Dies ist eine Fortsetzung! Die Geschichte beginnt hier: https://belletristica.com/de/books/17559-writeinktober-2019/chapter/65204-01-gold
„Ihr beide!“
Die Kommandantin hat den Schrecken überwunden. Ihre zielstrebige Art und ihre feste Stimme wecken auch die anderen Anwesenden aus ihrer Starre. Sie sehen sie mit einem Gesichtsausdruck an, der verrät, wie froh sie sind, dass jemand die Initiative ergreift, ihnen sagt, was sie tun können. Sie wollen helfen – doch ohne klare Anweisungen sind sie dazu nicht in der Lage. Begierig drängen sie sich um sie, folgen jeder ihrer Bewegungen mit den Augen, warten auf ihren Befehl. Ganz vorne stehen die beiden Angesprochenen.
„Ihr geht in diese Richtung die Straße hinunter. Klopft überall – wir brauchen eine Leiter!“
Die beiden nicken eifrig und wollen losstürmen, als ihre Stimme sie für einen weiteren Moment aufhält.
„Halt! Achtet darauf, dass die Leiter lang genug ist – wir müssen bis in den ersten Stock hinauf! Jetzt los!“
Sie sendet zwei andere mit derselben Anweisung in die entgegengesetzte Richtung, bevor sie sich mit klarer, fester Stimme an die übrigen Anwesenden wendet.
„Alle anderen räumen den Schutt zur Seite! Wir brauchen Platz, um die Leiter aufzustellen! Achtet dabei immer auf Trümmer von oben!“
In ihren Augen spiegelt sich Entschlossenheit. Sie wird alles versuchen, den Gardisten zu retten, ohne dabei allerdings das Leben der übrigen Helfer aufs Spiel zu setzen. Die Befehle, die sie gibt, sind durchdacht und mit so fester Stimme vorgebracht, dass niemand daran zweifelt, dass sie einen Plan hat. Der Respekt, den ich zuvor schon vor ihr verspürte, wächst noch weiter.
Ich lasse den Blick über die hektischen, aber geordneten Aktivitäten der anderen wandern. Mit Schaufeln, Heugabeln und behandschuhten Händen ziehen und zerren sie an den heißen Schuttstücken, bahnen sich einen Weg unter die ehemalige Treppe. Die Kommandantin ist stets in der Nähe, gibt ihnen Richtungen vor und spricht mit dem zitternden Gardisten, der inzwischen aufgehört hat, zu strampeln. Nur ein leises Schluchzen schüttelt gelegentlich seinen Körper, und die Spannung seiner Muskeln lässt zusehends nach.
Der Anblick ernüchtert mich. Die anderen werden es nicht rechtzeitig bis zu ihm schaffen. Seine Kraft versiegt. Man müsste ihn hochziehen – wo bleibt die Leiter?
Als sei der Gedanke ein Stichwort gewesen, kommen aus einer Richtung zwei der Ausgesandten zurück – zwischen sich tragen sie eine roh zusammengezimmerte, offenbar schwere, aber lange Leiter! Sofort springen Leute herbei, helfen beim Positionieren und Aufstellen ... und schreien ihre Frustration lautstark heraus, als die Holme knapp den halb zerstörten Zwischenboden verfehlen. Die Leiter ist nur wenige Fingerbreit zu kurz!
Für einen Augenblick ist es still, während alle entsetzt auf die Leiter starren. Dann kehrt die vorige Hektik zurück. Noch verbissener als zuvor wird der Schutt fortgeräumt, dabei ist die Lage für den Mann nun eigentlich hoffnungslos. Wie sollte man ohne Hilfsmittel zu ihm in den ersten Stock gelangen? Selbst für Fassadenkletterer wäre das eine Herausforderung ...
„Sicher, dass du dich der Spionage verschreiben willst? Deine Fähigkeiten würden auch einen guten Dieb oder Fassadenkletterer aus dir machen!“
Mit ätherischer Klarheit wiederholt Rakos Stimme in meinem Kopf diese Worte, die ich vor langer Zeit aus seinem Mund gehört habe. Hoffnung erfasst mich. Fassadenkletterer – warum bin ich nicht schon früher darauf gekommen?