Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
Mit den Fußspitzen berühre ich die schwarzen Stümpfe der stabilen Bohlen, dann lasse ich mich der Länge nach zu Boden fallen.
Erst die erschrockenen Laute der Leute unten machen mir klar, dass man meine Aktion in angespannter Stille verfolgt hat. „Alles in Ordung“, presse ich daher halblaut hervor, während ich mich vorsichtig auf allen vieren in Richtung der unbeschädigten Bodendielen bewege. Es wäre töricht gewesen, nach dem Sprung auf den Füßen zu landen und die ohnehin schon bedenklich ächzenden Balken an nur einem Punkt zu belasten. Lieber verteile ich mein Gewicht!
Ich verliere keine Zeit, richte mich auf, sobald ich der Stabilität des Bodens traue, und eile zu dem Gardisten. Er hängt nur noch mit den verbrannten, blutigen Fingerspitzen in dem Riss, den Phex ihm schenkte.
Erneut werfe ich mich auf den Boden, schiebe mich bis an die Bruchkante und packe fest seine Handgelenke.
„Ich hab dich“, keuche ich, als die Last seines Körpers an meinen Armen und Schultern zieht, die Oberarme schmerzhaft gegen die gesplitterte Kante presst.
Ich bezweifle, dass der Gardist mir zuhört, denn er nimmt mich vor lauter Panik kaum wahr. Todesangst flackert in seinen weit aufgerissenen grauen Augen, als seine Finger den letzten Halt verlieren und nur mein Griff ihn noch vor dem Sturz bewahrt.
Erst in diesem Moment realisiert er, dass ich wirklich da bin. Sein Blick fokussiert sich, und ungläubig schaut er zu mir herauf. Ich schenke ihm trotz der Anstrengung ein Lächeln.
Als wäre dies ein Kommando, strafft sich sein Körper, Kampfwille und Disziplin kehren in seine Augen zurück und er umschließt auch meine Handgelenke fest. Den Göttern sei Dank! Allein, ohne seine Mithilfe, wäre es mir unmöglich, ihn zu retten. So haben wir immerhin eine Chance!
Wenn ich ihn hochziehe, wird er sich trotz seiner schützenden Uniform einige Verletzungen an der Bruchkante zuziehen. Doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Auch meine Kräfte schwinden langsam: In meinen Oberarmen spüre ich zahlreiche Splitter, die sich in Haut und Muskeln bohren, das Ziehen in der Narbe wird immer intensiver und die Anstrengung treibt meine Muskulatur immer weiter zu unkontrollierten Krämpfen. Wir müssen es jetzt versuchen!
„Hochziehen wird verdammt wehtun“, informiere ich ihn.
Er nickt nur, Entschlossenheit im Blick. „Besser als der Sturz“, antwortet er heiser.
„Wartet!“ Die Stimme der Kommandantin lässt uns innehalten. Über die Schulter des Gardisten sehe ich zu ihr hinunter.
„Gleich kommt eine Leiter. Haltet noch einen Augenblick durch! Wir holen euch da runter!“ Sie lächelt, wie um mir Mut zu machen.
Bisher waren ihre Entscheidungen alle umsichtig und durchdacht. Ich beschließe, ihr zu vertrauen, und bereite meinen Körper darauf vor, das Gewicht des Gardisten noch ein paar Augenblicke länger zu tragen.
Es dauert einige Minuten, bis die Leiter, die dieses Mal – den Göttern sei Dank! – lang genug ist, sicher steht und jemand mir den Gardisten abnimmt.
Nur mit Hilfe der anderen gelingt es mir, meinen inzwischen völlig verkrampften Griff zu lösen. Meine Arme und Schultern sind längst taub und kaum kontrollierbar. Ich musste so oft nachgreifen, weil der Mann mir zu entgleiten drohte, dass auch meine Finger sich kaum noch bewegen lassen, und doch fühle ich mich großartig! Es hat funktioniert!
Hilf dir selbst, dann hilft dir Phex!
Ob es eine Belohnung für meine Erkenntnis oder für meine Tat ist, weiß ich nicht, doch in genau diesem Moment spüre ich die Nähe meines Gottes. Einer sanften Berührung gleich streift er meine Seele, hinterlässt ein Echo seiner Freude, seines Wohlwollens, und überlässt mir von seiner Karmalenergie.
Überwältigt von den Ereignissen dieses Abends rolle mich auf den Rücken, ein Stück von der gefährlichen Kante fort, und lache meine Freude erst leise, dann immer lauter aus mir heraus.
„Wollt Ihr nicht runterkommen?“ Die amüsierte Stimme der Kommandantin erklingt ganz in meiner Nähe und ruft mich in die Wirklichkeit zurück. Sie ist höchstpersönlich die Leiter hinaufgestiegen, um nach mir zu sehen.
Trotz meiner guten Laune ist mir durchaus bewusst, dass ich mich in dieser Ruine immer noch in Gefahr befinde. Doch die Lähmung, die mich von den Schultern an erfasst hat, macht es mir unmöglich, die Leiter hinunterzusteigen.
„Meine Arme sind taub“, erkläre ich ihr ernst. „Ich kann nicht greifen.“
Sie nickt nachdenklich, lächelt dann aber wieder. „Egal. Eure Beine werden genügen – ich passe auf Euch auf. Wir sollten das Gebäude so schnell wie möglich verlassen.“
Sie hat sich so gut im Griff, dass ihre Stimme völlig ruhig klingt, obwohl sie um die Instabilität dieses Gebäuderests und die daraus entstehende Dringlichkeit unseres Verschwindens weiß.
Wieder steigt der Respekt, den ich für sie empfinde. Er hilft mir, auch mich zusammenzureißen: So sehr sich alles in mir gegen Nähe sträubt, ich nehme ihre Hilfe beim Hinuntersteigen an, obwohl ich sicher bin, dass sie mich dabei berühren wird.
Und ich behalte Recht: Sie hält sich stets nur eine Sprosse unter mir, greift direkt neben mir die Holmen, sodass ich nicht abstürzen kann. Ihr Körper drückt sich dabei immer wieder an meinen Rücken, stützt mich, der ohne den zuverlässigen Griff der eigenen Hände den Abstieg wagen muss. Ich fühle mich zwischen ihr und der Leiter förmlich eingesperrt, und es erfordert all meine Konzentration, die aufkeimende Panik zu unterdrücken. Zweimal bin ich kurz davor, umzukehren und wieder hinaufzusteigen, nur, um der schrecklichen Nähe zu entgehen, doch mit aller Willenskraft zwinge ich mich zum weiteren Abstieg. Wir müssen hier raus!
Kaum erreiche ich zitternd und mit rasendem Herzschlag das Erdgeschoss, bringe ich hastig großen Abstand zwischen die Kommandantin und mich. Wenn es nach mir geht, war das genug Körperkontakt für das gesamte restliche Jahr!
Sie interpretiert meine Flucht anders. „Ja, nichts wie raus hier“, stimmt sie zu und eilt mir nach zur Straße.
Nur einen Augenblick nachdem wir die Ruine verlassen haben, ertönt ein bedrohliches Knacken. Vor unseren ungläubigen Augen neigt sich langsam der Boden des ersten Stocks, auf dem wir uns gerade noch befanden, und bricht dann mit Getöse herunter, wirbelt Unmengen an Asche auf und reißt ein weiteres Stück der Hauswand mit sich in die Tiefe. Die Leiter ist verloren.
Fassungslos starre ich auf das Chaos und lasse mich auf meine weich gewordenen Knie sinken – unsere Flucht gelang so knapp, dass es kein Zufall gewesen sein kann!
„Danke, Phex“, hauche ich ergriffen. Es kommt mir vor, als habe er die Überreste des zerstörten Hauses persönlich gestützt, so lange wir uns darin befanden.
Die Kommandantin, die meine Worte offenbar gehört hat, sieht mit einem wissenden Lächeln auf mich herunter.
„Das war eine beeindruckende Leistung“, sagt sie leise. „Danke, dass Ihr meinen Kameraden gerettet habt. Wofür Fassadenkletterer nicht gut sein können ...“
Sie hat also einen Verdacht, was meine Profession angeht? Ich sehe mit unschuldig fragender Miene wortlos zu ihr auf. Ich werde ihren Irrtum weder bestätigen noch korrigieren – mein vieldeutiges Lächeln darf sie interpretieren, wie sie will.
Sie lacht und spricht in normaler Lautstärke weiter. „Ich habe Euch braven Bürger nun lange genug beansprucht. Ihr solltet zu Eurer Unterkunft zurückkehren und lange und ausgiebig schlafen – Ihr habt es Euch redlich verdient!“
Dann beugt sie sich zu mir hinunter und flüstert: „Ich werde dem Fuchs an seinem Schrein ein Dankesopfer für Eure Hilfe bringen.“ Mit einem verschwörerischen Zwinkern verabschiedet sie sich und kümmert sich wieder um ihre Gardisten.
Ich sehe ihr schmunzelnd hinterher. Mit dem Ruf eines braven und redlichen Bürgers kann ich leben! Wie es scheint, muss ich die Regeln zum phexgefälligen Boltanspiel ein wenig erweitern: Man kann die Meinung von Gardisten nicht nur mit Silbermünzen zum eigenen Vorteil verändern.