Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
Hat er Recht?
Die Dunkelheit und die relative Stille bieten mir Schutz vor Ablenkung, so dass ich mich mit den durch meinen Kopf irrenden Gedanken beschäftigen kann. Ich muss Ruhe und Klarheit in sie bringen – also eins nach dem anderen.
Habe ich mir zu viele Freiheiten herausgenommen? Phex verlangt doch von seinen Geweihten, dass wir eigenständig denken und Entscheidungen treffen! Was war an meiner Aktion also falsch? Die Händler auf dem Marktplatz hatten gesagt, dass Burkherdall arrogant ist – ihm eine Lektion zu erteilen müsste demnach in Phexens Interesse liegen. Warum hätte ich warten sollen?
Oder hat die Ungeduld meine Wahrnehmung so verzerrt, dass ich nur glaubte, Phexens Willen zu erfüllen? Hat er mir deshalb nicht geholfen?
Moment! Mein unbekannter Besucher sagte, Phex hat mir durchaus geholfen. Wo hatte ich also überall Glück?
Eigentlich andauernd. Ich konnte die erste Wache ausschalten und sie starb nicht, als sie gegen die Mauer stürzte. Ich habe wider Erwarten die zweite Wache ohnmächtig geschlagen. Der Dolchstoß hätte mich umbringen können – hat er aber nicht. Die dritte und vierte Wache ließen mich liegen und ermöglichten mir so die Flucht. Das Efeu bot mir ausreichenden Halt, obwohl ich verletzt und ungeschickt war. Der Regen verwischte meine Spuren. Ich hielt lange genug durch, um mich ein Stück vom Anwesen zu entfernen. Ich wurde rechtzeitig gefunden – von zwei Männern, die freundlich und ausreichend kräftig waren, um mich zum Perainetempel zu tragen. Dort fand sich sofort eine Geweihte, die sich um mich kümmerte.
Oh, Phex! All diese Glücksfälle ... das war kein Zufall. Obwohl ich mich durch meine Ungeduld in ein solches Schlamassel gestürzt habe, ist letztendlich alles glimpflich ausgegangen.
Reue überkommt mich und mein Gesicht brennt vor Scham. Wie konnte ich nur an meinem Gott zweifeln? Er hat mir so viel von seinem Glück überlassen, mein Leben bewahrt – es stand einer gegen vier! Wie wäre es mir wohl ohne seine Hilfe ergangen?
Wird er mir verzeihen? Welche Buße kann ich für diesen gigantischen Fehler leisten?
Sei froh, wenn die Wunde die einzige Strafe ist, die du davonträgst. Die Worte des unbekannten Besuchers fallen mir ein. Ja, der Schmerz muss die Strafe für meinen fehlenden Glauben und meine Arroganz sein.
Ich werde bestraft. Der Gedanke erleichtert mich zutiefst.
Erst nach Strafe kann ein Fehler vergeben werden, das weiß ich, und ich nehme die durch diesen Schmerz auferlegte Buße für mein Versagen dankbar an. Um zu beweisen, dass ich es ernst meine, spanne ich die Bauchmuskeln und drücke mit den Fingerspitzen auf die Wunde, intensiviere die Empfindungen, heiße die sengenden Qualen, die mich unterdrückt aufstöhnen lassen, willkommen. Sie erfüllen meinen Geist, fokussieren mich auf das Hier und Jetzt, blenden Zweifel und Emotionen aus.
Strafe ermöglicht Vergebung.
Mit einem Lächeln spüre ich dem Schmerz nach, der sich von der Wunde ausgehend in meinem Körper ausdehnt. Mit ihm breitet sich auch Frieden in meinem Innersten aus und meine galoppierenden Gedanken kommen zur Ruhe. Endlich werde ich wieder einschlafen können.