und Augenbraunpiercing. Sie trägt einen kurzen Schottenrock über einer schwarzen Strumpfhose und punkig gestylte schwarze Haare. In ihrem rechten Ohr baumelt eine übergroße Sicherheitsnadel.
„Ah, Hillary, schenken Sie doch bitte ein Glas ein und reichen es unserem Patienten.“
Während sich Dr.Beeverstone daran macht die Lunge des Patienten eingehend zu untersuchen, tut Hillary, wie ihr geheißen wurde und gibt dem Patienten mit einem süßen kleinen Lächeln das Wasserglas. Dann huscht sie hinaus.
„Hm, das klingt nicht gut.“, sagt Beeverstone stirnrunzelnd.
„Das ist auch nicht gut, Doc.“
„Es ist viel zu viel Sekret in den Lungen. Das versuchen Sie zu kompensieren, und daher das Emphysem….“
„Können Sie irgendwas für mich tun?“, fragt der Mann keuchend. „Manchmal habe ich das Gefühl, nur noch aus Schleim zu bestehen.“
„Tja, das ist alles nicht so einfach. Die Krankheit ist ja schon weit fortgeschritten. Am besten überweise ich Sie an eine Lungenfachklinik. Die machen ein paar Tests und Untersuchungen mit Ihnen und entscheiden dann auch über eine Sauerstoffversorgung.“
„Sauerstoffversorgung?“
„Ja, das ist heute gar kein Problem mehr. Sie bekommen den Sauerstoff über eine kleine Nasenbrille und tragen die Flasche in einem Rucksack mit sich.“
„Ich…“ japst der Patient.
„Aber vorläufig würde ich Ihnen gerne ein wenig Erleichterung verschaffen. Ich werde ein Verfahren aus der TCM anwenden, wenn Sie damit einverstanden sind.“
„TCM?“
„Ja, TCM steht für Traditionelle Chinesische Medizin.“
„Es kommt mir so vor, als hätte ich schon mal davon gehört…“, antwortet der Patient nachdenklich, „manchmal kann ich mich gar nicht erinnern.“
„Legen Sie sich mal auf die Liege. Der Oberkörper bleibt frei und wir ziehen die Hosenbeine hoch. Sehen Sie, ich setze jetzt ein paar Akupunkturnadeln. Das sind Punkte, die Schleim in den Atemwegen beseitigen. Entspannen Sie sich. Ich schaue in zwanzig Minuten wieder nach Ihnen. Und trinken Sie! Das fördert den Energiefluss.“
MITTWOCH.
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
Während dieser Song aus dem Radio plärrt, steuert Martha Woolrich auf Dr.Beeverstones Sprechzimmer zu:
„Doc, hier ist ein neuer Patient für Sie!“
Doktor Beeverstone, der noch ein Telefongespräch hat, winkt der jungen blassen Frau zu, hereinzukommen und sich zu setzen. Es handelt sich um eine hochgewachsene schmale Person mit angespanntem Gesicht. Die mittelblonden schulterlangen Haare wirken dünn und glanzlos. Ihre Haltung ist leicht vornüber gebeugt und sie hat einen auffallend federnden Gang. Der Aufforderung von Dr.Beeverstone folgend nimmt sie im Patientensessel Platz und legt die Hände mit verzerrtem Gesicht über ihren Bauch.
Dr.Beeverstone beendet das Gespräch und reicht ihr die Hand über den Schreibtisch hinweg zu.
„Beeverstone. Was kann ich für Sie tun?“
Die junge Frau ergreift die Hand und hebt sich dabei etwas aus dem Sessel. Dann verzieht sie das Gesicht vor Schmerz und lässt sich zurückfallen.
„Haben Sie Schmerzen?“, fragt Beeverstone, als er den Gesichtsausdruck der Frau sieht. Sie nickt:
„Ja, ich habe ziemlich starke Schmerzen im Bauch. Richtige Koliken. Es ist der verdammte Crohn.“
„Sie haben Morbus Crohn, diese chronische Darmerkrankung?“
„Hm, ja.“
„Seit wann haben Sie die Krankheit?“
„Ich kann mich gar nicht erinnern.“
„Und die akuten Schmerzen?“
„Ich denke, seit Tagen.“
„Gut, dann legen Sie sich bitte da drüben auf die Untersuchungsliege.“
Die junge Frau lässt sich mit Schmerzen auf die Liege nieder. Dr.Beeverstone tastet vorsichtig ihren Bauch ab, um dann festzustellen:
„Hm ja, da ist eine ziemlich starke Abwehrspannung, die von den Schmerzen herrührt. Wir machen Ihnen jetzt erst einmal eine heiße Kräuterkompresse, um den Schmerz zu lindern.“
Er ruft nach Mrs Woolrich und bespricht mit ihr die Behandlung.
„Mrs Woolrich legt Ihnen gleich die Kräuterkompresse auf. Versuchen Sie, sich zu entspannen. Ich komme dann in einer halben Stunde wieder zu Ihnen, und wir besprechen das weitere Vorgehen.“
Kurz darauf tritt Mrs Woolrich, der gute Geist der Praxis mit einer dampfenden Kräuterkompresse herein.
„So, meine Liebe“, flötet Mrs Woolrich, „Heben Sie bitte ihr Shirt etwas an. So, Achtung, das ist ein bisschen warm. Gut so? Okay, dann noch die Auflage drüber, und jetzt können Sie das Shirt wieder herunter ziehen. Ich gebe Ihnen noch eine Wolldecke. So. Und nun entspannen Sie sich einfach für zwanzig Minuten.“
Noch vor Ablauf der zwanzig Minuten steht die Patientin plötzlich ziemlich blass an der Anmeldung.
„Kann ich mal die Toilette benutzen?“, haucht sie schwach.
„Aber sicher, meine Liebe. Gerade aus und dann rechts. Soll ich Ihnen helfen?“, fragt Mrs Woolrich fürsorglich.
„Nein, nein“, antwortet die Patientin, „geht schon.“ Und wankt auf die Toilette zu.
Kurze Zeit später sitzt sie mit deutlich gesünderer Gesichtsfarbe Dr.Beeverstone im Sprechzimmer gegenüber.
„So. Sie sehen besser aus“, stellt Beeverstone mit Blick auf die Patientin fest. „Wie ich hörte, ist Ihnen zwischendurch schlecht geworden?“
„Ja… nein, eigentlich nicht. Ich musste nur einmal dringend die Toilette aufsuchen. Ich dachte, ich bekäme Durchfall… aber es sind nur Unmengen von Schleim abgegangen…“
„Ja“, beruhigt sie Beeverstone, „Morbus Crohn und Colitis ulcerosa verursachen chronische Entzündungen der Darmschleimhaut. Wenn der Heilungsprozess einsetzt, wird dies Gewebe einfach abgestoßen. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Äh, ja… ich fand es schon ein bisschen erschreckend.“
„Haben Sie das nicht schon etliche Male erlebt?“
„Ich kann mich nicht erinnern.“
„Gut dann. Wir machen gleich noch im Labor eine kleine Blutabnahme, um die Entzündungsparameter festzustellen. Und hier schreibe ich Ihnen noch ein pflanzliches Pulver auf, das Sie morgens und abends in einem Glas Wasser einnehmen. Das hilft der Darmschleimhaut sich zu beruhigen.“
„Danke, Dr.Beeverstone.“
DONNERSTAG.
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
Während dieser Song aus dem Radio plärrt, steuert Martha Woolrich auf Dr.Beeverstones Sprechzimmer zu:
„Doc, hier ist ein neuer Patient für Sie!“
Hinter Mrs Woolrich kommt ein hagerer nervöser Mann ins Sprechzimmer, der den Eindruck macht, als müsse er ständig seine Hände in Bewegung halten. Er zuckt mit den Mundwinkeln, fährt sich durch die Haare und zieht die Nase kraus, als müsse er niesen.
„Guten Morgen!“, begrüßt ihn Dr.Beeverstone und bittet ihn Platz zu nehmen. „Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier!“, antwortet der Patient barsch.
„Wie bitte?“, fragt Beeverstone.
Der dürre Mann sieht ihn scharf an, nestelt wieder an seinen Fingern und fährt sich mit der Hand über’s Gesicht.
„Ich weiß nicht, was mit mir los ist, folglich weiß ich auch nicht, wie Sie mir helfen können! Ich kann diese Frage nicht mehr hören!“
„Äh ja, gut. Beginnen wir noch mal von vorne“, lenkt Beeverstone ein. „Welche Beschwerden haben Sie?“
„Ich kann nachts nicht schlafen. Ich komme einfach nicht zur Ruhe. Ständig muss ich niesen und meine Haut juckt. Sehen Sie mal hier!“, sagt der Mann und schiebt seinen Ärmel hoch. Darunter kommen Ekzeme zum Vorschein, die sich über den Arm verteilen. „An den Beinen auch, und manchmal auch im Gesicht“, sagt er und fährt sich wieder über die Wangen.
„Haben Sie beruflich viel Stress?“, fragt Beeverstone ihn jetzt.
„Nein, das ist es nicht. Ich arbeite in einer Bibliothek und bin ganz für mich allein verantwortlich. Aber wenn ich auf Unordnung stoße, könnte ich so aus der Haut fahren!“
So, wie er das sagt, glaubt ihm Beeverstone sofort. Das Hauptproblem dieses Patienten scheint in seiner Psyche zu liegen.
„Gut“, sagt Beeverstone, „ich würde Sie gerne erst einmal untersuchen, um mir ein Bild zu machen.“
Das lässt der dürre Mann erstaunlich bereitwillig über sich ergehen. Während Dr.Beeverstone ihn abhört und abtastet, beobachtet ihn der Patient ganz genau und verfolgt jede seiner Handlungen mit brennendem Interesse.
„Tja, ihr Herzschlag ist etwas beschleunigt und ihr Muskeltonus sehr hoch. Ich führe das auf die Nervosität zurück. Das scheint momentan Ihr größtes Problem zu sein. Diese dauerhafte Anspannung kann auch zu solchen Hautreaktionen führen, wie sie sich bei Ihnen zeigen. Ich schlage Ihnen daher vor, dass wir mit Autogenem Training beginnen.“
„Ich mache aber schon genug Sport! Ich jogge, fahre Kanu, ich spiel zweimal wöchentlich Squash….“
„Nein, nein“, lacht Dr.Beeverstone, „Das hat nichts mit Sport zu tun. Autogenes Training ist eine Entspannungsmethode, die sie hier lernen. Später bekommen sie CDs mit nach Hause und praktizieren das eigenständig. Folgen Sie mir.“
Beeverstone sitzt mit dem Patienten in einem abgedunkelten Raum.
„So, schließen Sie bitte die Augen und atmen Sie so ruhig wie möglich ein paar Mal durch. Jetzt stellen Sie sich vor, Ihre Augenlider werden schwer…. So schwer, dass Sie sie nicht mehr öffnen können… auch Ihre Schultern werden schwer….“
Beeverstone spricht mit langsamer monotoner Stimmer. Der dürre Mann verliert mehr und mehr von seiner Nervosität und wird immer ruhiger. Konzentriert folgt er der Stimme des Arztes und scheint sie zu absorbieren. Nachdem die Sitzung beendet ist, und er die Augen wieder geöffnet hat, scheint er Beeverstones Gesicht zu scannen. Als der Arzt ihm zum Abschied die Hand gibt, lässt der Patient seinen Blick darauf fallen und hält sie einige Sekunden lang fest, als wolle er sich ihre Beschaffenheit einprägen.
FREITAG.
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
Während dieser Song aus dem Radio plärrt, steuert Martha Woolrich auf Dr.Beeverstones Sprechzimmer zu:
„Doc, hier ist ein neuer Patient für Sie!“
Die Sekretärin tritt zur Seite, und ein älterer Herr mit kräftiger Statur kommt auf Dr.Beeverstone zu und reicht ihm die Hand.
„Ich überprüfe die Bestelllisten und mache dann Schluss. Hillary bleibt noch bis Sie fertig sind. Schönes Wochenende, Doc!“, ruft Mrs Woolrich und will zur Tür hinaus.
„Ist Mrs Gardner schon da, für die Akupunktur?“
„Nein, die Patientin ist nicht zum Termin erschienen. Abgesagt hat sie aber auch nicht… Vielleicht kommt sie ja noch!“
„Ist gut, Mrs Woolrich. Hillary kann sie dann solange ins Wartezimmer setzen. Schönes Wochenende, Mrs Woolrich!“
Damit ist die Sekretärin aus der Tür. Der Patient nimmt Platz. Er trägt ein Cap auf dem ergrauten Haar und streicht sich jetzt durch den Bart.
„Hm, ja, also eigentlich bin ich ganz gesund, hehe, für mein Alter“, lacht der Patient, „es sind mehr so die kleinen Wehwehchen.“
„Wie alt sind Sie denn?“, fragt Beeverstone.
„Dreiundsechzig.“
„Also Jahrgang `53?“, fragt Beeverstone nach und denkt: genau, wie ich.
„Ja, genau“, lacht der Patient. „Naja, und jetzt ist der Blutdruck ein bisschen hoch, Cholesterin auch… und dann die Durchblutungsstörungen in den Beinen, schlechte Venen….“
‚Genau, wie bei mir…’, denkt Beeverstone und fragt sein Gegenüber: „Nehmen Sie irgendwelche Medikamente?“
„Ähem“, räuspert sich der Patient, „hab ich’s nicht so mit. Meine Mutter hat immer alles mit ihren eigenen Medikamenten behandelt: Kamillentee und Franzbranntwein, und das steckt mir wohl noch in den Knochen. Auf dieses neumodische Zeugs kann ich nicht so.“
‚Das hätte von mir sein können’, denkt Beeverstone.
„Gut“, wendet er sich an den Patienten, „dann wollen wir sehen, was wir auf naturheilkundlicher Basis für Sie tun können. Vorher würde ich Sie aber gerne erst untersuchen.“
Während sich der Patient in aller Ruhe auszieht und auf die Untersuchungsliege setzt, wird es Dr.Beeverstone schwindelig. Dieser Patient sieht genauso aus wie er selbst! Beeverstone schüttelt unwillig den Kopf. Er muss unbedingt kürzer treten! Offensichtlich ist er total überarbeitet und sieht Gespenster! Beeverstone tritt an den Patienten heran und beginnt ihn abzuklopfen und zu untersuchen.
„Sie haben da eine ziemlich hässliche Narbe am Oberarm…“
„Ach ja das. Da hat mich ein Hund erwischt, als ich noch ein Kind war… Dummerweise bin ich weggelaufen, und daraufhin hat er richtig zugeschnappt! Ist nie richtig verheilt.“, antwortet der Patient.
‚Genau wie bei mir’, denkt Beeverstone und spürt seine eigene Oberarmnarbe schmerzen. Er hat schon von Doppelgängerphänomenen gehört, aber… Mit der Hand wischt er sich den Schweiß von der Stirn.
„Ihr Herz scheint gesund zu sein. Hört sich kräftig und ruhig an. Ich schlage vor, wir machen zunächst einen Aderlass, das kann nicht schaden und ist auch eine uralte Methode. Gehen Sie doch bitte in den Raum da drüben.“
Dr.Beeverstone stützt sich auf seinen Schreibtisch und versucht ruhig durchzuatmen. Erneut wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Er betätigt die Sprechanlage. Ein Glas Eiswasser wäre jetzt gut.
„Hillary, bringen Sie mir doch bitte ein Glas Wasser…. Hillary?“ Keine Antwort. Wahrscheinlich hört sie ihn nicht…
Der Patient hat das Cap abgenommen und sitzt im Behandlungsstuhl. ‚Das sind meine Haare! Das sind meine Augen!’, denkt Beeverstone und beschließt, alle Termine für nächste Woche abzusagen. ‚Ich brauche Urlaub!’
„So, das piekst jetzt kurz“, sagt Beeverstone und stößt die Nadel in die Vene. Das hat er auch schon besser hingekriegt! „Bleiben Sie ganz entspannt liegen. Wir lassen jetzt ein wenig Blut fließen, bis die Farbe des Blutes um eine Nuance umschlägt, und dann sind Sie fertig für heute.“ ‚Und ich auch, puh!’
Nachdem die Nadel gezogen und ein Pflaster auf den Einstich gebracht ist, zieht der Patient sich an und verabschiedet sich. ‚Überstanden!’, denkt Beeverstone.
„Hillary? Hillary?“, ruft Beeverstone, während er durch seine Praxis läuft. Da er die Sprechstundenhilfe nicht finden kann, geht er in die Kochküche und nimmt sich selbst ein Glas Eiswasser. Minutenlang steht er schwankend auf die Spüle gestützt. Ob es wieder anfängt? Vielleicht sollte er bei Chris anrufen und einen Termin für Montag machen?
„Hillary?“, versucht es Beeverstone noch mal, aber die Praxis wirkt verlassen. ‚Nicht mal der Rechner ist ausgeschaltet!’, ärgert sich Beeverstone. ‚Diese jungen Helferinnen sind so unzuverlässig!’ Beeverstone fährt den Rechner runter und geht zurück in sein Sprechzimmer. Aus dem Telefonhörer leiert der Ansagetext eines Abs:
„Sie haben die psychiatrische Praxis von Dr.Christopher O’Leary gewählt. Leider ist derzeit kein persönliches Gespräch möglich. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer auf dem Anrufbeantworter, ich melde mich umgehend bei Ihnen. In dringenden …“
Beeverstone seufzt: „Hallo Chris! Ich bin’s Thornton. Ich glaube, ich brauche mal wieder deine Hilfe, rufst du mich bitte heute noch an?“
FLORISSAT, MO.
„Mensch, Dean! Hier steckst du! Ich suche dich schon seit einer halben Stunde.“
„Hi, Sammy. Was machst du für einen Stress?!“, antwortet Dean, der am Tresen sitzt und einer schlanken Schwarzhaarigen zunickt, die auf dem Weg zu den Toiletten ist.
„Dean, wir wollten schon vor einer halben Stunde los! Vergessen?“
„Äh, ich…“
„’Lass uns schon heute fahren, Sammy, dann sind wir am Abend in Kentucky und können uns schon mal in dem Gebiet umsehen’, das sind deine Worte, Dean! Kentucky, Whispering Oaks Resort, Benton? Fällt der Groschen?“
„Ach, Sammy, lass uns morgen fahren. Ein Tag mehr oder weniger, wen juckt’s?“
Dean greift nach einem der zwei Biere, die vor ihm am Tresen stehen. Sam Winchester tritt ärgerlich von einem Fuß auf den anderen, während er sich zu seinem Bruder runterbeugt und zischt:
„Was zum Teufel soll das Dean? Wir hatten ausgemacht…“
In dem Moment kommt das Mädchen mit dem punkigen Kurzhaarschnitt zurück, lächelt und nimmt ihren Platz neben Dean wieder ein. Dean legt ihr die Hand auf den Arm:
„Hillary, das ist mein Bruder Sam. Sam – Hillary.“
„Hi, Sam“, lächelt das Mädchen und reicht ihm die zierliche Hand.
„Heute Abend gibt’s ’ne Schaumparty, Sammy. Hier im Club. Das ist total abgefahren! Hillary und ich gehen hin. Wow!“, dabei schaut Dean das Mädchen auffordernd an.
„Ja, das wird bestimmt toll! Komm doch auch mit, Sam“, lädt das Mädchen Sam ein und huscht mit der Zunge kurz über ihre Lippen.
Sam dreht dem Mädchen den Rücken zu und funkelt seinen Bruder böse an: „Dean, zum letzten Mal, lass uns jetzt fahren!“
„Wenn du so heiß darauf bist, in alten Seen zu fischen, Sammy, fahr ruhig schon mal vor. Ich finde schon einen Weg hinterher zu kommen…“, antwortet ihm Dean ohne den Blickkontakt zu der Kleinen zu verlieren.
„Grrrr“, knurrt Sam wütend und dreht sich zum Gehen. „Wenn du mich suchst, ich bin im Motel!“
„Wir können auch nach der Party fahren….“, ruft ihm Dean hinterher.
IN DER NACHT.
„Sammy, Sammy, wach auf!“ Dean rüttelt den schlafenden Sam unsanft an den Schultern.
„Was’n los…?“, fragt Sam verschlafen. Dann öffnet er die Augen und sieht seinen Bruder mit blassem Gesicht und völlig außer sich neben seinem Bett stehen. In seinen Händen hält er einen kurzen Rock mit Schottenmuster und eine große Sicherheitsnadel.
„Das… das ist alles, was von ihr übrig geblieben ist. Wir waren auf dieser Schaumparty und ich hatte die Kleine im Arm, aber Sammy, das glaubst du nicht, im nächsten Moment knutsche ich mit einer alten Dame! Total gruselig, Mann. Dann war die Kleine wieder da, ich wollte mit ihr raus, und plötzlich war sie im Schaum verschwunden. Einfach verschwunden, Sammy! Nur ihr Rock und dies Ohrdings sind übrig geblieben! Ich sag’s dir Sam, so was hab ich noch nicht erlebt! Einfach verschwunden, wie aufgelöst. Nur das hier ist geblieben…“
„Ein Formwandler?“
„Nein, Sammy, die Kleine war echt. Und wie bitte soll sich ein Formwandler auflösen, ohne Spuren zu hinterlassen?!“
Sam richtet sich im Bett auf und kneift die Augen zusammen:
„Hast du irgendwelche bunten Pillen geschluckt, Dean?“
„Nein, Mann, ich hab keine Drogen genommen. Lass uns fahren, Sammy, bitte lass uns fahren!“
Die Jungs werfen ihr Gepäck auf den Rücksitz und steigen ein. Während Sam verschlafen auf dem Beifahrersitz hängt, sieht er an der Ecke einen kräftigen älteren Mann mit einem Cap auf den grauen Haaren in einen Pick-up steigen. Dean startet das Baby und schaltet den Radiosender ein:
„It was the heat of the moment, telling me what my heart meant, the heat of…..“
“Oh nein”, stöhnt Sam, beugt sich nach vorne und schaltet das Radio aus. „Nicht das schon wieder!“