Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
Zwei Tage sind schon vergangen, seitdem ich mein Diebesgut zurück zu seinem Besitzer gebracht habe. Zwei Tage, in denen ich mich in Geduld übe und auf ein Zeichen meines Gottes warte.
Mit jeder Stunde, die ich ohne Aufgabe bin, werde ich unruhiger. Es ist inzwischen ein Ritual geworden, die aufkeimende Ungeduld durch eine leichte Berührung der immer noch heilenden Narbe zu besänftigen, meiner spürbaren Erinnerung daran, dass warten zu können eine Tugend ist.
Am Nachmittag des zweiten Tages weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen. Ich habe meine Kleidung gereinigt, Alfons gebürstet, sogar im Stall ausgeholfen, war spazieren und ein wenig trainieren.
Ich beschließe, den hiesigen Phex-Schrein zu besuchen, nur, um mich meinem Gott ein wenig näher zu fühlen. Natürlich halte ich mich an meinen Vorsatz und bleibe geduldig, bis der Listige mir offenbart, was seine weiteren Pläne mit mir sind. Ich nehme mir die Worte des Fremden, der mich im Perainetempel besuchte, zu Herzen und lasse mich nicht mehr zu unüberlegten Handlungen hinreißen. Als die Ruhe selbst werde ich am Schrein ein wenig meditieren, um mich meinem Gott ein wenig näher zu fühlen.
Und falls ich ihm dadurch wieder ein wenig ins Gedächtnis gerufen werde, ist das sicherlich auch kein Fehler.
Der Warunker Schrein befindet sich unter einem von vier Stützpfeilern getragenen Dach. Die Seiten werden jeweils von Hauswänden begrenzt, doch von der Straßenseite aus ist er über zwei Stufen frei zugänglich. Nach hinten schließt sich ein kleiner, relativ verwilderter Garten an, in dem an von der Straße aus nicht einsehbaren Stellen Bänke platziert wurden.
Unwillkürlich heben sich meine Mundwinkel zu einem Schmunzeln. Der Garten gehört nicht wirklich zum Schrein. Er scheint mir mehr ein möglichst sinnvoll genutztes Überbleibsel des Grundstücks zu sein, auf dessen Straßenseite das Dach errichtet wurde. Die gut versteckten Sitzgelegenheiten werden wohl nur selten von Betenden wie mir, sondern vermutlich eher von Paaren verwendet, die sich, wenn überhaupt, nur wegen einer Bitte für den Gott des Glücks interessieren: Man möge sie hier, im Schutz der Sträucher, nicht zusammen erwischen ...
Bevor ich mich an eine ruhige Stelle zurückziehe, nähere ich mich dem eigentlichen Schrein. Unter den verschiedenen Gaben, die für den Listigen dort abgelegt wurden, entdecke ich viele Münzen, einige geschnitzte Fuchsfiguren, zwei Halsketten und ein paar Ringe.
Dann wird mein Blick von etwas Ungewöhnlichem angezogen: Steine beschweren die vier Ecken eines Schriftstücks, das für jeden sichtbar auf der polierten steinernen Oberfläche liegt. Mein Erstaunen wächst, als ich lese, was dort geschrieben steht. Angeblich handelt es sich dabei um die phexgefälligen Regeln für das Boltanspiel, verfasst von einem gewissen Alrik aus Meilersgrund.
1. Halte dich an die Regeln.
Sicherlich kein schlechter Ratschlag.
2. Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, sorge dafür, dass keiner merkt, dass du dich nicht an sie hältst.
Ich unterdrücke ein Lachen. Das sind weise Worte! Jetzt verstehe ich, warum dies die phexgefälligen Regeln sind.
3. Für den Fall, dass es doch jemand merkt: Behalte einen Trumpf in der Hinterhand.
Ernst nicke ich. Auch das ist ein guter Rat, und nicht nur beim Boltanspiel.
4. Vermeide das Falschspiel, damit du auf Regel 2 und 3 nicht angewiesen bist. Phex zu folgen, heißt nicht zwangsweise zu betrügen, sondern auf sein eigenes Können zu vertrauen. Nur Schlitzohren ohne Gottvertrauen spielen falsch.
Phex zu folgen heißt, auf sein eigenes Können zu vertrauen ... Diese Regel berüht etwas in meinem Verstand, das ich noch nicht greifen kann. Ich nehme mir vor, darüber nachzudenken.
5. Lege dich nie mit den Almadanern, den Tobriern oder der Alten Gilde an. Die sind eine Nummer zu groß für dich.
Überrascht hebe ich die Augenbrauen. Warum sind wir Almadani und die Tobrier eine Nummer zu groß für alle anderen? Und was ist diese Alte Gilde?
6. Habe immer ein paar zusätzliche Silbertaler für die Stadtgarde eingesteckt. Wenn es Ärger gibt, kann ein Gardist dein bester Freund oder dein schlimmster Feind sein.
Bestechlichkeit ... ja, das ist wahr. Die Wache, die mich im Garten der Burkherdalls gestellt hatte, rief nicht nach ihren Kameraden. Ich nahm an, sie wollte den Ruhm für sich alleine – wäre sie auch für einen Anteil an der Beute bereit gewesen, mich ziehen zu lassen? Ich sollte diese Option bei zukünftigen Vorhaben bedenken!
7. Halte dich an den Leitsatz: Hilf dir selbst, dann hilft dir Phex.
Nachdenklich betrachte ich die letzte Regel. Dieses Sprichwort habe ich schon häufig gehört, doch noch nie über seinen tieferen Sinn nachgedacht. Was genau ist damit gemeint?
Kopfschüttelnd trete ich hinter den Schrein und setze mich auf die Stufen, die zum Garten hinunter führen. Ich bin hier, um zu meditieren, nicht, um über das Boltanspiel nachzudenken.
Entspannt lehne ich den Kopf nach hinten und schließe die Augen. Das kühle Gestein des Schreins in meinem Rücken vermittelt mir ein Gefühl von Sicherheit, daher fällt es mir leicht, meinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Hier zu meditieren fühlt sich trotz der herbstlichen Temperaturen richtig an.
Sofort drängen sich die Erinnerungen an das gestrige Abenteuer an die Oberfläche meines Bewusstseins. Die Verkleidung. Die Verstellung. Die simulierte Krankheit. Die Flucht, die nicht nach einer aussah. Der Stolz, der mich ob des Erfolgs erfasste.
Dann springen meine Gedanken zu den Boltanregeln.
Erstaunt reiße ich die Augen auf. Das ist es! Das haben die Regeln in mir angestoßen – endlich habe ich es verstanden!
Vertrau auf dein eigenes Können. Hilf dir selbst, dann hilft dir Phex! Oder anders ausgedrückt: Stürze dich nicht unüberlegt in Dinge, von denen du nicht weißt, wie du sie ohne göttliche Hilfe bewältigen kannst. Wenn du so handelst, schenkt dir Phex sein Glück und bewahrt dich vor unseligen Missgeschicken.
Diese Eigenverantwortlichkeit ist ein wichtiger Teil des Phex’schen Gottvertrauens, den ich bisher falsch interpretiert hatte. Tiefe Zufriedenheit erfasst meine Seele, als ich zu dieser Erkenntnis gelange.
Ich lächle glücklich ob dieser Empfindung, denn ich spüre genau, dass es nur zum Teil meine eigene ist. Jetzt bin ich mir sicher, dass Phex mir meinen Fehler verzeiht und das vertrauensvolle Warten mir von nun an leichter fallen wird.