Heute war der Tag. Definitiv.
Zeitiger aus der Uni weg: Check.
Auf dem Rückweg noch alles Notwendige einkaufen: Check.
Ein Abstecher zur Apotheke, um für alle Fälle gerüstet zu sein: Check!
Wenn ich jetzt noch meine wobbeligen Beine und mein rasendes Herz unter Kontrolle bekäme, wäre das zu schön.
Also reiß dich zusammen, Johannes! Wozu hast du dir sonst die ganze letzte Woche die Nächte um die Ohren geschlagen, um alles ordentlich vorzubereiten?
Klar, es war Mittwoch und morgen musste ich wieder zur Uni. Und Rob auch. Aber ich wollte ja auch nur den nächsten Schritt gehen und nicht die nächsten zwanzig. Und heute war ich nun einmal mit Kochen dran. Also los!
Es war erst 15 Uhr, als ich die Tür zu unserer Wohnung aufschloss. Rob würde noch bis 17 Uhr in der Uni sein, genug Zeit, um alles vorzubereiten und …
»Nein, doch nicht so, du Doofi!«, schallte es aus unserer Küche. Mir fiel vor Schreck fast der Schlüsselbund aus der Hand. Abgesehen davon, dass unsere Wohnung in angenehmer ausgestorbener Stille daliegen müsste, war das nicht Robs Stimme gewesen. Aber was, zur Hölle, machte ein Kind hier?!
Frieda kam mir maunzend entgegen, doch ich schob sie vorsichtig mit dem Fuß beiseite und stakste in die Küche.
Am Tisch saßen Rob und ein vielleicht sechsjähriges Mädchen. Und vor ihnen lag ein ganzes Batallion an Kastanien, Kastanienschalen und Zahnstochern. Rob hatte einen Handbohrer in der Hand und verpasste einer großen Kastanie gerade ein Loch. Scheinbar an der falschen Stelle, denn das Mädchen rief noch einmal laut: »Neeeeiiiin, da doch nicht!«
Ich stand wie vom Donner gerührt im Türrahmen.
»Ach, hallo Jojo! Du bist aber früh zurück!« Rob grinste mich an, als wäre es genau das, was man in so einer Situation tat.
Das Mädchen wandte sich zu mir um, musterte mich mit misstrauischem Blick und entschied dann scheinbar, dass das Kastanienmännchen wichtiger war als irgendein unbekannter Typ, der sie anstarrte wie einen Geist.
»Sag mal, was … wer … wieso ist dieses Kind hier?!«
»Ich hatte dir doch gesagt, dass ich heute auf meine Nichte aufpassen muss, bis meine Schwester von ihrem Termin wieder da ist.«
»Deine Nichte?!«, echote ich.
»Ja! Das ist Samantha.«
»Wann hast du mir das bitte erzählt?«, fragte ich, ohne das Kind zu begrüßen.
»Na, letzte Woche! Zweimal. Und vorgestern! Du hast gesagt, dass es kein Problem wäre. Ich war heut nur zur Mittagsvorlesung und hab danach Sammy abgeholt. Sag nicht, dass du das komplett vergessen hast, Jojo?«
Offensichtlich. Und offensichtlich hatte ich nicht einmal den Hauch einer Erinnerung an auch nur eine dieser Unterhaltungen. Klasse, Johannes! Was für ein überaus beschissenes Timing.
»Sammy, sag ordentlich Hallo zu Jojo. Er wohnt mit deinem Onkel zusammen, weil wir gemeinsam zur Hochschule gehen.«
»Hallo«, kam es einsilbig von Samatha zurück und sie fixierte mich wieder misstrauisch.
»Hallo«, erwiderte ich und fühlte mich wie von einer Planierraupe überrollt. Ausgerechnet heute. Warum hatte mein Hirn diese überaus wichtige Info nicht abgespeichert? Vermutlich, weil sie komplett an ihm vorbeigerauscht war, während es mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war. Wie der Planung dieses Abends mit Rob. Zu zweit. Als Paar. Oder der mentalen Vorbereitung auf das, was ich dafür geplant hatte.
Und das sollte jetzt alles für die Katz gewesen sein? Meine Laune sank auf den Tiefpunkt.
»Willst du mitbasteln, Jojo? Wir wollen nachher ja Pizza machen und bis dahin dachte ich, kriegen wir bestimmt eine ganze Kastanienmännchen-Mannschaft zusammen.«
»Ach, na ja … eigentlich … Ich hab noch ein paar Sachen eingekauft, die müssen in den Kühlschrank … und …« Mein Versuch, der Situation auszuweichen, scheiterte an Robs Blick, der mit jedem Wort trauriger wurde. Mann, ich war auch traurig und der merkte es nicht einmal!
»Räum doch schnell den Kram weg und dann setz dich dazu. Sammy freut sich bestimmt, wenn du uns hilfst, oder?«
Den Kram!
Samantha schaute von ihrer Kastanie auf, in die sie gerade einen Zahnstocher gespießt hatte, guckte ihren Onkel an, dann mich und dann nickte sie grinsend. Dabei entblößte sie eine ansehnliche Zahnlücke in ihrem Unterkiefer.
Ich seufzte und massierte meine Augen. »Ja, ja, schon gut. Lasst mich nur schnell alles wegräumen und dann mache ich mit.«
Rob und Sammy strahlten und ich fügte mich in mein Schicksal. Was blieb mir auch anderes übrig.
Nach einer Stunde hatten Rob und Sammy eine ganze Armee an Kastanienmännchen gebastelt. Ich hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht – schließlich konnte dieses Kind nichts dafür, dass mein Hirn offenbar nicht multitaskingfähig war – und hatte immerhin vier ganz ansehnliche Kastanienklopse gebaut. Auch wenn Rob ausgelassen und fröhlich wirkte und ich diesen Anblick normalerweise genoss, hätte ich mich am liebsten mit einem oder zehn Bier in mein Zimmer verzogen. All der Mut, den ich in den letzten Tagen zusammengekratzt hatte, all die Gedanken, die ich mir gemacht hatte … sollte das umsonst gewesen sein? Ich kannte mich schließlich. Nach diesem Reinfall würde ich garantiert einige Tagen oder vielleicht sogar Wochen brauchen, um einen neuen Versuch zu starten. Scheiße.
Rob stupste mich mit dem Ellenbogen an.
»Hey, Jojo. Alles klar?«
Sein Blick war ungewöhnlich ernst.
»Äh …«, machte ich. Das Kind war nicht da.
»Sammy ist kurz auf dem Klo«, sagte Rob, wohl weil er meinen Blick richtig gedeutet hatte.
»Ach so. Ja, alles klar. Die Uni war nur anstrengend.«
Rob sah aus, als glaubte er mir kein Wort. Kein Wunder. Ich war einfach kein guter Lügner.
»Verstehe«, gab er nur zurück. Dann ertönte die Spülung im Bad und keine zehn Sekunden später stand Sammy wieder in unserer Küche.
»Kann ich noch was gucken?«, bat sie mit großen, flehenden Kinderaugen.
»Was denn gucken?«, fragte ich.
»Ach, meine Schwester meinte, sie sei momentan ganz versessen auf so eine Kinderserie … wie hieß sie noch gleich? Jedenfalls kommt die immer um kurz vor fünf im Fernsehen.«
»Aha.«
»Biiiiitteeeeee, Onkel Rob!«
»Hör zu, Sammy. Vielleicht guckt Jojo gleich mit dir die Sendung. Aber lass uns vorher noch aufräumen. Dann kann ich nämlich in der Zwischenzeit den Pizzateig fertig machen.«
»Okaaayyy!«
»Ist doch okay für dich, oder, Jojo?«
»Mh.«
»Jippiiiie!«
Na wunderbar. Nicht genug damit, dass ich offenbar einen Bastelkurs gebucht hatte, jetzt durfte ich auch noch eine Unterrichtsstunde in aktuellem Kinder-TV genießen. Besser hätte dieser Abend nicht laufen können.
Nach dem Aufräumen verzog ich mich mit Kind und Katze ins Wohnzimmer, wo mir Samantha lautstark jeden einzelnen Charakter der Serie aufzählte und was die alles konnten. Ich nickte nett und warf gelegentlich ein »Aha!« oder ein »Was, wirklich?« oder ein »Das ist ja cool!« ein. Dann verfolgte die Kleine gebannt die Folge, lachte hier und da laut auf und plapperte in einer Werbeunterbrechung munter auf mich ein. Von dem anfänglichen Misstrauen war jedenfalls nichts übrig geblieben. Offenheit lag scheinbar in der Familie.
Punkt sieben holte Rob die Pizza aus dem Ofen, die wirklich lecker duftete. Zuvor hatten wir sie gemeinsam belegt und erwartungsvoll in den Ofen geschoben. Samantha hatte sie eine Weile beobachtet und dann mit Rob Kastanienmännchenkämpfen gespielt, bis der Timer piepste.
Gemeinsam aßen wir zu Abend und Samantha und Rob schnatterten vor sich hin. Einzig die Tatsache, dass ein Kind anwesend war, hielt mich davon ab, übermäßig Alkohol in mich hineinzuschütten. Aber mit jedem Schluck aus meiner Mate-Flasche sehnte ich mich mehr nach einem Bier. Sobald Robs Schwester ihr Kind abgeholt hatte, würde ich definitiv den Bierkasten plündern und mich in meinem Zimmer verbarrikadieren.
Kaum hatte Robs Schwester Samatha gegen acht abgeholt, atmete ich tief durch. Endlich Ruhe. Endlich Zeit für ein Bier. Besser gleich für zehn Bier. Am besten, ich fing erst gar nicht mit dem Zählen an.
Ich hatte gerade eine Flasche aus dem Kasten gezogen und sie auf der Arbeitsfläche abgestellt, als mich Rob von hinten umarmte und sich an mich schmiegte. Durch die plötzliche Umarmung versteifte sich mein Körper unwillkürlich. Und zwar mein ganzer Körper.
Rob ließ mich wieder los.
»Wirklich alles klar, Jojo?«
»Natürlich.«
Ich öffnete mein Bier.
»Sicher?«
»Himmel, ja, Rob!«, herrschte ich ihn an.
Rob wich einen Schritt zurück und senkte den Blick.
»Tut mir leid«, sagten wir unisono.
»Du sahst den ganzen Nachmittag so gequält aus.«
»Ich hatte nur vergessen, dass du heute auf deine Nichte aufpassen musst.«
»Verstehe. Hast du deswegen so viel eingekauft? Damit könnte man ja ein ganzes Menü kochen.«
»Könnte man, ja.«
Ich wich seinem Blick aus und nahm einen Schluck aus meiner Flasche.
»Sorry, ich bin müde, ich geh auf mein Zimmer.«
»Warte mal, Jojo.« Rob hielt mich mit sanfter Gewalt zurück, als ich an ihm vorbei aus der Küche wollte. Sein Blick war ernst.
Für meinen Geschmack ein wenig zu ernst. Die Haut an der Stelle, an der seine Hand meinen Arm berührte, begann zu kribbeln.
»Hattest du heut vielleicht etwas anderes geplant?«
Wieder sah ich weg. Verdammt, ja, das hatte ich! Aber jetzt, da wir endlich allein waren, hatte sich der Berg Mut, den ich tagelang mühevoll zusammengetragen hatte, in ein kleines Häufchen Staub verwandelt. Die Bilder, die ich mir vom Verlauf dieses Abends ausgemalt hatte, schwappten trotzdem über mich wie ein Tsunami.
»Jojo …«
Das war so unfair! Warum klang seine Stimme jetzt auch noch so sanft und besorgt? Warum konnte er nicht einfach wegschauen und mich loslassen?
Mein ganzer Körper schien ein Ameisenhaufen zu sein. Oder aus Pudding zu bestehen. Verdammter Ameisenpudding!
»Mann, starr mich nicht so an. Und lass mich, ich bin echt fertig für heute.«
Ich machte mich los und stakste ungelenk aus der Küche. Durch den Flur.
»Jojo!«
Mit zitternden Fingern griff ich nach der Klinke meiner Zimmertür. Sekunden später hatte ich mich verschanzt. Verdammt!
Ein verhaltenes Klopfen.
»Jojo.«
Robs leise Stimme von der anderen Seite der Tür.
Nein. So durfte er mich echt nicht sehen. Niemals!
»Jojo?«
Die Klinke bewegte sich.
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Hier gibt es noch mehr von Jojo und Rob:
- Wie das Feuer zum Wasser kam: https://belletristica.com/de/books/20331-wie-das-feuer-zum-wasser-kam
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60-Minuten-Geschichten:
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