Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
Unglaube liegt in den Gesichtern, die sich der Kommandantin zuwenden.
„Warum?“, ringt sich schließlich jemand zu der Frage durch, die sich alle zu stellen scheinen.
Mir ist die Antwort klar: Wir können nichts tun, außer uns selbst in Gefahr zu bringen. Möglicherweise lösen sich weitere Treppenreste, oder der Mann fällt und begräbt eine Person unter sich. Der Schutt, der auf dem Boden des Erdgeschosses verteilt ist, ist kantig, heiß und teilweise spitz. Ein Sturz wäre tödlich. Und er ist absehbar – die Hände des Gardisten rutschen langsam, aber sicher vom Pfosten ab. Noch kann er immer wieder nachgreifen, doch das wird nicht mehr lange gut gehen. Er kann sich aus seiner Position nicht nach oben ziehen.
Ein Gedanke schießt durch meinen Kopf: Ich verfüge noch über einen letzten, kleinen Rest göttlicher Energie! Ein Glückssegen kann ich nicht für den gefährdeten Gardisten sprechen, denn dafür müsste ich ihn berühren, doch ich kann, was niemand so gut vermag wie wir Geweihten: Ich kann beten!
Phex ist der einzige der Zwölfe, der auch Gebete und Liturgien erhört, die nur im Geiste formuliert werden – ein Umstand, der geheimen Phexgeweihten wie mir häufig entgegenkommt. Doch dieses Mal will ich ganz sichergehen, dass der Listige mich hört. Nervös presse ich beide Handflächen aneinander, hebe sie an die Lippen, um einerseits meiner Sorge Ausdruck zu verleihen und die Mundbewegungen vor den Umstehenden zu verbergen, und flüstere: „Listenreicher, ich bitte dich, schenke diesem Mann dort etwas von deinem Glück! Ich weiß, dass ich nicht nahe genug bin, um die Liturgie selbst zu wirken, doch bitte nimm die Kraft, die du mir verliehen hast, im Austausch für den von dir persönlich gewährten Segen!“
Mein Gebet wird erhört! Mit einem Schlag verlässt mich alle Karmalenergie, die ich noch in mir trug, und hinterlässt ein schreckliches Gefühl der Leere und Machtlosigkeit.
Das Gefühl der Hilflosigkeit ist so fremd und intensiv, dass es mir die Kehle zuschnürt. Ich kämpfe gegen diese Empfindung an, schlucke und richte meine Augen hoffnungsvoll wieder auf den Gardisten, der immer noch wimmernd vor Angst über der Leere hängt.
Da reißt eine der Bodendielen vor dem Treppenabgang auf. Alle zucken vor Schreck zusammen, befürchten den Sturz des Kameraden. Doch dem Knall des reißenden Holzes folgt kein weiteres unheilträchtiges Geräusch, und der entstandene Spalt ist breit genug, dass der Mann seine Finger hineinschieben und die Diele packen kann, was er schnell erkennt und den besseren Halt nutzt.
Ein Aufatmen geht durch die Menge. Ich schaue in ihre Richtung und begegne dabei dem Blick der Kommandantin. In ihren Augen lese ich dieselben Gedanken, die auch mich beschäftigen: Der Riss verschafft dem Mann nur ein wenig mehr Zeit. Er wird sich nicht ewig dort halten können.