Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
Wie von selbst wandern meine Augen über die aus dem Trümmern ragenden Reste der Hauswand, tasten sie nach Vorsprüngen, Löchern, Rissen und anderen Haltepunkten ab. Noch nie ist mir aufgefallen, wie viele mögliche Kletterrouten die Vorderseite eines Hauses bietet: Wer einbrechen möchte, wählt üblicherweise eine schmucklosere Seite, an der man nicht von jedem Passanten beobachtet werden kann.
Probeweise reibe ich die Fingerspitzen aneinander. Mein Tastvermögen und die Kraft meiner Hände sind trotz der Anstrengungen ausreichend. Ich weiß, dass ich es ohne Schwierigkeiten bis zum Fenster im ersten Stock schaffen werde.
Doch dort beginnen die Probleme. Im Innenraum der Ruine befindet sich unter dem Fenster kein Fußboden mehr. Ich müsste mich an der Innenwand entlangschieben, um näher zu dem Gardisten zu gelangen. Das letzte Stück wäre gar mit einem Sprung zu überwinden.
Soll ich es wagen? Wenn ich mich konzentriere und vorsichtig bin, kann ich es schaffen, davon bin ich überzeugt! Doch wird das durch den Brand geschwächte Holz mein Gewicht tragen?
Da wird mir alles klar. Endlich verstehe ich!
Vertrau auf dein eigenes Können. Hilf dir selbst, dann hilft dir Phex!
Ich weiß, dass ich zu dem Gardisten gelangen kann. Ich vertraue auf meine Fähigkeiten. Wenn ich diese Herausforderung annehme, hilft mir er Listige mit einem Quäntchen seines Glücks! Im besten Fall rette ich den Mann, im schlimmsten Fall, wenn ich die Schwierigkeit der Kletterei unterschätzt habe, werde ich den Sturz zumindest überleben!
Entschlossen trete ich an die Außenmauer, stelle einen Fuß auf einen Vorsprung, taste mit beiden Händen nach weiteren Haltepunkten und ziehe mich das erste Stück hinauf.
Die Kommandantin und die Helfer befinden sich ausnahmslos in der Ruine, sodass niemand meine Aktion bemerkt, bis ich mich nach einer Minute in den angekokelten Fensterrahmen im ersten Stock schwinge. Kurz sehe ich mir die zuvor geplante Route entlang der Innenwand an, korrigiere sie an einigen Stellen und mache mich entschlossen, aber ohne Hast auf den weiteren Weg. Die Stimmen vom Boden, wo man mich inzwischen entdeckt hat, blende ich aus, fokussiere mich nur auf mein schnelles, aber sicheres Vorankommen.
Die Innenwand war fein verputzt, sodass das Klettern hier bedeutend schwieriger ist als an der Außenmauer. Meine Finger prüfen jeden Vorsprung, jede Lücke sorgfältig, bevor ich ihnen mein Gewicht anvertraue, die Kraft meiner Hände nutze, um mich an der Wand zu halten. Schweiß sammelt sich zwischen meinen Schulterblättern und rinnt über meinen Rücken. Ich bin noch nicht wieder so stark wie vor der erzwungenen Bettruhe, doch ich weiß, dass meine Kräfte ausreichen.
Dann erreiche ich die Stelle, an der ich nicht weiterkomme.
In Gedanken bete ich zu Phex, wie er Gebete am liebsten mag, biete dem Listigen einen Handel an. ‚Listenreicher, schenk mir ein wenig von deinem Glück! Ich werde diesen Gardisten retten, wenn du meinen Sprung gelingen und das Holz nicht brechen lässt. Er wird dir zu Dank verpflichtet sein!‘, formuliere ich – dann stoße ich mich mit aller Kraft von der Wand ab und springe auf die verkohlten Balken hinüber.