BRESTON. MOTELZIMMER
Es klopft an der Tür des Motelzimmers. Sam springt auf und öffnet. Vor der Tür stehen Garth und eine Frau im geblümten Sommerkleid. Die Frau hält einen Kuchen im linken Arm. Sie streckt Sam die rechte Hand entgegen und strahlt ihn freundlich an.
„Das ist Bess“, sagt Garth, gleichfalls strahlend zu Sam und knuddelt ihn. „Da wir erst morgen nach Michigan fahren, dachte ich, wir kommen einfach auf einen Sprung vorbei und schauen, wie es Dean geht.“
Dean ist ebenfalls aufgestanden und versucht Sam über die Schulter zu blicken –was ihm natürlich wegen seiner Größe nicht gelingt. Er drückt sich mit seinem bandagierten Arm an Sam vorbei, schaut auf die blonde Frau, dann auf den Kuchen und strahlt gleichfalls.
„Hi, ich bin Dean!“
Sam lässt die beiden eintreten und räumt den kleinen Tisch im Zimmer frei. Dann beginnt er ihn mit dem Geschirr einzudecken, dass er im Küchenbord findet. Garth und seine Frau Bess haben sich an den Tisch gesetzt, und Bess beginnt den Kuchen auf zu schneiden. Ginger bleibt reglos auf dem Fußende von Sammys Bett liegen und betrachtet die Besucher misstrauisch. Garth versucht ihr beruhigend zu zuzwinkern. Daraufhin dreht Ginger den Kopf weg und spitzt die Ohren.
„Ich freue mich so, euch kennen zu lernen“, sprudelt Bess los. „Garth hat schon so viel von euch erzählt!“
„Hm ja“, antwortet Sammy verlegen. Das Wissen darum, dass es sich sowohl bei Garth als auch bei Bess um Werwölfe handelt, macht ihm den Umgang mit den beiden nicht leichter. Dean hingegen scheint das für den Moment vergessen zu haben: „Wow! Ist das ein Marmorkuchen? Mit Karamellglasur? Den esse ich für mein Leben gern!“
Bess freut sich: „Ja, ja. Das ist ein altes Familienrezept. Und das ist wirklich dein Lieblingskuchen? So ein Zufall!“
Es geht eine Weile mit diesem Geplänkel und Smalltalk weiter. Sam fühlt sich sichtlich unwohl dabei, und man spürt, dass auch Garth etwas auf dem Herzen hat. Nachdem der Kuchen verputzt ist, und alle ein wenig ruhiger geworden sind, wagt Garth einen Vorstoß:
„Also, wir sind eigentlich nicht nur so vorbei gekommen… Wir haben uns natürlich Sorgen um Dean gemacht, und wollten sehen, wie es ihm geht… Außerdem hatten wir uns ja nicht richtig verabschiedet und… wir wollten euch noch fragen…“, Garth zögert. Sam und Dean hängen an seinen Lippen. Da übernimmt Bess das Gespräch: „Wir wollten euch fragen, ob ihr die Paten unseres Kindes werdet!“ Während Bess erwartungsvoll auf eine Antwort harrt, sind Sam und Dean wie vor den Kopf geschlagen und haben Mühe, die in dem Satz enthaltenen Informationen zu sortieren. Garth und Bess erwarten ein Kind. Sam und Dean sollen Paten werden. Von einem Werwolfkind?!
„Äh…“, stammelt Sam und weiß nicht so recht, wie er seine Bedenken zur Sprache und seine Nachfragen an den Mann bringen soll. „Ihr… ihr bekommt ein Kind?“
„Ja!“, antwortet Garth strahlend und drückt seine Bess an sich.
„Einen kleinen Garth?“, fragt jetzt auch Dean. „Abgefahren!“
„Und… und euer Kind…“, stammelt Sam vorsichtig.
Garths Mine wird ernst. Er hat verstanden und lässt Bess für einen Moment los. Dann nickt er Sam zu: „Ja, Mann. Unser Kind wird ein Werwolf. Genau wie wir.“
Sam lächelt verlegen und entschuldigend, dann fuchtelt er mit den Armen: „Also, nicht , dass du mich missverstehst, Garth. Ich meine, es ist natürlich überhaupt kein Problem, ich meine… hehe, ich weiß ja, dass ihr sozusagen vegetarisch lebt... und…“
Garth hebt beschwichtigend die Arme: „Okay, Sam, lass es mich noch einmal erklären: wir sind ganz normale Menschen, die ein ganz normales Leben führen. Statt Steaks essen wir hin und wieder das Herz eines Rindes oder Schweins. Damit geht es uns gut. Das Risiko ist bei uns nicht größer[] als bei jedem normalen Menschen, einen Amoklauf zu machen. Wir leben ruhig und friedlich und haben diese kleine Silberkugel, die uns stets an unsere Verletzlichkeit erinnert. Es besteht also von unserer Seite gar keine Gefahr. Außerdem…“, sagt er mit Blick auf Ginger, „lebt ihr ja offensichtlich ganz friedlich Seite an Seite mit dem Vampir.“
„Mit welchem Vampir?“, fragen Sam und Dean wie aus einem Mund.
„Wie? Ihr wisst es nicht?“, fragt Garth erstaunt, und starrt die Jungs jetzt seinerseits überrascht an.
„Was wissen wir nicht?“, fragt Dean und hat sich zu heftig bewegt, so dass er jetzt mit nach seinem bandagierten Arm fasst.
„Euer Hund!“, sagt Garth, „Sie ist ein Vampir.“
„Du meinst Ginger?“, fragt Sam ungläubig und zeigt überflüssigerweise auf den Australian Shepard an Bettende.
Garth nickt. „Ja, klar. Sagt bloß, ihr habt es nicht bemerkt?“
Während des Gespräches hat Ginger demonstrativ den Kopf abgewandt. Ihre Ohren zeigen jedoch, dass die Hündin dem Gespräch gefolgt ist.
Sam ist hin und her gerissen und weiß nicht, was er tun oder sagen soll. Er bläst die Wangen auf, um seinen inneren Druck abzubauen, stößt die Luft aus und lässt sich gegen die Stuhllehne sinken.
„Sieh mal, Sammy. Sie war der Hund, der mit Norman zusammen war. Es ist in der Literatur nicht viel über Vampirhunde bekannt, aber es ist nicht so überraschend, dass der Hund eines Vampirs auch ein Vampir ist. Ist euch nie etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen? Ungewöhnliche Schnelligkeit oder Kräfte? Sie ist ein flinker mittelgroßer Hund. Es ist vielleicht normal, dass ein Hund versucht sein Herrchen zu verteidigen… auch gegen eine Werwölfin. Aber dass er sie zu Fall bringt?“
Sam und Dean schauen beide bestürzt zu Ginger hinüber. Diese steht auf, reckt und dehnt sich, und kommt dann auf Sammy zugetrabt. Sie legt ihren Kopf auf sein Bein und schaut ihn mit ihren dunkelbraunen Augen an. Automatisch hebt Sam die Hand und streichelt ihr über den Kopf.
„Wow!“, sagt Dean und schüttelt den Kopf. „Bist du sicher, Garth?“
Garth und Bess nicken ihm beide zu: „Wir können es riechen.“ Sie können sich beide das Grinsen nicht verkneifen.
„Und…“, beginnt Sam, während er Ginger weiter streichelt und ihm der Hund auf’s Bein sabbert.
Garth zuckt mit den Achseln und hebt die Hände: „Die Sache ist so ähnlich[] wie bei uns. Sie hat sich einen Menschen als Herrn gesucht und passt sich an. Sie ist in erster Linie ein Hund und gehorcht ihrem Herrn. Ihr Vampircharakter bricht nur bei Gefahren durch.“
Sam ist noch immer fassungslos. Dean hat sich Dads Tagebuch geschnappt und beginnt –recht ungeschickt– einhändig darin zu blättern. Dann wird er ungeduldig und wirft Sam das Buch hin: „Hier Sammy. Du musst gucken, was wir jetzt tun müssen. Schnell, guck nach, ob Dad irgendwas dazu geschrieben hat!“
Sam schaut irritiert auf seinen Bruder. Dean zetert weiter: „Vielleicht müssen wir eine Bluttransfusion machen oder uns impfen. Komm, Sammy, mach schon, guck nach.“
Während Garth und Bess über Deans Hypochondrie lächeln, nimmt Ginger den Kopf von Sammys Schoß und trabt zu Dean herüber. Sie springt hoch und legt Dean ihre Pfoten auf die Schultern. Dann leckt sie ihm das Gesicht. Bess und Garth brechen in schallendes Gelächter aus, in das auch Sammy nach einem Augenblick einstimmt. Dean hält die Luft an. Er nimmt den Kopf erschrocken zurück. Er starrt Ginger in die Augen und verharrt… Dann zieht er ihren Kopf an seine Schulter und wuschelt ihr durch’s Fell. Lachend stößt er dann folgende Worte heraus: „Wow! Es ist scheißegal, was du bist, Mädchen! Du gehörst nun mal zu uns. Willkommen im Team!“
„Also, Jungs“, mischt sich Garth wieder dazwischen und zeigt auf Bess Bauch, „können wir auf euch rechnen?“
Dean schlägt die Hacken zusammen und hebt die gesunde Hand an die Stirn: „Onkel Dean meldet sich zum Dienst!“
Jetzt lacht auch Sam erleichtert und sagt: „Du kannst auf uns rechnen, Garth.“
PRAXIS BEEVERSTONE.
„Müssen wir uns hier draußen unterhalten?“, fragt Dr. Beeverstone.
„Wollen Sie, dass ich mich die Treppe hoch quäle?“, kommt die Gegenfrage.
Dr. Beeverstone zuckt resigniert die Achseln. „Also schön, was kann ich für dich tun?“, fragt er sein Gegenüber.
„Ich bin es einfach leid!“,beschwert sich eine metallene Stimme. „Ich bin zu alt für diese Sachen!“
„Wie alt bist du denn jetzt?“, hakt Beeverstone nach.
„Fünfzig! Ich erblickte 1967 das Licht dieser Welt.“
„Na, fünfzig ist doch noch kein Alter!“, versucht es Dr. Beeverstone aufmunternd.
„Na ja, für jemanden wie mich schon! Ich habe zu viele schreckliche Dinge gesehen. Zu viel Blut, zu viel Tod…“
„Hm.“
„Ich meine, okay, er nennt mich sein Baby. Er kümmert sich um mich, merkt es sofort, wenn irgendwas mit mir nicht stimmt. Er streichelt mich. Wenn es keiner sieht, küsst er mich sogar. Aber er hat mich auch etliche Male geschrottet! Er kann so rücksichtslos sein!“
„Das klingt nach einer ziemlich turbulenten Beziehung.“
„Das liegt in gewisser Weise in der Natur der Sache. Der Turbo. Eine zeitlang waren wir mal getrennt. Das ist keinem von uns Beiden so richtig gut bekommen… Manchmal läuft alles prima. Wir haben Spaß. Fahren über den Highway, hören gute Rockmusik… Aber dann…“
„Ja, was dann…?“
„Dann sind da immer diese Streitereien zwischen den Brüdern! Ich ertrag es einfach nicht mehr. Wegen jeder Kleinigkeit können die sich in die Haare geraten, und wer badet das alles aus? Ich! Ich werde gehetzt und gejagt! Ich renn‘ mir die Sohlen ab für die Jungs!, aber…“
„Also, die Streitereien belasten dich?“
„Eindeutig! Das halten meine Nerven nicht mehr aus!“
„Und andere Kontakte?“
„Nur ein Mal bin ich mit meiner Familie zusammen gekommen. Das war auf so einer Con. Da ganz viele von uns, aber wir haben uns dann wieder aus den Augen verloren.“
„Verstehe.“
„Warum kann ich nicht ein geordnetes ruhiges Leben führen? Statt dessen bin ich immer auf der Jagd. Es ist wie ein Fluch! Erst John, dann Dean! Und immer dieses Junk Food auf den Sitzen! Das macht mich ganz fettig!“
„Hm.“
„Wann habe ich eigentlich das letzte Mal eine Waschanlage von Innen gesehen?!“
„Waschanlage?“
„Ach, egal! Am schlimmsten ist es, wenn Crowley mit im Wagen sitzt. Der stinkt immer so nach Schwefel und furzt in die Sitze. Und jetzt auch noch dieser Hund. Dabei reagiere ich allergisch auf Tierhaare! Aber egal! Auf mich kommt es ja gar nicht an. Wie es mir geht, interessiert kein Schwein! Solange ich nur gut aussehe. Aber irgendwann haue ich ab! Ich mache den Abflug, ich schwöre!“
Beeverstone erhebt sich von der Treppenstufe und tätschelt väterlich die Motorhaube: „Wenn du mich fragst, ich denke, du hast eine Midlife Crisis. Das geht vorbei.“ Er lacht.
Der Impala startet den Motor, lässt die Scheinwerfer aufleuchten und fährt zurück zum Motel.
Dr. Beeverstone fragt sich, ob er das alles nur geträumt hat. Die Reifenspuren sprechen dagegen…