MAINE. IN DER NÄHE VON BRESTON
Sam und Dean (und Ginger) sind wieder alleine unterwegs. Der Impala ist an einem Rastplatz geparkt. Sam und Dean sitzen mit ihren Plastiktellern und Bier an einem der Holztische und futtern. Ginger sitzt neben Sam auf dem Boden und beobachtet die Umgebung. Während Sammy ein vegetarisches indisches Gericht löffelt, mampft Dean einen Dönerteller XXL mit viel Zaziki.
„Hm, lecker! Ich hätte zwei Portionen mitnehmen sollen!“, sagt er mit vollem Mund.
„Wenn du so weiter machst“, rügt ihn Sammy, „dann läufst du in zehn Jahren mit zwei, drei Bypassen herum.“
Dean macht eine wegwerfende Handbewegung. „Was so lecker ist, kann auf keinen Fall ungesund sein. Schau hier!“, sagt er und hält sogar Ginger etwas von dem leckeren Döner hin. Die Hündin nimmt ihm das Fleisch sehr vorsichtig aus den Fingern und frisst es auf. Sammy ist baff. „Seit wann kannst du mit Hunden, Dean?“ Dean ekelt sich jetzt doch ein wenig vor der Hand, die der Hund eigentlich gar nicht berührt hat, und wischt sie hektisch an seinem Hosenbein ab. „Ich kann immer noch nicht mit Hunden. Ich kann nur mit dieser Hündin“, sagt Dean und isst in erster Linie mit der linken Hand weiter. Sam zuckt mit den Schultern und wendet sich wieder seinem Essen zu. Wenn Dean die Hündin toleriert, um so besser. Er kann den Sinneswandel seines Bruders nicht ganz nachvollziehen.
„Wir sind kurz vor Breston, Dean. Wie gehen wir vor?“
„Ich denke, wir suchen uns ein Zimmer. Dann hören wir uns im Ort um. Wir waren schon mal da. Erinnerst du dich?“
„Klar. Damals haben wir einen Vampir getötet. Eigentlich merkwürdig, dass sich jetzt auf dem Gebiet Werwölfe herumtreiben. Soweit ich weiß, gehen sich die beiden Spezies lieber aus dem Weg.“
„Klar, Dean. Außer, sie treiben Krieg. Meinst du, wir sollten Garth kontaktieren?“
„Auf gar keinen Fall!“, ruft Dean entsetzt. „Diesen lausigen Job werden wir wohl noch alleine lösen!“
Sammy hebt beschwichtigend die Hände. „Okay, okay. Ist ja schon gut. Ich dachte nur, weil er sich verdammt gut auskennt auf dem Gebiet.“
„Sollte ich bei diesem Job unter die Räder kommen, Sammy, kannst du Garth gerne anrufen und mit ihm zusammen arbeiten“, sagt Dean und grinst hämisch.
Da Breston nur über ein einziges Motel verfügt, landen die beiden Brüder zwar in einem anderen Zimmer, entgehen der geschmackvollen Siebzigerjahretapete aber dennoch nicht.
„Boh!“, sagt Dean, während er seinen Rucksack auf eins der Betten schleudert. „Mir hängen diese miesen Motelzimmer ja so was von zum Hals raus!“
Sam zwinkert ihm zu: „Wir können dir ja mal zur Abwechselung eine Suite in einem Hotel mieten.“
„Oh ja, Sammy! Mit Boxspringbetten und Whirlpool!“ Dean träumt.
„Klar, Frühstück im Bett…, Yakuzzi… Champagner…“, fügt Sammy hinzu.
„Zimmerservice und fünf Pornokanäle!“, Dean grinst fett.
Sammy schüttelt den Kopf: „Komm wieder runter Dean!“
Dean hängt seine Jacke über den Stuhl und breitet die Karte von Breston aus.
„Also, Sammy, wo würdest du dich als Werwolf verstecken?“
„Keine Ahnung, Dean. Vermutlich im Wald. Frag Ginger!“, gibt Sam zur Antwort.
„Also, ich schlage vor, wir schauen als erstes beim Officer vorbei und werfen einen Blick auf die Leichen. Heute Abend sehen wir uns im Ort um. Hören auf das, was die Leute erzählen. Vielleicht bringt uns das schon auf die Spur. Wenn nicht, untersuchen wir morgen die Umgebung.“
„Du meinst die verwitterte Mühle?“
„Ja, und hier auf der Karte gibt es noch ein altes Wehr und eine stillgelegte Mine. Das bietet sich doch geradezu an als Unterschlupf.“
„Okay, Dean. Das klingt nach einem Plan.“
„Agent Miles und Agent Davis, FBI“, schnarrt Dean einem hageren Officer mit Bürstenhaarschnitt entgegen und hält ihm seinen Ausweis kurz unter die Nase. Auch Sammy lässt seinen Ausweis schnell wieder im Jackett verschwinden. Der Officer schaut ratlos aus der Wäsche und kratzt sich im Nacken. Dann zieht er seine schlotternde Jeans hoch.
„Äh, ja. Da waren schon mal welche vom FBI… vor einigen Wochen…“
„Pssst!“, macht Dean mit verschwörerischer Geste. „Leise, Mann! Das ist ziemlich geheim.“
Der Officer macht große Augen. „Ja, wenn das so ist… Dann zeig ich Ihnen jetzt erst mal die Leichen, oder?“
Sam und Dean nicken ihm bestimmt zu, dann grinsen sie sich an. Läuft doch wie geschmiert. Rückfragen bei einem Bobby Singer können sie nicht mehr bieten. Vielleicht könnte das jemand anderes übernehmen… später mal…
„Okay“, sagt Sam bestimmt. „Den Rest können Sie uns überlassen. Wir kommen alleine zurecht. Und… absolutes Stillschweigen!“
„Sie können sich auf mich verlassen, Agents“, antwortet der Officer und grinst blöde.
„Oh, Mann, die sehen ziemlich übel zugerichtet aus“, sagt Sammy, während er um die erst Leiche herum geht. Dean geht näher heran und leuchtet mit einer Schreibtischlampe den Brustkorb aus. Dann geht er zur zweiten und zur dritten Leiche. „Bingo!“, ruft er. „Die Herzen fehlen!“
„Ja“, sagt Sammy nachdenklich, „ich verstehe nur nicht, warum die Leichen so zugerichtet sind. Für einen Werwolf hätte es gereicht, das Herz aus dem Brustkorb zu reißen. Wieso sind die Körper so zugerichtet worden?“
Dean schüttelt den Kopf, zieht die Augenbrauen hoch und sagt: „Reiner Übermut?“ „Dean…“ „Nein, Sammy. Vielleicht hat der Scheißkerl versucht seine Spur zu verwischen. Ich meine, wenn nur das Herz herausgerissen ist, wissen wir, dass wir es mit einem Werwolf zu tun haben. Aber wenn eine Leiche dermaßen zugerichtet ist, suchen wir nach etwas anderem. Vielleicht will er seine Spur verwischen…“ Sammy betrachtet den linken Arm einer der Toten, von dem die Hand und ein Stück des Unterarms abgerissen wurde.
„Vielleicht… Auf jeden Fall hat sich da jemand ganz schön ausgetobt.“
„Genau, Sammy. Und wir sind hier, damit dieser Scheißkerl das nicht noch einmal tut!“
IN DER BAR.
Sam und Dean hängen in der Bar herum. Sie spielen Billiard und bemühen sich, die Ortsansässigen nicht allzu unverschämt abzuzocken.
„Und, ihr Jungs seid zum Jagen hier hoch gekommen?“, fragt einer der Mitspieler, ein untersetzter Fünzigjähriger mit einem feisten Grinsen.
„Jiep!“, antwortet Dean ganz in der Manier eines Freizeitjägers. „Wir haben gehört, die Saison sei gut für Luchse und Waschbären.“
„Luchse und Waschbären, ja?“
„Ja“, antwortet Dean mit einem freimütigen Grinsen. „Was gibt’s hier noch so?“
Der schmierige Mitspieler wiegt den Kopf lächelnd hin und her. Dann beugt er sich über den Billiardtisch zu Dean herüber und flüstert: „Man sagt, es lauert eine Bestie in den Wäldern…“
Sammy macht einen auf ganz erschrocken und tritt näher an den Typen heran: „Eine Bestie?“, fragt er ungläubig.
„Ja“, nickt der Schmierling verschwörerisch, „letzte Woche hat es drei von den Jungs erwischt. Es hat sie total zerfetzt.“
„Und wo war das genau?“, fragt Dean. „…nur, damit wir da nicht jagen gehen?“
„Oben am Wise Mans Creek“, nickt ihnen der Schmierige erneut zu und setzt dann den Queue an.
„Dann ist das Jagen ja hier richtig gefährlich?“, versucht Sam das Gespräch fort zu führen.
Aus einer dunklen Ecke tritt jetzt eine große kräftige Gestalt mit Rangerhut an den Billiardtisch heran. „Na, Smokey, suchst du wieder nach Abnehmern für deine Horrostories?“ Er kommt näher und reicht Sam und Dean die Hand. Dann stellt er sich vor: „Jeff Garder, ich bin der hiesige Ranger. Lasst euch von Smokey keinen Mist erzählen.“
„Aber“, wendet sich Sam an Jeff, „was ist denn dran an der Geschichte?“
„Hm“, antwortet der Ranger nachdenklich, „es stimmt schon, es gab letzte Woche drei Tote. Und ja, die Burschen waren ziemlich übel zugerichtet. Aber es handelt sich um den Angriff eines Bären. Ich vermute, die drei sind auf eine Bärin mit ihren Jungen gestoßen. Dann werden die Tiere unberechenbar.“
„Könnte… könnte es sich auch um einen Wolf gehandelt haben? Einen tollwütigen vielleicht?“, hakt Sam nach.
„Nein, nein“, lacht der Ranger jetzt, „ein Wolf entwickelt nicht solche Kräfte! Kommt Jungs, ich lade euch auf ein Bier ein!“
Etwas später hängen Sam und Dean wieder auf dem Gelände beim „Boothrunner’s Club“ herum. Der Plan war, reinzugehen und sich bei den Teens umzuhören. Allerdings hatten sie diese Rechnung ohne den Türsteher gemacht. Der hatte sie mit einem verachtenden Blick gestraft und ihnen klar gemacht, dass sie an ihm nicht vorbei kämen. Er wisse schon ganz genau, welche Sorte Männer er hier vor sich habe, sich in ihrem Alter in Teenie Clubs herum zu treiben. Eine Schande sei das! Sam hatte es gerade noch geschafft, Dean mit sich fort zu ziehen, bevor dieser seine Rechte gegen den Türsteher ausfahren konnte.
„Sammy, sehen wir etwa aus wie Pädophile? Ich meine, sehen wir überhaupt schon so alt aus?“
„Ich fürchte Dean, es gibt kein Eintrittsalter für Pädophilie. Aber ja, Dean, wir sind im Gegensatz zu diesen Teens hier uralt. Und wir müssen uns wohl damit abfinden.“
Dean schnaubt weiter wütend vor sich hin. Er murmelt irgendwelche Verwünschungen und Drohungen gegen den Türsteher und ganz Breston überhaupt. Als Sam es nicht mehr hören kann sagt er: „Los, Dean! Lass uns das alte Wehr und die Mine untersuchen!“
Ginger freut sich, endlich aus dem Wagen zu kommen, und die Jungs begleiten zu können. „Na, mein Mädchen, hast du auf uns gewartet?“, fragt Dean und tätschelt ihr den Kopf. Sammy schüttelt grinsend den Kopf. Die drei nähern sich einer baufälligen Hütte, die über der stillgelegten Mine steht. Sam trägt einen silbernen Dolch und einen Revolver, Dean den Colt und ein kleineres Messer bei sich. Lautlos schleichen sie sich an das Gebäude heran. Plötzlich bleibt Ginger stehen und fletscht die Zähne. Es scheint, als wüchsen ihre Fänge noch in die Länge, und sie wirkt sehr bedrohlich. Sam zeigt mit dem Kopf auf Ginger und nickt Dean zu. Auch die Brüder gehen in Abwehrstellung. Plötzlich öffnet sich die klapprige Holztür der Mine und eine schmächtige Gestalt tritt heraus. Ginger legt die Ohren nach hinten, duckt sich und springt in ein paar Sätzen fauchend auf die Gestalt zu. Die schmächtige Gestalt reagiert sofort und hebt einen Revolver.
„Neeeiiiiinn, Ginger!“, schreit Sam und richtet seinerseits den Revolver auf die heraustretende Gestalt.
„Sam?“, kommt die Frage, und die schmächtige Gestalt lässt den Revolver sinken. Auch Ginger hat in ihrem Angriff inne gehalten und kauert jetzt knurrend am Boden.
Dean leuchtet der Gestalt mit der Taschenlampe voll ins Gesicht. Diese hebt die Hände vor’s Gesicht, um sich vor dem grellen Licht zu schützen. Sammy kneift die Augen zusammen:
„Garth?“, fragt er ungläubig.
Und es ist in der Tat Garth, der hier herum schleicht.
„Hi, Jungs, was macht ihr hier?“, fragt Garth, kommt aber nicht, wie gewohnt, zum Begrüßungsknuddeln auf sie zu.
„Äh, wir jagen einen Werwolf…“, stammelt Sammy verwirrt. „Und du?“
„Ich versuche ihn zu finden, bevor ihr ihn erwischt“, sagt Garth leise.
„Du meinst, du bist einer von ihnen?“, fragt Dean entsetzt.
„Ja“, antwortet Garth. „Aber wir leben anders.“
„Was soll das bedeuten, Garth?“, wendet sich Sam an ihn.
„Das bedeutet, dass wir uns entschieden haben, die humane Seite des Werwolfes zu leben. Wir sind sozusagen Vegetarier.“
„Vegetarier?“, fragt Dean, der noch immer nicht darauf klar kommt, dass der ehemalige Jäger jetzt als Werwolf lebt.
„Ja“, erklärt Garth. „Vor einem Jahr ungefähr habe ich eine Gruppe Werwölfe gejagt, unten in Forks. Dabei bin ich gebissen worden. Einer von ihnen hat mich hinten am Rücken erwischt. Ich hab es erst gar nicht bemerkt. Und als ich es bemerkte, war es schon zu spät. Aber dann bin ich auf eine Gruppe von Werwölfen getroffen, die versucht friedlich zu leben. Da habe ich auch meine Frau Bess kennengelernt,…“
„Du bist verheiratet?!“, ruft Dean entsetzt.
„Ja, ihr müsst sie unbedingt kennen lernen.“
„Ist… ist… deine Frau auch ein… Werwolf?“, fragt Sam vorsichtig.
Garth nickt fröhlich: „Ja, ja klar. Aber wir haben beide diese friedliche Lebensphilosophie.“
„Und… und ihr haltet euch alle daran… immer?“, fragt Dean skeptisch.
Garth greift sich an den Hals, um den er eine kleine Kette mit Anhänger trägt.
„Seht ihr das? Das ist eine kleine Silberkugel, die jeder von uns um den Hals trägt. Sie soll uns daran erinnern, wer wir sind, und dass Silber uns tötet.“
Dean schüttelt den Kopf. „Ich fass es nicht. Ich fass es einfach nicht. Das ist so abgefahren!“
Sam hat sich als erster wieder beruhigt. „Und du sagst, du jagst den gleichen Kerl wie wir?“
Garth zuckt resigniert mit den Schulter. „Sie. Ich jage die gleiche wie ihr. Dieser Werwolf ist ein junges Mädchen. Also, im Großen und Ganzen läuft es immer ganz gut. Wir ernähren uns von Tierherzen. Das ist kein großes Ding. Unsere Kinder werden als Werwölfe geboren. Sie wachsen in unserem Geiste auf. Aber manchmal schlägt böses Blut durch. Dann lehnt sich einer gegen unsere Philosophie auf. Er fällt ab und folgt der dunklen Stimme. Fast immer ist das nur eine Sache von Tagen, vielleicht zwei Wochen. Dann ist es vorbei.“ Garth seufzt tief. „Nicht so bei Mary. Sie ist so etwas wie das schwarze Schaf der Familie. Mit dreizehn begann sie zu revoltieren. Sie war so was wie ein Punk, bezeichnete sich selbst als „Bloody Mary“, entfernte sich für Wochen vom Clan. Sie lehnte alles ab, an was wir glauben. Wir wissen nicht, ob sie auf andere Werwölfe traf. Sie weigerte sich unsere Grundsätze und Regeln zu befolgen. Vor fünf Woche ist sie verschwunden. Seit dem folge ich ihrer Spur.“
„Es gab drei Tote hier im Ort. Die Herzen waren heraus gerissen. Glaubst du, dass sie es war?“
Garth nickt. „Ich bin sicher“, sagt er leise.
„Und du glaubst, dass du sie bekehren und zurückbringen kannst?“, fragt Sam.
„Ich weiß es nicht, aber ich werde es versuchen.“
„Hör mal, Garth, diese Lady ist eine mordende Bestie! Ich werde mir nicht ansehen, wie du auf sie einredest und versuchst sie zur Vernunft zu bringen. Verdammt, Garth, wir sind Jäger! Wir retten Menschen, wir vernichten das Böse!“
„Aber Dean“, wendet sich Garth an ihn.
„Wow, no, no, no! Ich will nichts hören! Es ist schon schlimm genug, so was wie dich akzeptieren zu müssen, komm mir jetzt nicht…!“
„Dean, beruhig dich!“, versucht es Sammy.
„Sie ist noch ein halbes Kind.“ Garth wirkt entmutigt.
Eine Weile schweigen alle drei.
Sammy ergreift als erster das Wort: „Okay. Wie ist der Plan?“
Garth schaut zu Sam. „Die alte Mine dient ihr als Unterschlupf. Ich habe ihre Spuren dort gefunden. Mein Plan ist es, ihr dort aufzulauern. Ich… ich werde versuchen, sie umzustimmen. Sie ist heute nicht gekommen. Also werde ich es morgen wieder versuchen.“
„Wir werden da sein, Garth“, sagt Sammy bestimmt.
ALTE MINE. MITTERNACHT
Sam, Dean und Ginger haben an der alten Mine Stellung bezogen. Dean hat sogar eine Armbrust mit Silberpfeilen dabei. Garth befindet sich ein Stück entfernt, zwischen den Bäumen verborgen. Dean hat zugestimmt, Garth den Vortritt zu lassen. „Aber nur so weit!“, hat er gesagt und sehr deutlich gemacht, dass sie Garth nicht viel Zeit für seinen Umstimmungsversuch lassen werden.
Ginger spitzt die Ohren. Dann legt sie sie nach hinten, fletscht die Zähne und duckt sich auf den Boden. Sam und Dean halten ihre Waffen bereit. Äste knacken. Es raschelt im Gebüsch… Schon werden die Zweige auseinander gebogen. Aus dem Gebüsch tritt ein junges Mädchen. Sie ist vollständig schwarz gekleidet, was ihr langes Haar noch blonder und ihren Teint noch blasser erscheinen lässt. Sie geht auf den Eingang zur Mine zu, als sie plötzlich innehält. Sie hebt den Kopf und schnuppert. Da tritt Garth aus dem Schatten. Mit offenen Händen geht er auf das Mädchen zu.
„Hallo Mary“, sagt er so freundlich, wie möglich.
Das Mädchen fährt zusammen, schnappt nach Luft und faucht.
„Mary, ich…“
„Geh weg! Lass mich in Ruhe!“, ihre Stimme ist wie Fauchen und Knurren.
„Mary, bitte, ich will doch nur mit dir reden…“, sagt Garth, während er weiter auf sie zu geht.
„Bleib, wo du bist! Oder ich werde dich töten“, droht Mary, die jetzt ganz ruhig da steht.
Garth, der unbeirrt weiter auf sie zu geht sagt: „Mary, das bist nicht du selbst, wenn du hungrig bist, du gehörst zu uns Mary! Komm zurück.“
Mary funkelt Garth böse an und beginnt sich zu verwandeln. Ihre Pupillen erweitern sich, aus den Fingern wachsen Krallen, das Gesicht nimmt die Form einer Hundeschnauze an. Sie duckt sich…
Bevor sie sich auf Garth stürzen kann, hat Sam einen Schuss auf Mary abgegeben. Augenblicklich wendet sich die Werwölfin Sam zu. Die Augen auf ihn fixiert duckt sie sich und springt. In dem Moment stürzt sich Ginger auf die Wölfin. Ihr Gebiss wirkt riesig, ihre Fänge lang. Sie verbeißt sich in die Seite der Wölfin. Diese fährt herum und versucht nach dem Hund zu beißen. Das bringt Dean auf den Plan. Er rennt mit der Armbrust näher und schreit:
„Nimm das, du bitch!“ Sein Schuss streift die Wölfin nur. Sie wendet den Kopf und fixiert Dean. Mit einem Satz ist sie bei ihm. Sie stürzt ihn zu Boden, die Armbrust entgleitet Dean, und schon steht sie sabbernd über ihm. „Neeeeiiin!“, schreit Sam und rennt mit dem gezückten Silberdolch auf die Werwölfin zu. Die Wölfin versetzt Dean einen heftigen Schlag mit der Tatze und reißt ihm den Oberarm auf. Dean schreit laut auf vor Schmerz. Blut quillt hervor. Die Wölfin wirft den Kopf in den Nacken und stößt ein triumphierendes Geheul aus. Erneut hebt sie die Tatze, um Deans Brustkorb zu durchdringen. In dem Augenblick beißt Ginger in den Hinterlauf der Wölfin. Sie zerrt an dem Hinterlauf und bringt sie zu Fall. In dem Moment, als die Werwölfin versucht, sich am Boden aus dem Griff von Ginger’s Kiefern zu befreien, stößt ihr Garth einen silbernen Dolch in die Brust. In ihren Augen ist Überraschung und Zweifel zu sehen, als ihr Blick bricht. Ganz langsam verschwindet die Werwölfin, und zurück bleibt die Leiche eines fünfzehnjährigen Mädchens, dass eine Bisswunde am Bein und einen Dolch in der Brust trägt.
„Bist du verletzt, Dean?“, fragt Sam, der zu seinem Bruder gerannt ist.
„Ist nur ein Kratzer, Sammy“, sagt Dean und wird ohnmächtig.
„Du musst ihn zu einem Arzt bringen. Die Wunde sieht nicht gut aus“, sagt Garth, der jetzt auch neben Dean steht.
„Meinst du, dass… ich meine…“, stottert Sam, während er Deans Arm abbindet, um die Blutung zu stoppen.
Garth legt Sammy seine Hand auf die Schulter: „Nein, Sam. Dean ist nicht gebissen worden. Es ist nur eine fiese Fleischwunde. Er wird nicht zum Werwolf.“
Garth blickt auf die Leiche von Mary. Dann macht er eine ausladende Handbewegung. „Sieh zu, dass Dean zu einem Arzt kommt. Ich kümmere mich um das hier.“
Dann tragen sie Dean gemeinsam zum Wagen und legen ihn auf die Rückbank. Ginger springt nach vorne. Sammy gibt Garth die Hand; dann zieht er ihn an sich heran und drückt ihn. „Danke, Garth. Für alles. Mach es gut.“
„Pass auf dich auf, Sam“, sagt Garth und schluckt.
Sam rast in das Stadtzentrum von Breston zurück. Während des Fahrens schaut er nach rechts und links, auf der Suche nach Hinweisen. „Mach schon, mach schon, mach schon. Einen Arzt! Halt durch, Dean, halt durch!“
Links taucht ein Schild auf:
Dr.med.Thornton Beeverstone
Allgemeinmedizin und Naturheilkunde
Sprechstunde: mo – fra. 9.00 – 13.00 Uhr
15.00 – 18.00 Uhr
PRAXIS.BEEVERSTONE
Sammy hat sich den stöhnenden Dean halb über die Schulter gelegt und drückt wie verrückt auf die Klingel. In der oberen Etage wird ein Fenster geöffnet. Ein alter bärtiger Mann streckt seinen Kopf heraus und fragt: „Wo brennt es denn?“
„Sind Sie der Arzt?“, fragt Sam, „Es handelt sich um einen Notfall!“
Dr. Beeverstone poltert im Bademantel die Treppe herunter und öffnet.
„Um was geht es?“, fragt er, und hat gerade noch Zeit den wieder ohnmächtig werdenden Dean aufzufangen.
„Er ist verletzt!“
„Kommen Sie, wir bringen ihn rein!“, weist Beeverstone Sammy an. Sie schleppen Dean bis zur Behandlungsliege und hieven ihn darauf.
„Oh, das zieht aber nicht gut aus“, kommentiert Beeverstone den aufgerissenen Arm von Dean. „War das ein Tier?“
Sammy nickt.
„Ist das ihr Bruder? Können Sie mir assistieren?“, fragt Dr. Beeverstone Sammy.
„Ja“, nickt Sammy. „Klar. Was soll ich tun?“
„Ich werde die Wunde nähen müssen. Zunächst gebe ich Ihrem Bruder eine Betäubung.“
„Ja, aber ist er nicht ohnehin schon bewusstlos?“, fragt Sam.
Beeverstone nickt. „Ja. Aber das sollte er auch besser bleiben.“ Dr. Beeverstone schlüpft aus dem Bademantel und in den Arztkittel. Er desinfiziert sich die Hände und streift Einmalhandschuhe über. Dann setzt er sich zu Dean und legt ihm einen Zugang in den rechten Arm. Er zieht den Tropfständer heran und schließt die Infusionsflasche an. Nachdem er die Tropfgeschwindigkeit erhöht hat, zieht er eine Spritze auf. „Ich injiziere ihm jetzt die Betäubung. Danach werde ich die Wunde säubern und nähen. Der Riss ist ziemlich tief. Ich werde in drei Schichten arbeiten müssen. Da ihr Bruder viel Blut verloren hat, müssen Sie zwischendurch die Ringerlösung wechseln. Sehen Sie, da drüben auf dem Schrank stehen die Flaschen. Holen Sie eine neue herüber und schließen Sie sie an, wenn sich die erste leert.“ Sammy nickt. Er hat verstanden. Dann beginnt Dr. Beeverstone mit der Arbeit.
Die Naht der Wunde zieht sich von der Schulter bis zum Unterarm. Beeverstone wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Geschafft!“, sagt er. „Jetzt muss ich die Wunde nur noch verbinden.“
„Sobald er aufwacht, werde ich ihn untersuchen, und wenn alles in Ordnung ist, können Sie ihn mitnehmen. Wenn nicht,… aber das sehen wir dann. Was macht ihr Jungs denn hier in Breston?“
„Wir sind Jäger.“
„Jäger, so so.“
„Und mit was verdienen Sie ihren Lebensunterhalt im richtigen Leben?“
Sam schluckt und sinnt auf eine plausible Antwort. „Äh, ich bin in der Dienstleistungsbranche tätig.“
„Soso, schön“, sagt Beeverstone und stellt zwei Tassen Tee ab, die er zubereitet hat. Sam greift zu dem Tee und nimmt einen großen Schluck.
„Hm“, setzt Beeverstone an, „ich hab darauf gewettet, dass Sie Schauspieler sind oder so. Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Haben wir uns schon mal gesehen?“
„Ich weiß nicht, Sir.“
Da sich Beeverstone seinerzeit mit Garth in der Bar unterhalten hat, kann sich Sammy wirklich nicht an ihn erinnern. Nur Beeverstone hat die Jungs flüchtig gesehen, weiß aber jetzt nicht, wo er Sammy’s Gesicht einordnen soll.
„Na, ist auch egal. Wir müssen uns die Zeit vertreiben, bis Ihr Bruder aufwacht. Erzählen Sie mir ein bisschen von sich“, muntert Beeverstone seinen Patienten auf. Sam überlegt krampfhaft, was er erzählen soll. Welche Erzählung führt nicht automatisch in die Dämonengasse? Also beginnt er mit seiner Zeit am College. Er erzählt Beeverstone, auch er selbst habe überlegt, Medizin zu studieren, sich dann aber doch für Jura entschieden. Das stimmt zwar überhaupt nicht, aber Sam hofft auf diese Weise Dr. Beeverstone selbst zu einer Erzählung über seine Studienjahre zu bewegen, und so nur zuhören zu müssen.
„Und ihr Bruder? Was macht der?“, bohrt Beeverstone weiter.
Sammy rutscht ungemütlich auf seinem Sessel hin und her. „Dean? Ach, der macht mal dies, mal das.“
„Aha“, konstatiert Beeverstone und stellt aus dem reichen Schatz seiner Lebenserfahrung fest: „Und als Ihr Bruder dann nicht mehr weiter wusste, ist er bei Ihnen aufgetaucht, richtig?“
Obwohl die Umstände ein bisschen anders waren, antwortet Sammy verblüfft: „Stimmt.“
„Und seit dem passen Sie auf ihn auf?“
„Ja. Nein, nein, so ist das nicht. Er ist der ältere…“
„Aber nicht der Vernünftigere?“
Jetzt muss Sammy grinsen. „Nicht immer.“
Sie schweigen eine Weile. Dann fühlt Sam plötzlich die Erschöpfung der letzten Tage. Und da ist noch etwas. Ein Gefühl der Entfremdung, das er nicht zuordnen kann. Vielleicht liegt es auch an der frühen Morgenstunde. Er sagt:
„Wissen Sie, Dr. Beeverstone. Manchmal habe ich das Gefühl, dies sei gar nicht mein Leben. Mein richtiges Leben.“
„Was meinen Sie“, fragt Beeverstone nach.
„Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, ich würde das alles nur spielen. Wie ein Schauspieler… in einem Film. Als sei dieses Leben eine unendliche Abfolge von Serien. Immer wieder die gleichen Themen, die gleichen Leute. Es fühlt sich alles so unwirklich an. Als wäre man nie zu Hause. Ich wünsche mir manchmal, ich würde aufwachen, und befände mich in meiner Villa in Los Angeles. Ich hätte ein richtiges Leben… und dies wäre einfach nur ein schlechter Film.“
Dr. Beeverstone lacht und tätschelt Sam väterlich die Schulter: „Ich glaube, Sie legen die Beine auch noch ein Stündchen hoch. Für eine Midlife crisis scheinen Sie mir noch ein bisschen zu jung.“