BRESTON. NEW HAMPSHIRE
„Soll ich den nächsten Patienten hereinschicken, Doc?“, fragt Martha Woolrich gut gelaunt. Sie weiß selbst nicht genau, woher diese gute Laune plötzlich kommt, aber sie fühlt sich, wie beflügelt.
Dr.Beeverstone, der an diesem Vormittag von einer heftigen Migräne geplagt wird, würde am liebsten alle Patienten nach Hause schicken, und sich in ein dunkles Zimmer verkriechen. Aber, wer verarztet den Arzt?!
„Ja, schicken Sie ihn rein, Martha!“
Ein etwa dreißigjähriger junger Mann tritt zu Beeverstone in das Sprechzimmer. Er hat dunkelbraune gewellte Haare, sehr blaue Augen und einen federnden Gang. Er hat eine sehr sympathische Ausstrahlung.
„Guten Morgen, Herr Doktor“, sagt er sehr höflich und reicht dem Arzt die Hand. Beeverstones Laune bessert sich augenblicklich, die Migräne ist wie fortgeblasen.
„Setzen Sie sich doch bitte!“, fordert Beeverstone seinen Patienten auf.
„Danke schön“, sagt der junge Mann und nimmt Platz.
„Womit kann ich Ihnen helfen?“, fragt Beeverstone.
Das äußerst angenehme Gesicht des jungen Mannes nimmt einen sehr besorgten Ausdruck an: „Ich glaube, ich bin sehr schwer krank, Doktor. Wahrscheinlich können Sie gar nichts mehr für mich tun.“
„Na, na, mein junger Freund“, sagt Beeverstone aufmunternd. „So schlimm wird es doch wohl nicht sein?“ Der junge Mann macht einen sehr vitalen, gesunden Eindruck auf den Arzt, und er kann sich nicht vorstellen, dass er ernstlich krank sein soll. Aber wer weiß? „Erzählen Sie mal. Worin zeigen sich Ihre Beschwerden?“
Der junge Mann scheint ganz verzweifelt: „Ich verliere Substanz.“
Beeverstone ist einen Moment sprachlos, dann fragt er nach: „Sie verlieren Substanz?“
„Ja.“
„Und… wie äußert sich das?“
„Wie sich der Verlust äußert? Meinen Sie das, Doktor?“
„Ja. Woran merken Sie das?“
Der junge Mann schaut nach unten und schüttelt den Kopf. Dann sagt er mit gebrochener Stimme: „Das kann man gar nicht übersehen.“
Beeverstone zeigt eine Engelsgeduld mit dem Patienten: „Schildern Sie mir doch einfach mal Ihre Symptome, bitte.“
Der junge Mann ringt seine Hände und schaut Beeverstone dann mit seinen himmelblauen Augen direkt an: „Es begann vor ein paar Tagen. Es… es begann mit meinem Kopf…“
Kreutzfeld-Jakob? Demenz? Epilepsie? , vermutet Beeverstone.
„…mein Gehirn löst sich auf.“
„Ihr Gehirn löst sich auf?“, ruft Beeverstone ungläubig. Wenn der junge Mann ihm nicht so vertrauensseelig direkt in die Augen schauen würde, würde es Beeverstone für einen schlechten Aprilscherz halten.
„Ja“, antwortet der junge Mann und nickt. Dann zeigt er mit dem Finger auf seine Nase: „Es kommt hier heraus. Hier aus den Löchern. Ich verliere es einfach.“
„Sie verlieren Ihr Gehirn aus der Nase??“, fragt Beeverstone ungehalten.
„Ja, ja“, stimmt der junge Mann zu, „es ist schrecklich, nicht wahr?“
Beeverstone betrachtet sein Gegenüber mit zusammengekniffenen Augen. Will der ihn verarschen? Aber nein, der Blick des Mannes ist ganz ernsthaft und offen. Vielleicht, so denkt Beeverstone, hat er es hier mit dem Wahn eines schizophrenen Menschen zu tun. Er fragt daher ganz behutsam weiter:
„Also, Ihr Gehirn läuft aus der Nase heraus? Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, genau, Doktor.“
„Und, wenn ich das fragen darf, woher wissen Sie, dass es Ihr Gehirn ist?“
„Ach, das ist ganz einfach. Oberhalb der Nase befindet sich ja sonst nichts in diesem Körper. Zuerst war ja auch alles in Ordnung damit, aber jetzt löst sich wohl alles auf.“
„Und, wie sieht das so aus, das Gehirn, wenn es aus der Nase heraus tritt?“
„Es ist schleimig. Manchmal zieht es auch solche Fäden.“
„Und die Farbe?“
„Die ist mal durchsichtig, mal gelblich oder auch grünlich.“
„Aber im Moment verlieren Sie es nicht, ihr Gehirn?“
„Nein, es geschieht immer schubweise. Am schlimmsten ist es, wenn ich aus dem Bett aufstehe.“
„Und so etwas haben Sie vorher noch nie erlebt?“
„Nein, Doktor. Nicht, so lange ich hier bin.“
Beeverstone macht sich Notizen. Schnell wirft er einen weiteren Kontrollblick auf den Patienten, aber nein, der scheint wirklich an das zu glauben, was er da von sich gibt. Beeverstone schaut den Patienten direkt an:
„Und, gibt es sonst noch andere Symptome. Außer der Nase und dem Gehirn?“
„Ja, leider. Die restliche Substanz verliere ich durch den Mund. Es ist, als würde ich Lava spucken.“
Wo nehme ich nur diese Engelsgeduld her?, fragt sich Beeverstone, aber den Patienten fragt er: „Als würden Sie Lava spucken? Können Sie mir das näher beschreiben?“
„Hm ja, also, es ist, als käme da etwas in mir hoch, und dann entsteht so ein Druck und…“
In diesem Moment bekommt der junge Mann einen heftigen Hustenanfall, der ihn ordentlich durchrüttelt. Zuletzt hustet er ein wenig Sputum in ein kleines Tuch.
„Sehen Sie, Doktor, so wie jetzt! Es ist fürchterlich. Wahrscheinlich muss ich mich bald nach einen anderen Körper umsehen.“
Die letzte Bemerkung sollte wohl witzig sein, denkt Beeverstone. Zumindestens hat er Humor, auch wenn es ein Spinner ist.
Beeverstone macht sich ein paar abschließende Notizen in die Karteikarte, dann steht er auf und geht zu dem Patienten herüber:
„Mein lieber… wie war noch gleich Ihr Name?“
„Jastriel… mein Name ist Jastriel.“
„Also, Mr. Jastriel“, setzt Beeverstone an, und legt dem Patienten die Hand freundschaftlich auf die Schulter. „Ich kann Sie beruhigen. Was Sie haben, ist ein ganz normaler grippaler Infekt.“ Beeverstone klatscht in die Hände, als wolle er damit seinen Patienten zu Verstand bringen. „Sie haben einen ganz gewöhnlichen Schnupfen und Husten, Mr. Jastriel!“
Der Patient schaut ihn verständnislos an: „Sie meinen, das ist okay so? Das geht wieder weg, und bedeutet nichts Schlimmes?“
„Ja, genau, mein Freund“, sagt Beeverstone aufmunternd. „Was mich allerdings verwundert, ist, dass Sie noch nie damit zu tun hatten… Danken Sie Gott für Ihre gute Konstitution!“
„Also nichts Schlimmes?“, fragt Jastriel erleichtert nach.
„Nein, nein“, lacht Beeverstone. „Ich schreibe Ihnen ein Rezept für einen Hustensaft auf, und dann gehen Sie bitte zu Mrs Woolrich, die zeigt Ihnen, wie Sie den Inhalator bedienen müssen, dann schwellen die Schleimhäute der Nase ruck zuck ab, und Sie sind den Schnupfen los.“
Jastriel kommt auf den Doktor zu, und drückt ihm zum Dank mit Inbrunst die Hände: „Sie sind wie ein Engel, Doktor!“
Beeverstone schaut belustigt erst über die rechte, dann über die linke Schulter: „Sehen Sie hier Flügel?“ fragt er den Patienten.
„Ja“, antwortet ihm dieser mit einem Nicken.
OMAHA. NEBRASKA
Sam hätte gleich klar sein müssen, dass man mit Dean in keinen Club gehen kann, der „Marlon Brandos Moods Club“ heißt. Dean ist sofort drauf gewesen. Wow! Alle Tische hatten aus umgebauten Karossen bestanden. Die Serviererinnen im Stil der 60er. Alte Rocksongs. Das war’s dann. Der Abend war gelaufen, und von Deany Boy keine Spur mehr…
Sam sitzt vor seinem Laptop im Motel und daddelt sich durch’s Netz:
Oben in Alaska hat es drei Tote durch einen vermeindlichen Wolfsangriff gegeben. Die Leichen waren völlig zerfetzt. Körperteile fehlten. Die drei Männer waren am Wochenende in einer Jagdhütte gewesen. Ob das ein Job für uns ist? Wohl eher nicht.
Aber hier: Ein dreißigjähriger Mann wird mit eingeschlagenem Kopf in seiner verschlossenen Wohnung aufgefunden. Fenster und Türen waren verriegelt und unbeschädigt. Nichts deutet auf Fremdeinwirkung hin. Sam liest aufmerksam weiter: …die Polizei in Wyoming steht vor einem Rätsel. Einen Suizidversuch schließt die geschockte Schwester aus. Die Polizei geht davon aus, dass sich der Mann diese Verletzungen nicht in Selbsttötungsabsicht beigebracht haben kann, allerdings gibt es keinen Hinweis auf einen Angreifer. Die Schwester des Mannes teilte der Polizei gegenüber mit, dass ihr Bruder unter heftigen epileptischen Anfällen gelitten habe. Der Abschlussbericht des Pathologen soll hierüber Klarheit bringen… Also wohl doch nichts für uns.
Sammy streckt die Beine und gähnt. Er steht vom Tisch auf und wirft einen Blick in den Kühlschrank. Ein paar Dosen Bier und eine Packung Fertig Hot Dogs schauen ihm trostlos entgegen. Sam nimmt ein Bier und trinkt. Sein Magen erinnert ihn daran, dass das Leben auch aus fester Nahrung bestehen kann. Sammy starrt durch das Fenster auf die leere Straße. Er hat keine Lust auf Hot Dogs. Klar, könnte er sich den Impala schnappen und zur nächsten Tanke fahren… um dort noch mehr Hot Dogs vorzufinden. Er schüttelt den Kopf und gähnt noch einmal. 0.33 Uhr. Auf Dean braucht er heute nicht mehr warten! Den wird er erst morgen früh wieder zu Gesicht bekommen.
Sam reibt sich über’s Gesicht. Da fällt ihm ein, dass er noch einen Müsliriegel in seiner Jackentasche hat. Dann muss der halt genügen. Sammy geht zum Bett und fischt sich den Riegel aus der Tasche seiner Jacke. Dabei kommen seine Finger mit dem Halsband von Ginger in Berührung. Das gibt Sammy einen Stich ins Herz. Während er am Fenster einsam auf seinem Müsliriegel herum kaut, denkt er: Verdammt noch mal! Irgendwo da draußen musst du doch sein!