Bobby sagt, dieses Haus muss es sein!“ Dean wartet mit Revolver im Anschlag an der Tür auf Sammy. Sammy, gleichfalls mit gezückter Waffe, öffnet vorsichtig die Tür. Drinnen ist alles dunkel. „Uuuuahh!“, kreischt Dean auf, als ihm eine Fledermaus am Kopf vorbei saust. Hektisch wischt er sich durch seine Haare. „Mistviecher!“
Die Brüder schleichen –sich Deckung gebend- durch’s Haus. Sie durchkämmen Zimmer für Zimmer. Alles sieht nach einem runtergekommenen Haus aus, in dem seit etlichen Jahren niemand gelebt hat. Brüchige Möbel, Spinnweben, Staub. Ein verlassener Ort… wären da nicht die Spuren von Fußabdrücken. Sam gibt Dean ein Zeichen, die Tür zum Keller zu öffnen. Dean öffnet vorsichtig die Kellertür und hält sich den Ärmel vor die Nase. Aus dem Keller schlägt ihnen moderiger fauler Geruch entgegen. Vorsichtig schleichen Sam und Dean die Kellertreppe herunter. Dean leuchtet mit seiner Taschenlampe die Dunkelheit aus. Dann stockt er. Vor ihnen auf dem Boden finden sie eine Schleimspur. Dean nickt Sammy bedeutsam zu. Sam hat verstanden. Irgendwo hier muss der Formwandler sein! Da! Noch ein Schleimfetzen, und da noch einer. Dean sucht die Spur. Da ist eine weitere schwere Holztür. Dean bedeutet Sammy, sie zu öffnen. Der Gestank wird schlimmer. Noch ein Schleimfetzen. Die Decke ist hier sehr niedrig und die Jungs müssen die Köpfe einziehen. Vorsichtig pirschen sie weiter vor. Dean hebt die Hand. Sam bleibt hinter ihm stehen. Dean beleuchtet einen ganzen Haufen Schleim, der darauf hindeutet, dass sich der Formwandler hier gehäutet hat. Sam richtet seine Pistole mit den Silberkugeln auf die lauernde Dunkelheit. Dean nickt Sammy zu und richtet den Strahl seiner Taschenlampe in die Dunkelheit. Die Gestalt, die sie aufscheuchen, zuckt kurz zusammen und stürzt dann auf Sammy zu. Sam, der nicht mit dieser Aktion gerechnet hat, wird von der Wucht des Flüchtenden umgeworfen und landet auf dem Rücken. Dean reagiert blitzschnell, doch das geworfene Silbermesser kann den Formwandler nur streifen. Dean stürzt auf Sammy zu:
„Alles okay, Sammy?“ „Ja. Ja, alles in Ordnung“, sagt Sam und erhebt sich vom Boden.
„Der Mistkerl ist uns entwischt!“
„Ja. Wir waren schlecht vorbereitet“, sagt Sam.
„Wie konnten wir wissen, dass es sich um einen Formwandler handelt?“, tobt Dean weiter.
„Bobby hat genau das gesagt“, erinnert ihn Sam.
„Formwandler wohnen in der Kanalisation! Wo, bitte schön, ist hier Kanalisation, Sam?“
Sam zuckt die Achseln: „Aber ganz offensichtlich war das hier sein Unterschlupf…“
„Lass uns fahren, Sam. Ich hab einen Bärenhunger!“
Aber Sam leuchtet mit seiner eigenen Taschenlampe den Raum aus und geht bis zu einem Haufen Gerümpel. Es sieht aus, als habe hier jemand Sperrmüll abgestellt.
„Dean“, ruft Sam seinem Bruder zu, „hier ist irgendetwas. Leuchte mir mal!“
Als Dean seinen Lichtstrahl zusätzlich auf das Gerümpel hält, erkennt man auch hier Schleimfetzen. Sammy hebt eine alte Tür an, die quer über einer Art Mauersims zu liegen scheint. Polternd fällt diese zu Boden und wirbelt jede Menge Staub auf. Sam und Dean halten sich Mund und Augen zu und husten. Als sich der Staub gelegt hat, erkennen sie, dass sie einen Hausbrunnen freigelegt haben. Dean pfeift anerkennend: „Mein lieber Scholli!“
Sammy tritt näher an die Brunnenöffnung heran, hält sich die Nase zu und leuchtet hinein. Bingo! Wenn das nicht die gemütliche Wohnstätte eines Formwandlers ist!
Sam schaut auf Dean. Dean schüttelt den Kopf und hebt abwehrend die Hände:
„Wow, no! Nein, nein, nein. Das mache ich auf keinen Fall, Sammy!“
Sam schaut seinen Bruder unverwandt an. Er wartet.
„Weißt du, was das für ein Siff da unten ist?! Und wer weiß, wo der Brunnen endet?“
Sam wartet. Dann sagt er mit leiser Stimme: „Du weißt, dass das unsere einzige Chance ist, den Formwandler noch zu erwischen. Wir hätten Bobby vertrauen müssen und vorsichtiger vorgegangen sein. Wenn wir ihn heute Nacht nicht erwischen, wird er sich sonst wo verstecken… Willst du Bobby das erklären?“
„Oh, Mann! Oh Mann, oh Mann, oh Mann! Manchmal glaube ich, wir haben einfach den falschen Job.“
„Und nicht mal Berufsbekleidung“, grinst Sam.
Sam und Dean sind in den alten Hausbrunnen geklettert, und richtig, ein Weg durch ein Stück Kanalisation hat zum Schlupfwinkel des Formwandlers geführt. Dieser war auch so dumm gewesen, sich über den anderen Zugang auf Sam und Dean zuzubewegen. Diesmal hatten die Silberkugeln gesessen! Job erledigt.
Stunden später sitzen die Jungs kurz nach Mitternacht in einem verlassenen Waschsalon, in dem sich drei Waschmaschinen mit ihren verschmutzten Klamotten vergnügen. Während sie warten, spielt Sammy mit Gingers Halsband, das er noch immer in der Tasche trägt. Er lässt es durch seine Hände gleiten und spielt mit den Nieten. Dean, der an seinem Smartphone herumdaddelt, schaut zu ihm hoch:
„Denkst du noch immer an diesen verdammten Köter?“
Sammy wirkt resigniert und sagt leise: „Irgendwie fühle ich mich verantwortlich für sie.“
Zwei gelbe Hundaugen beobachten die Szene im Waschsalon, dann läuft die Hündin zum Impala, um ihn zu beschnuppern. Sie hebt den Kopf in Richtung der Jungs, jankt kurz auf, dreht ab und trottet davon.
PRAXIS BEVERSTONE.
„Dr. Beeverstone, da sitzt noch eine junge Dame im Wartezimmer. Tut mir leid, die hatte ich ganz übersehen“, entschuldigt sich Martha Woolrich.
Dr.Beeverstone seufzt. Es war ein langer Tag, und der Herr mit dem Lungenemphysem sollte der letzte Patient für heute gewesen sein… Hilft aber alles nichts.
„Ja, Martha, dann schicken Sie die Dame rein“, antwortet er müde. Martha Woolrich zögert noch einen Moment:
„Soll ich so lange warten, bis Sie mit der Patientin fertig sind?“, fragt sie.
„Sind noch irgendwelche Briefe zu erledigen?“, fragt Beeverstone zurück.
„Nein. Nein, alles erledigt für heute. Das hab ich in den letzten zwei Stunden zu Ende gebracht“, antwortet Mrs.Woolrich wahrheitsgetreu.
„Hm. Dann machen Sie Schluss für heute, Martha“, sagt Beeverstone.
„Okay. Danke, Doc. Bis morgen dann!“, verabschiedet sich Mrs.Woolrich, bevor sie die junge Dame hereinführt.
Während Dr.Beeverstone aufblickt, betritt eine zierliche junge Frau mit schulterlangen dunklen Haaren und ausdrucksstarken Augen leise den Raum. Beeverstone scheint es, als umgäbe sie eine Aura von Melancholie, Traurigkeit.
„Setzen Sie sich doch bitte, Mrs….“, lädt Beeverstone sie ein. Die Frau deutet ein Lächeln an und nimmt Platz.
„Tessa“, antwortet sie mit weicher Stimme, „Tessa…. Reep…borough.
„Ja, Mrs Reepborough, was kann ich für Sie tun?“, eröffnet Beeverstone das Gespräch mit der Patientin.
„Ich bin immer so allein. Immer… Ich kann gar nichts daran ändern. Ich finde keine Freunde, niemand sieht mich, niemand will mich in seiner Nähe haben!“
„Na, aber, aber“, entrüstet sich Beeverstone, „So eine sympathische junge Frau, wie Sie?!“
„Ich… ich habe das Gefühl… niemand will mich überhaupt sehen…“, antwortet die junge Frau.
„Können Sie das näher beschreiben?“
„Ja, wie soll ich sagen… Zuerst ist es immer so, als sei ich für die meisten Menschen geradezu unsichtbar, sie nehmen mich überhaupt nicht wahr… Es ist so, als würden sie durch mich hindurch rennen …“
„Hm“, räuspert sich Beeverstone. „Ich nehme an, Sie wohnen in einer Großstadt? Da, wo es vor Menschen wimmelt?“
„Ich bin immer da, wo ich gebraucht werde.“
„Also beruflich viel unterwegs“, bringt es Beeverstone auf den Punkt.
„Ja, so ungefähr… Aber auch beruflich arbeite ich meistens ganz alleine, nur ab und zu…“
„Und“, hakt Beeverstone nach, „da gelingt es Ihnen sicher nicht, sich feste Kreise aufzubauen und Beziehungen zu pflegen?“
„Beziehungen… nein. Niemand will mit mir gehen“, seufzt die junge Frau.
Beeverstone überlegt. So eine attraktive junge Frau, wie die, die jetzt vor ihm sitzt? Und solche Probleme? Na ja, er hat schon alle möglichen Störungen der Selbstwahrnehmung bei Patienten erlebt.
„Und, gehen Sie auf die Leute zu?“
„Ja, immer. Ich werde ja sozusagen auf die angesetzt…“
„Angesetzt?“, fragt Beeverstone erschrocken. Ob es sich trotz des sympathischen Aussehens um eine Auftragskillerin handelt? Umgibt sie nicht auchso eine diffuse Sphäre von Tod?
Jetzt lacht die junge Dame ein bisschen: „Nein, ‚angesetzt’ ist hier der falsche Begriff. Ich habe eher so etwas wie eine Verabredung. Der Chef verwaltet die Termine.“
„Entschuldigen Sie meine Frage, Mrs Reepborough, arbeiten Sie für einen Escortservice.“
Tessa überlegt einen Augenblick:
„Nein, eigentlich kann man es nicht so nennen. Wir sind mehr so in der Logistikbranche tätig. Wir begleiten Menschen zum Ort ihrer Bestimmung.“
„Aha“, sagt Beeverstone und ist sich nicht sicher, was sie meint. Am wahrscheinlichsten handelt es sich um eine esoterische Gruppierung oder vielleicht doch das horizontale Gewerbe?
„Und die Leute, die Sie abholen, warten auf Sie?“
„Nein. Sie wissen eigentlich nie so genau, wann ich komme.“ Oh Gott! Auch noch unpünktlich!, denkt Beeverstone. Er ist müde und hat eigentlich gar keine Lust mehr.
„Und was ist jetzt eigentlich ihr Problem?“
„Die meisten Menschen mögen mich nicht.“, antwortet Tessa bestimmt. „Sie wollen sich nicht auf mich einlassen und sie wollen auch nicht mit mir gehen.“
„So allgemeingültige Aussagen sind sehr destruktiv. Sie führen meist zu self fullfilling prophecies. Sie müssen diesen Negativerfahrungen positive Erfahrungen entgegensetzen! Haben Sie schon etwas in dieser Richtung unternommen?“, geht Dr.Beeverstone jetzt in die Offensive.
„Ja, ja doch. Ich habe es über zwei Jahre lang bei Parship versucht. Vergebens… Selbst wenn es einmal zu einem Date kam ist, hat der Typ einfach durch mich hindurch gesehen, sich suchend im Raum umgeschaut und dann die Bar, das Restaurant, was immer, verlassen.“
„Hm. Das ist wirklich merkwürdig. Haben Sie es schon mal in einer Selbsthilfegruppe versucht? Es gibt da jede Menge Angebote für die unterschiedlichsten Probleme“, versucht Beverstone ihr einen Weg aufzuzeigen.
Tessa Reepborough zuckt nur mit den Schultern. „Seit Jahren schon nicht mehr“, antwortet sie leise.
„Und ihr Chef. Wie steht der dazu? Haben Sie die Probleme schon mal mit ihm besprochen?“
„Hm ja, der Chef. Der lädt dann immer zum Essen ein und macht Supervision. Sagt dieses Problem hätten die meisten in unserer Branche, dafür habe der Job aber auch seine positiven Seiten, also, nach den Aufträgen gäbe es eigentlich nie unzufriedene Kunden. Aber hinterher fühle ich mich auch nicht besser, und mir ist immer ganz schlecht von dem ganzen Fast Food.“
„Hm. Ja, das klingt nach einem schwerwiegenden Problem, das wir beide hier heute nicht lösen werden, Mrs Reepborough. Mein Vorschlag wäre, dass sie am Freitag noch mal in die Praxis kommen, und wir eine Bioresonanztherapie machen, um zu sehen, wo wir Ihr Energiepotential heben, und damit die Grundstimmung verbessern können“, schlägt Beeverstone vor.
„Und Sie meinen, das hilft mir?“
„Ich habe da schon die erstaunlichsten Resultate erzielt. Eine Störung im Wurzelchakra beispielsweise, lässt das gesamte Energiesysteme in Disharmonie fallen. Bei dem einen haben wir dann organische Beschwerden, bei einem anderen eher seelische Probleme“, erklärt ihr Beeverstone.
„Gut“, nickt die junge Dame, „gut. Versuchen wir es.“
„Dann sehen wir uns Freitag um 10.00 Uhr hier in der Praxis“, sagt Beeverstone abschließend und freut sich auf seinen Feierabend.
„Kann ich noch mal Ihre Toilette benutzen?“, fragt Tessa Reepborough.
„Ja, ja, natürlich. Da vorne, die Tür neben der Anmeldung.
Während Tessa die Toilette ansteuert, fährt Beeverstone seinen Rechner herunter, löscht das Licht und schließt die Tür seines Behandlungszimmers. Er schnappt sich sein Cap, zieht seine Jacke über, und wartet nur noch auf die Patientin, damit er dann die Praxis abschließen kann. Tessa Reepborough kommt aus der Tür, nimmt sich ihren langen schwarzen Mantel aus dem Wartezimmer und schlüpft hinein.
„Oh, Sie verlassen die Praxis auch? Ich war die letzte Patientin?“
„Ja, für heute ist Feierabend! Ich gehe noch einen Happen essen, und dann nach Hause.“
„Sie gehen zu Fuß?“
„Ja, Dave’s Diner ist ja hier gleich um die Ecke“, lacht Beeverstone. Das ist halt der Vorteil eines kleinen Ortes.
„Dann haben Sie sicher nichts dagegen, wenn ich Sie ein Stück begleite?“, fragt Tessa recht tonlos.
Noch bevor Beeverstone mit einem ‚Nein, natürlich nicht’ antworten kann, verschwimmt der Raum. Als seien alle Farben und die Dreidimensionalität aufgehoben, sieht sich Beeverstone selbst in einem Sog, der ihn mit Tessa mitzieht. Kalt ist es hier und das Licht wirkt so fahl. Für einen kurzen Augenblick krampft sich Beeverstones Herz zusammen, er hört Mary seinen Namen rufen und das Atmen fällt ihm schwer. Dann ist der ganze Spuk vorbei. Er schaut an Tessas traurigen Augen vorbei und sagt:
„Äh… ich hab da noch etwas vergessen. Ich muss zurück und das unbedingt noch erledigen. Gehen Sie schon mal. Wir sehen uns dann Freitag.“
Mit einem traurigen Lächeln dreht sich Tessa Reepborough um und verlässt die Praxis.
Beeverstone selbst sitzt noch eine Viertelstunde ratlos und benommen in der Anmeldung, bevor er sich zu Dave’s aufmacht.
FREITAG.
Beeverstone hat die Ableitungselektroden des Bioresonanzgerätes an Mrs Reepboroughs Armen angeschlossen.
„So, dann wollen wir mal“, muntert Beeverstone die Patientin auf. „Wir scannen jetzt sozusagen das Energiesystem Ihres Körpers. Aber keine Angst, es tut nicht weh.“
Tessa Reepborough, die ihm gegenüber auf dem Behandlungsstuhl sitzt, nickt ihm stumm zu.
Beeverstone versichert sich, dass die Elektroden richtig sitzen und schaltet das Gerät ein. Das Gerät leuchtet auf, der Energiefluss reguliert sich und dann… ist das Gerät tot. Beeverstone werkelt an etlichen Schaltern herum, schaltet aus und ein, aber das Gerät bleibt stumm. Nicht einmal die Leuchtdiode blinkt. Beeverstone kontrolliert den Stecker, die Stromzufuhr, aber nichts.
„Verstehe ich nicht“, murmelt er vor sich hin. „War doch eben noch in der Wartung.“ Ausgerechnet jetzt! Beeverstone bemüht sich, das Gerät ans Laufen zu bekommen. Er müht sich noch einige Minuten, bevor er aufgibt.
„Tut mir leid, Mrs Reepborough. Das Bioresonanzgerät ist nicht in Ordnung. Da muss ich wohl erst einen Techniker rauskommen lassen. Wir müssen die Untersuchung um eine Woche verschieben.“
Mrs Reepborough erhebt sich leise und nickt dem Doc zu. „Okay.“
„Tut mir leid. Lassen Sie sich doch bitte vorne bei Mrs Woolrich einen Termin für nächste Woche geben.“
„Ja, gut“ antwortet ihm Tessa Reepborough und reicht ihm zum Abschied die Hand. Dr. Beeverstone stutzt einen Moment, denn er hat nicht das Gefühl in die Hand einer jungen Frau, sondern in kalten Staub zu fassen.
Tessa steht an der Anmeldung und wartet darauf, dass Mrs. Woolrich aufschaut.
„Ja, bitte?“, sagt Mrs.Woolrich und denkt, ‚Mein Gott, was hat das Mädchen für traurige Augen!’.
„Ich brauche noch einen neuen Termin, für nächste Woche.“
„Nächste Woche, ja. Moment mal. Da wäre Dienstag, der vierzehnte am Vormittag möglich, oder wieder Freitag, so gegen elf Uhr.“
„Dann Freitag.“
„Also, Freitag, siebzehnter, elf Uhr. Warten Sie, ich schreibe Ihnen den Termin auf.“
Als Mrs.Woolrich Tessa den Zettel herüberreicht, schaut sie ihr direkt in die Augen. So große, so tiefe, todtraurige Augen. Mrs.Woolrich starrt wie gebannt in diese Augen. Ihr Herz wird schwer, wie Blei… ihre Augen füllen sich mit Tränen.
„Würden Sie mich noch hinausbegleiten, Mrs.Woolrich?“, fragt Tessa. „Gehen Sie mit mir?“
Mrs.Woolrich ist wie hypnotisiert. Sie erhebt sich von ihrem Schreibtischstuhl und kommt um die Anmeldung herum.
„Ja, Mrs.Woolrich, gehen Sie mit mir“, wiederholt Tessa leise. Sie dreht sich zur Tür und Mrs.Woolrich folgt ihr. In Rock und dünner Bluse geht sie einfach hinter Tessa her. Sie ist schon fast aus der Tür, als…
„Mrs.Woolrich!“, donnert die Stimme von Doc Beeverstone über den Flur, „Rufen Sie doch bitte den Techniker von Mediport an. Das Resonanzgerät muss überprüft werden!“
Beeverstones Stimme hat Mrs.Woolrich in die Wirklichkeit zurück geholt. Verwirrt steht sie in der offenen Praxistür. Tessa Reepborough ist verschwunden. Mrs.Woolrich schüttelt den Kopf und eilt wieder hinter die Anmeldung.
‚Was wollte ich denn noch draußen erledigen?’, fragt sie sich selbst. ‚Ach, fällt mir gleich sicher wieder ein.’
WAS WEITER GESCHAH.
Nachdem Dr.Beeverstone am folgenden Freitag mit Tessa eine halbwegs aussagekräftige Untersuchung durchführen konnte, kam er leider zu dem Ergebnis, dass Tessa Reepborough energetisch einem Schwarzen Loch ähnelt. Die Chakren sind weit geöffnet, drehen aber durchweg entgegen der Lebensenergie oder erscheinen ‚leer’. Die Leute um sie herum spüren vermutlich instinktiv dieses Energieloch und halten sich unbewusst von ihr fern. So attraktiv die junge Frau auch daher kommt, hat man neben ihr sofort das Gefühl, dass alle Farben an Leuchtkraft verlieren und man sich an sämtliche traurigen Tierschicksale erinnert, über die man je gelesen hat, oder an die Szene, in der Lassie stirbt. Solche Ausstrahlung hat Beeverstone bislang nur bei schwer depressiven Patienten erlebt. Aber die junge Frau zeigt keine Anzeichen einer echten Depression. Daher hat Beeverstone bezüglich dieser Patientin Rat bei einer alten Bekannten gesucht: Camilla.
Camilla hat nach dem Studium Medizin Medizin sein lassen und ist viel gereist. Hat sich mit Naturreligionen und Schamanismus beschäftigt und arbeitet jetzt als esoterische Heilerin. Beeverstone schätzt ihre Tätigkeit nicht besonders hoch, aber in diesem Fall wusste er sich keinen besseren Rat. Camilla hatte ihm lange und aufmerksam zugehört und dann in ihrer Schatzkiste gekramt.
„Hier! Das gibst du ihr. Das ist ein Zerstäuber mit Pheromonen. Das fördert die Nähe von Menschen, und die scheint sie ja zu brauchen. Wird heute vielfach auch den Parfüms zugesetzt. Olfaktorische Lockstoffe. Da hast du gar keine Chance, die Reaktion ist in unseren Genen verankert. Ansonsten würde ich ihr vielleicht ein, zwei Pomander empfehlen. Mit Engelsenergie….“
Das geht Beeverstone jetzt aber doch zu weit! Da kann er ja gleich Liebestränke brauen!
„…Raphael ist sehr heilsam für die verlorenen Seelen… oder Michael, der hat so etwas Kämpferisches….hm?“
„Nein, danke, Camilla. Ich versuche es erst einmal mit den Pheromonen. Sonst weiß ich hinter her ja nicht mehr, was eigentlich bei ihr gewirkt hat…äh…“, redet Beeverstone sich heraus.
Camilla lacht: „Das ist dir jetzt wieder zu esoterisch, Thornton, richtig?“
Beeverstone weist das energisch von sich: „Nein, nein, das nicht, aber…“
„Gib’s zu, du glaubst nicht an Engel!“
„Ach, so kann man das auch nicht sagen, aber… sollten wir die nicht ihren eigenen Kram machen lassen, statt sie auch noch mit unseren Belangen zu belästigen?“
„Gutes Argument, Thornton! Das dir das so schnell eingefallen ist. Ich geh jetzt erst einmal in die Küche, und mach uns einen schönen Tee!“
Dr.Beeverstone sitzt Tessa erneut gegenüber. Diese Art Patienten sind immer sehr unbefriedigend, findet er. Das Gefühl zu haben, hier einfach nicht weiterhelfen zu können.
„Also, Mrs Reepborough, ich kann Ihnen offen gesagt nicht viel weiterhelfen. Und glauben Sie mir, das sage ich nicht gerne. Die neue Messung hat keinerlei Besserung ergeben…“
„Aber ich habe begonnen, jeden Tag eine Stunde lang Qi Gong zu praktizieren…“
Beeverstone hebt abwehrend die Hände:
„Das glaube ich Ihnen ja auch, Mrs Reepborough, aber manchmal… es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als wir uns träumen lassen… Warum sich Ihre Energien so auf dem Nullpunkt befinden, kann ich nicht sagen. Nur, dass sie es tun.“
„Dann bin ich also ein hoffnungsloser Fall?“
„Nein. Nein, das dürfen Sie nicht einmal denken! Nur sind meine Möglichkeiten in Ihrem Fall erschöpft.“
„Ah, so.“
„Ich habe in Ihren Fall eine Kollegin zu Rate gezogen“, Beeverstone stellt das Pheromonspray vor Tessa auf den Tisch“, und ich würde Sie bitten, zwei bis drei Wochen lang dieses Spray zu benutzen, bevor Sie unter die Leute gehen.“
Tessa schaut ihn fragend an, während sie die kleine Glasflasche in die Hand nimmt und betrachtet.
„Es ist eine Substanz, die Ihre negativen Energien neutralisieren soll. Vielleicht, wenn Sie erst einmal mehr menschlichen Kontakt und Leute um sich haben… kann sein, dass sich Ihre Energiefelder dann erholen und…“
„Aber Sie glauben nicht wirklich daran, Doktor?“, unterbricht ihn Tessa mit trauriger Stimme.
„Ich weiß es nicht, mein Kind, ich weiß es nicht…“