„Also, Ihre Mutter hat Sie zu mir geschickt.“„Hhhhjaaa“, kommt müde die Antwort.
„Ihr Name?“
„…der meiner Mutter?“, fragt ein cirka siebzehnjähriger bleicher Junge und richtet einen leeren Blick auf Dr.Beeverstone.
„Nein. Ihr Name. Ihr eigener!“
„Norman. Norman Scaddy.“
„Also, Mr.Scaddy….“
„Norman, Sie können Norman zu mir sagen… und du.“
„Okay“, beginnt Beeverstone ein drittes Mal, „deine Mutter hat dich zu mir geschickt. Du bist fast erwachsen. Hättest du mich auch von alleine aufgesucht?“
Die Antwort ist ein angedeutetes Schulterzucken.
„Okay, Norman, was glaubst du, weshalb deine Mutter meint, dass ich als Arzt der richtige Ansprechpartner für dich sei?“
„Äh… ich hab Gewicht verloren… in letzter Zeit.“
Beeverstone betrachtet den mageren Jungen mit den strähnigen schwarzen Haaren, der mit angezogenen Knien im Patientensessel lümmelt.
„Und wieso hast du abgenommen? Isst du nicht genug? Bist du vielleicht magersüchtig?“
„Nee,nee ich bin nicht magersüchtig, und ich kotze auch nicht, falls Sie das meinen. In letzter Zeit habe ich einfach keinen Appetit.“
„Und das war vorher anders?“, fragt Beeverstone nach.
„Ja, ich meine, ich war schon immer eher so’n dürrer Typ, aber ich konnte echt Berge vertilgen…“
„Was, zum Beispiel?“, unterbricht ihn Beeverstone.
„Pasta. Ma hat manchmal ein ganzes Pfund Nudeln für mich alleine gekocht. Die mochte ich am liebsten. Und Fast Food. Sie wissen schon, Burger und Pommes und so.“
„Und davon konntest du richtig viel essen, und hast trotzdem nicht zugenommen?“
„Ja, genau. Höchstens mal ein oder zwei Kilo, wenn ich zuviel Kuchen gegessen hab. Und Torte. Die mochte ich auch total gerne. Hat meine Ma immer selbst gemacht.“
„So, so. Und jetzt hast du einfach keinen Appetit mehr auf deine Lieblingsspeisen?“
„Nee, gar nicht. Reizt mich nicht mehr. Ich esse einen Happen und bin pappsatt. Manchmal allerdings überkommt mich so ein richtiger großer Hunger, ich hab aber einfach keine Ahnung auf was. Ich sitz vor dem Rechner und spiele, und dann denke ich ‚Jetzt einen Burger, Mann, oder zwei!’ Aber wenn ich das Essen dann vor mir stehen habe, dann muss ich würgen. Ich schwöre, ich krieg keinen Bissen runter. Oder ich bin unterwegs. Da krieg ich Schmacht und kauf mir ‚ne Pizza. Tonno oder Hawaii. Schon wenn ich sie in den Händen halte, ist der Appetit weg, wo ich doch gerade noch dachte, Wow Mann, jetzt ‚ne Pizza! Ich hab mich einmal gezwungen trotzdem reinzubeißen, weil ist doch Scheiße, das ganze Essen wegzuschmeißen. Ich beiß also rein, aber es ist wie Pappe, und ich muss würgen. Ich kann das Zeug einfach nicht schlucken!“
„Und was ist mit frischen Früchten, Obst, Gemüse?“
„Hab ich noch nie so gemocht, außer vielleicht Paprika; aber nur roh. Nee, ist genau das gleiche!“
„Und gibt es nichts, was immer geht? Irgendein Lieblingsgericht, eine Leibspeise, ein Getränk?“
Norman schüttelt resigniert den Kopf: „Nein, nichts… Oh! Da fällt mir was ein. Ich war mal mit meiner Ma in der Mall, im Einkaufszentrum. Und da war da dieser Stand mit frisch gepressten Säften und so. Als ich den Tomatensaft sah, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich hatte Angst, ich würde sabbern, wie ein Hund. Sie wissen schon, Pavlov… haha. Ich hab gedacht, ich würd’ mich nicht beherrschen. Am liebsten hätte ich einfach hingelangt und alle Gläser auf einmal ausgetrunken. Es war wie eine Sucht. Ich konnte an nichts anderes mehr denken, als an den roten Saft, Mann. Deshalb bat ich Ma mir einen Tomatensaft zu holen. Ich riss ihr das Glas aus der Hand, begann gierig zu trinken und dann… bäh! Ich konnte keinen Schluck runter kriegen! Das war total komisch…“
„Hm, du siehst auch ziemlich blass aus. Hast du Probleme mit dem Eisengehalt deines Blutes?“
„Keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern schon mal so was gehört zu haben. Müsste ich Ma fragen.“
Beeverstone macht sich einige Notizen, und beschließt mit der Mutter zu sprechen. Starke Abneigung gegen Nahrungsmittel, blasses Aussehen und diese körperliche Schwäche des Jungen sprechen durchaus für eine ernste Erkrankung, aber das müsste erst durch ein Differenzialblutbild untermauert werden.
„Fühlst du dich häufig müde?“
„Jaaa, eigentlich ständig.“
„Schläfst du nicht gut?“
„Oh, tagsüber könnte ich nur schlafen. Ich bin ständig müde und die Augen fallen mir zu.“
„Und nachts?
„Da werde ich dann eher munter. Vielleicht bin ich eher so der Nachtmensch. Wenn ich irgendwas für die Schule lernen muss, mache ich das auf jeden Fall nachts. Dann sitze ich mit dem Laptop im Garten und kann mich ganz gut konzentrieren.“
„Du sitzt nachts im Garten?“
„Ja, da ist es dann nicht so grell.“
„Nicht so grell? Wie meinst du das?“
„Na, die Sonne ist dann nicht da. Die ist so grell, dass ich ständig blinzeln muss und sie verbrennt meine Haut.“
„Du leidest unter Photophobie?“
Norman zuckt mit den Achseln. „Wenn man das so nennt.“
„Tja, Norman, ehrlich gesagt, macht mir dein Zustand schon ein wenig Sorgen. Ich würde gerne mit deiner Mutter telefonieren, und schlage eine Blutabnahme vor. Wenn wir die Ergebnisse haben, sehen wir uns wieder und besprechen das weitere Vorgehen.“
„Okay, Doc. Wenn Sie das sagen.“
„Geh doch bitte rüber ins Labor. Ich sage Mandy Bescheid.“
Das junge Mädchen mit dem roten Lockenkopf durchstößt mit der Nadel vorsichtig die Armvene.
„Jetzt piekst es ein bisschen“, sagt sie zu Norman, „am Besten nicht hinsehen.“
Norman schaut in das sympathische Gesicht der Arzthelferin. Sie hat blaue Augen und ihre Haut ist von Sommersprossen übersät.
„So, und noch ein bisschen hier rein“, sagt Mandy, während sie das Röhrchen wechselt.
Norman hat nur Augen für sie. Sein Blick gleitet hinunter zu ihrem Hals. Zu ihrem Hals mit der schneeweißen Haut, hinter der das Blut pulsiert…
„So, fertig“, ruft Mandy, „wenn du jetzt noch ein bisschen drauf drückst, damit es nicht blutet.“
Während sie die Röhrchen beklebt, hebt Norman den Tupfer an und sieht einen Blutstropfen aus der Wunde heraustreten. Schnell wischt er mit dem Finger drüber und führt ihn dann zum Mund. Einen Augenblick lang durchfährt ihn ein Energiestoß.
„Kommst du dann bitte mit nach vorne, damit wir einen Termin machen können?“, fordert Mandy ihn auf und lächelt.
Norman greift wie in Trance nach ihrer weißen Hand und haucht: „Du hast einen… sehr schönen Hals.“
„Was??“ fragt Mandy und fängt an zu lachen. „Das hat mir ja noch keiner gesagt! Du bist echt ein Freak!“
Norman erwacht aus seiner Benommenheit und folgt ihr zur Anmeldung, um den Termin entgegen zu nehmen.
Nachdem der junge Mann gegangen ist, tritt Dr.Beeverstone an die Anmeldung:
„Ach Mandy, schreiben Sie bitte „eilig“ auf die Blutproben, und sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn die Ergebnisse da sind. Ich fürchte, es ist eine ernste Sache.“
„Wird gemacht, Doc. Die Ergebnisse müssten spätestens morgen Nachmittag vorliegen.“
„Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Mandy?“
„Seit zwei Monaten, Dr.Beeverstone.“
„Hm. Und immer noch keinen Hinweis auf den Verbleib von Hillary?“
„Leider nicht, Doc. Mrs Woolrich telefoniert zweimal die Woche mit der Polizei, aber es gibt noch immer keine Spur.“
„Hm. Ja, ja. Dann schicken Sie mir den nächsten Patienten rein.“
„Wird gemacht, Doc.“
AM ÜBERNÄCHSTEN TAG.
„Beeverstone“, meldet sich Dr.Beeverstone am Telefon.
„Oh, Doktor, es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie zu Hause störe, aber es handelt sich um einen Notfall!“
„Wer spricht denn?“, fragt Beeverstone verschlafen.
„Hier ist Eleonore Scaddy. Die Mutter von Norman Scaddy. Ich weiß nicht, was ich tun soll!“
Beeverstone setzt sich im Bett auf und reibt sich über sein Gesicht.
„Um was handelt es sich denn, Mrs Scaddy?“
„Es geht um meinen Sohn, er ist so seltsam. Eigentlich war er schon den ganzen Abend über nicht er selbst. Er ist ruhelos durch das Haus gewandert und hatte so einen irren Blick. Dann… dann ist er für einige Zeit im Garten herum gelaufen, und ich dachte, er würde sich vielleicht beruhigen… Wissen Sie, sonst hat ihm das immer geholfen… aber dann kam er plötzlich wieder ins Haus und hat unseren Hund gebissen…“
„Wie bitte?!“, fragt Beeverstone und ist jetzt ganz wach.
„Ja, es ist einfach unglaublich! Er kam ins Haus, schnappte sich Ginger und biss sie in den Hals! Wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, Doktor, ich würde…“
„Wo ist ihr Sohn jetzt?“, fragt Dr.Beeverstone scharf.
„Er ist… Norman ist jetzt in seinem Zimmer und schläft. Ich weiß gar nicht, was ich machen soll…“, weint Mrs.Scaddy.
„Schließen Sie das Zimmer von außen ab, wenn es irgendwie geht. Es wäre möglich, dass sich Ihr Sohn mit Tollwut infiziert hat. Er wird Sie dann nicht mehr erkennen und angreifen“, weist Beeverstone die Mutter an.
„Tollwut?“, schreit Mrs.Scaddy auf. „Aber kommt die nicht gar nicht mehr vor, bei uns?“
„Eigentlich gilt der District als sicher, aber man weiß nie… Ich bin gleich bei Ihnen!“
„Wo ist er?“, fragt Beeverstone und rennt die Treppe ins oberste Stockwerk hoch, auf die Mrs.Scaddys Arm gezeigt hat. Sie folgt dem Doc in Tränen aufgelöst.
„Hier“, flüstert sie, „hier, das ist sein Zimmer.“
Beeverstone horcht an der Tür, kann aber keine Geräusche ausmachen. Einmal in seiner ganzen Karriere hat er einen kleinen Jungen an Tollwut erkranken sehen. Der Junge war wie von Sinnen durch’s Zimmer getobt und hatte Schaum vor dem Mund, bevor er elendig erstickt war, wie es für die Erkrankung üblich ist. Ein Bild des Grauens. Da sich der Erreger bereits in den Nervenbahnen des Jungen befunden hatte, konnten sie damals nichts für ihn tun. Das war während seiner Studienzeit gewesen. Lange her. Sollte er hier vor dem gleichen Problem stehen?
Beeverstone dreht vorsichtig den Schlüssel im Türschloß und wartet. Nichts. Dann öffnet er die Tür vorsichtig einen Spalt weit. Im Zimmer ist es stockdunkel. Die schweren Vorhänge halten das frühe Licht der Morgendämmerung draußen. Nur ein schwacher Lichtstrahl fällt aus dem Flur ins Zimmer. In der Ecke unter der Dachschrägen macht Beeverstone eine schlafende Gestalt aus. Die Atemzüge klingen ruhig und regelmäßig. Das passt gar nicht ins Bild der Tollwut. Beeverstone öffnet die Zimmertür weiter, um mehr Licht hinein zu lassen. Vorsichtig schleicht er an den schlafenden Norman heran. Der Junge schläft tief und ruhig. Der Mund ist blutverschmiert, vielleicht hat er sich in seinem Anfall auf die Zunge gebissen? Beeverstone tastet nach dem Puls. Dieser geht ruhig und kräftig. Er zieht sich aus dem Zimmer zurück und schließt die Tür.
„Lassen Sie uns nach unten gehen“, sagt er zu Mrs.Scaddy. „Momentan schläft Ihr Sohn ganz ruhig und entspannt.“
Mrs.Scaddy und Dr.Beeverstone sitzen im Wohnzimmer. Mrs.Scaddy trinkt von ihrem Scotch,. Beeverstone hat sich für einen kräftigen Kaffee entschieden.
„Ich wollte das eigentlich nächste Woche mit Ihnen in meiner Praxis besprechen. Auf die Blutwerte Ihres Sohnes kann ich mir keinen Reim machen. Sie sind vorsichtig gesagt… sehr ungewöhnlich. Die Thrombozytenzahl ist sehr niedrig, Gerinnungswerte normal, IgEs erhöht und keine Entzündungszeichen. Stattdessen haben wir aber eine hohe Belastung an Abbauprodukten, wie sie sonst nur bei Dialysepatienten anfallen. Seine Leberwerte sind in Ordnung, aber seine Blutwerte zeigen… na sagen wir mal ‚ungereinigtes Blut’. Und dann noch was, haben Sie Epilepsie in der Familie, Mrs.Scaddy?“
„Gott, nein! Soweit ich weiß nicht. Ein Onkel von Norman ist an Blasenkrebs verstorben… und meine Mutter hatte im Alter Diabetes… aber sonst…“
„Hm, das Verhalten Ihres Sohnes passt zu einer bestimmten Art von Epilepsie. Die Patienten haben vor dem Anfall eine Aura und machen dann die verrücktesten Dinge. Große Unruhe gehört mit dazu. Im Anfall beißen sie sich häufig auf die Zunge oder die Lippen… Nach dem Anfall können sie sich an nichts erinnern.“
„Aber so etwas… so was… hat Norman noch nie gemacht.“, stammelt Mrs.Scaddy und trocknet sich die Augen.
„Hm, vielleicht hat Ihr Sohn eine Stoffwechselstörung entwickelt… Ich würde zunächst einmal gerne eine Bluttransfusion veranlassen. Dafür mache ich einen Termin für ihn in der Klinik. Er ist viel zu blass und schwächlich. Dann sehen wir weiter. Meine Sprechstundenhilfe wird Ihnen den Termin zukommen lassen.“
IN DER NÄCHSTEN WOCHE.
Mandy setzt eine Karaffe mit Eiswasser und zwei Gläser auf dem Tisch ab. Beim Hinausgehen folgt ihr Norman mit den Augen.
„So, mein Junge, ich höre, es geht dir besser“, beginnt Beeverstone das Gespräch aufgeräumt.
„Ja, ja, ich fühl mich viel fitter jetzt“, antwortet Norman, der zwar noch immer sehr blass aussieht, aber deutlich mehr Energie besitzt.
„Hast du das Gefühl, die Bluttransfusion habe sich positiv auf dein Befinden ausgewirkt?“, hakt Beverstone nach.
„Definitiv. Danach fühlte ich mich richtig gut! Ich hätte Bäume ausreißen können“, antwortet Norman und ballt seinen kümmerlichen Bizeps. „Allerdings scheint die Wirkung schon wieder nachzulassen, die Müdigkeit kehrt langsam zurück.“
„Solange wir nicht wissen, was dir fehlt, müssen wir diese Therapie beibehalten. Ich habe mit deiner Mutter besprochen, dass du bis auf weiteres alle zwei Wochen in die Klinik zur Bluttransfusion fährst. Frei nach dem Motto: Wer heilt, hat Recht. Danach sehen wir weiter.“
„Und Sie meinen, ich könnte wieder ganz gesund werden, Doc?“
„Das werden wir sehen. Gibt es sonst noch was Neues, Norman?“
„Nee, eigentlich nicht. Appetit habe ich immer noch nicht, ich esse wenig, habe aber keine Probleme damit. Gewicht habe ich sogar ein bisschen zugenommen“, sagt Norman und lächelt verschämt. „Meine Haut ist nach wie vor sehr empfindlich gegen Sonne, ich versuche sie zu meiden.“
„Das wundert mich bei deinen Blutwerten nicht, da scheint einiges durcheinandergeraten zu sein. Ist aber auch möglich, dass du eine Sonnenallergie entwickelt hast; darum kümmern wir uns später.“
„Ach eins noch, Doc. Unser Hund ist verschwunden“, fügt Norman sichtlich bewegt hinzu.
„Euer Hund?“, fragt Beeverstone.
„Hm ja. Ginger“, setzt Norman an, und dann kommen ihm die Tränen. „Sie… sie ist noch nie weggelaufen. Das passt überhaupt nicht zu ihr…“
„Was ist das für ein Hund, den ihr da habt?“, fragt Beeverstone nach und denkt an den Notruf von Normans Mutter.
„Ein Australian Shephard, wir haben sie seit sechs Jahren. Wir haben die ganze Gegend nach ihr abgesucht. Wir haben bei den Tierärzten nachgefragt. Nichts.“
„Das tut mir leid für dich“, sagt Beeverstone.
„Ich hab Angst, dass sie sie mitgenommen haben oder ihr was antun…“, murmelt Norman.
„Wer ‚sie’?“
„Die anderen aus der Highschool…. Die, die mich einen Freak nennen…“
ZWEI WOCHEN SPÄTER.
„Schön, dass du Zeit gefunden hast“, sagt Norman und starrt Mandy verliebt an.
„Na, wenn man mich so lieb bittet, kann ich doch nicht nein sagen“, feixt Mandy und lächelt Norman an: „Du hast kaum was gegessen“, fügt sie mit einem Blick auf seinen Teller hinzu.
„Keinen Hunger“, antwortet Norman und streichelt ihre Hand.
„Sag mal“, beginnt Mandy und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, „Hättest du Lust, was zu
Trinken zu kaufen und an den See zu fahren, hm?“
„Klingt nach einer sehr guten Idee“, antwortet Norman, dem die vielen Leute in dem Burgerschuppen mächtig auf die Nerven gehen.
„Hast du auch keine Angst, ganz alleine mit mir nachts am See herumzulungern, grrrr?“, fragt Mandy und geht in eine Monsterpose.
Norman starrt ihr verliebt in die Augen und sagt: „Ich glaub’, mit dir geh ich überall hin.“
„Oh, du bist süß“, zwitschert Mandy und zieht ihn hinter sich her.
„Gibst du mir noch einen Schluck?“, bittet Mandy und Norman reicht ihr die Whiskeyflasche rüber. Während sie trinkt, sagt Norman:
„Ist das schön hier! Der Mond spiegelt sich im See, der Wald ist ganz ruhig. Und kein Mensch weit und breit!“
„Richtig, mein Süßer!“, sagt Mandy und beginnt ihre Bluse zu öffnen, „und genau deshalb sind wir hier“, raunt sie mit leiser Stimme weiter, „weil hier außer dir und mir und Johnny Walker kein Mensch ist. Wir sind ganz ungestört…“
Während sich Mandy auszieht, verschluckt sich Norman fast am Whiskey. Mandy schlingt die nackten Arme um seinen Hals und presst ihren Oberkörper an ihn.
„Küß mich“, muntert sie ihn auf.
Norman schließt sie in seine Arme und küsst sie auf die Lippen. Im Wald schreit eine Eule.
Mandy dringt mit der Zunge in seinen Mund vor. Sie öffnet seine Hose und lässt ihre Hand hineingleiten. Dann wirft sie ihren Kopf in den Nacken und bietet Norman ihren Hals zum Küssen dar. Ihren makellosen weißen Hals. Ihren weißen duftenden verlockenden Hals…
Als Norman wieder zu sich kommt, hält er eine ohnmächtige blasse Mandy im Arm. Sie ist halb nackt und aus ihrem Hals rinnen zwei Blutspuren. Norman erschrickt und schluckt heftig. Sein Mund schmeckt metallisch. Er lässt die leblos erscheinende Mandy auf die Bank sinken und tritt zwei Schritte zurück. Dann fährt er sich durch die Haare. Was jetzt? Er fühlt Mandys Puls, kann aber nichts ertasten. Ihre Haut ist eiskalt! Mein Gott, sie ist tot! Was ist bloß geschehen? Habe ich sie getötet? Norman blickt sich um. Der Morgen dämmert, aber weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Ob es ihm gelingen wird, ihren Körper bis zum Wagen zu schleppen? Norman greift unter ihre Arme und hebt den Körper mit Leichtigkeit hoch und trägt ihn ohne Schwierigkeiten zum Wagen. Mit einer Hand öffnet er die Tür, während er den Körper des toten Mädchens über dem anderen Arm hält. Wow! Das sind ja Superkräfte! Geradezu übernatürlich, supernatural. Nachdem Norman den Leichnam von Mandy im Auto verstaut hat, fährt er ein Stück weiter in den Wald hinein, und vergräbt sie mit den Händen in einem Dickicht. Dann fährt er nach Hause.
ENDE DER WOCHE.
„Wie geht’s dir Norman? Auf mich machst du einen dynamischeren Eindruck!“
„Ja, Dr.Beeverstone, ich fühl mich auch ganz gut. Diese bleierne Schwere hat meinen Körper verlassen.“
„Gut, mein Junge, gut. Und wie steht es mit dem Essen?“
„Ah, so lala. Mal habe ich einen Bärenhunger und mal krieg ich nix runter.“
Beeverstone schaut von seinen Notizen auf: „Also, insgesamt etwas besser?“
„Jo, kann man so sagen.“
„Schön, Norman, schön. Dann können wir die Frequenz der Transfusionen herunterfahren. Wenden wir uns mal deiner Photophobie zu…“
SONNTAG NACHT. NOTAUFNAHME DES KRANKENHAUSES.
Ein VW Beetle stoppt vor der Notaufnahme des Krankenhauses, und eine junge Frau steigt aus. Ihren rechten Arm hat sie mit einem dicken Handtuch umbunden. Blut tropft heraus.
„Geh schon mal rein, Jane! Ich parke nur den Wagen, dann bin ich sofort bei dir, okay.?“
Der junge Mann zieht den Kopf wieder ins Wageninnere, fährt die Scheibe hoch und braust los. Einen Moment lang steht Jane mit dem verwundeten Arm allein vor der nächtlichen Notaufnahme, dann nähert sich ein junger Mann.
„Warten Sie, ich helfe Ihnen hinein“, sagt Norman und legt seinen Arm um die junge Frau. Er schluckt ein paar Mal heftig.
„Oh, danke. Das ist sehr aufmerksam von Ihnen“, erwidert Jane. Und mit Blick auf ihren Arm: „Ich weiß, eine scheußliche Wunde.“ Sie lächelt. „Schauen Sie am besten gar nicht hin.“
Norman geleitet die junge Frau ins Treppenhaus und reißt sie dann die Kellertreppe hinunter. Ihr Widerstand ist vergeblich. Etwa eine halbe Stunde später verlässt Norman das Gebäude.
Der junge Mann kann seine Jane nicht finden.
EIN PAAR TAGE SPÄTER.
Im Park ist es stockfinster. Außer einem gelegentlichen Rascheln und dem Rufen eines Käuzchens hört man nur ein leises Schmatzen.
Plötzlich wird das Rascheln massiger. Norman unterbricht seine Mahlzeit und schaut ins Finstere. Er macht einen halbhohen Schatten aus. Jetzt ein Knurren. Norman springt auf die Füße. Er lauert. Das Knurren wird lauter. Der Schatten nähert sich. Jetzt ist er ganz nah…. Und verstummt. Aus dem Knurren wird ein Schnüffeln und ein erfreuter Japser.
„Norman?“ Der Schatten springt auf ihn zu.
„Ginger?“ Norman beugt sich herunter und wuschelt dem Hund überrascht und erfreut durch’s Fell. „Ginger, mein Gott, wo bist du gewesen? Ich hab gedacht, du wärst tot!“
„Wo soll ich schon gewesen sein?“, antwortet ihm die Hündin. „Ich war immer in der Nähe. Meist im Wald. Nachts habe ich gejagt.“ Sie schaut auf den Körper am Boden, aus dem das Leben entweicht. „So, wie du!“
Norman blickt auf den Körper mit den Bissstellen am Hals, auf seine Hände, dann auf den Hund.
„Ja, ich…. Ginger, du kannst sprechen?! Ich verstehe dich….? Wieso?“
Die Hündin legt den Kopf schräg, stellt die Ohren auf und sagt dann: „Ja, wieso wohl, Norman?“ Dann wird ihr Gesichtsausdruck ernst: „Weil wir jetzt zur gleichen Gattung gehören. Wir sind beide Vampire. Ich weiß allerdings nicht, ob außer mir schon mal ein anderer Hund von einem Vampir angefallen worden ist.“
Norman ist verwirrt: „Du meinst…. Du willst damit sagen…. Was…“
Gingers Stimme ist ganz ruhig: „Ja, Norman. Du bist ein Vampir. Du bist schon immer einer gewesen. Es hat in dir geschlummert. Ich habe es immer gespürt. Dann hat es langsam Besitz von dir ergriffen. Du hast mich gebissen und damit zu deiner Gefährtin gemacht. Komm, lass uns zusammen jagen.“