»Jojo?«
Die Klinke bewegte sich.
»Komm ja nicht rein!«, rief ich mit fester Stimme. Nun ja, zumindest so fest wie möglich.
Die Klinke bewegte sich nicht weiter nach unten. Nach oben aber auch nicht, woraus ich schloss, dass Rob seine Hand noch immer nicht weggenommen hatte. Super, Sherlock! Und nun?
»Geh einfach in dein Zimmer und lass mich in Ruhe!«
Zumindest klang mein Versuch, ihn wegzuschicken, schon wieder energischer.
»Ach, Jojo, lass uns doch …«
»Mann, verschwinde! Ich will einfach nur meine Ruhe!«, herrschte ich das Holz der Tür an und schlug mit der Faust dagegen. Die Klinke hob sich und ohne ein weiteres Wort kam Rob meiner Aufforderung nach. Seine Schritte entfernten sich über den Flur, ich hörte ihn in der Küche das Geschirr vom Abendessen wegräumen, dann wieder Schritte und schließlich war es still.
In mir war es aber alles andere als still. Meine Gedanken und mein Körper waren immer noch in Aufruhr. Am liebsten hätte ich meine Bierflasche durchs Zimmer geworfen, aber die war schon geöffnet und ich hatte keinen Bock darauf, dass alles tagelang nach Bier stank. Also kickte ich ein zusammengeknülltes Paar Socken vom Boden. Es traf meine Schreibtischleuchte, die scheppernd umfiel. Ich ließ sie liegen, warf mich aufs Bett und beschloss, diesen Abend mithilfe von Alkohol aus meinem Gedächtnis zu streichen.
»Prost, Idiot!«
Damit setzte ich die Flasche an und trank ein paar kräftige Züge.
Ein Blick auf mein Handy sagte mir, dass es bereits nach Mitternacht war. Ich warf das Gerät wieder zurück auf die Bettdecke und wandte meinen Blick wieder aus meinem Zimmerfenster. Draußen, direkt vorm Fenster, stand ein Ahornbaum. Selbst jetzt leuchteten seine Blätter tiefgelb und orange, angestrahlt von der Straßenlaterne wenige Meter weiter. Ich wusste nicht, warum, aber dieser Anblick beruhigte mich irgendwie und half mir, meine Gedanken zu ordnen. Tatsächlich hatte ich es bei dem einen Bier belassen. Bereits nach den ersten Schlucken hatte ich mich wieder so weit beruhigt, dass ich einen klaren Gedanken fassen konnte. Und dieser klare Gedanke hatte mir vor Augen geführt, wie idiotisch ich mich verhalten hatte. Und wie idiotisch es war, sich hier die Kante zu geben. Davon hatte niemand was – höchstens einen unnötigen Kater am nächsten Morgen.
Je länger ich in meinem dunklen Zimmer hockte und dem Nachtwind dabei zusah, wie er mit den Blättern spielte, desto dümmer kam ich mir vor. War ich eigentlich unter der Schale des Jurastudenten nichts weiter als ein pubertierender Schuljunge? Anders konnte ich mir jedenfalls nicht erklären, dass ich so überreagiert hatte wegen des verpatzten Abends – der genau genommen nicht einmal wirklich verpatzt war, immerhin war es lustig gewesen und es hatte selbstgemachte Pizza gegeben. Der Johannes, der alles rational betrachtete und für alles irgendeine total erwachsene Lösung hatte, war heute scheinbar in der Uni geblieben und hatte nur den emotional instabilen, infantilen Johannes nach Hause geschickt, von dessen Existenz ich bisher nicht einmal gewusst hatte.
Aber das hier war ja auch das erste Mal, dass ich mich in einen anderen Mann verliebt hatte. Kein Plan, wie man damit umging. Vor allem, wenn man sich endlich dazu durchgerungen hatte, seinem eigenen heterosexuellen Selbst mal einen freien Abend zu gönnen und sich auf den anderen Mann einzulassen.
Genau genommen war dieser übertriebene emotionale Ausbruch also Robs Schuld.
Für eine Sekunde beruhigte mich dieser Gedanke. Aber dann schüttelte ich den Kopf.
Rob konnte nichts dafür, dass ich mich nicht unter Kontrolle hatte, dass ich mir Dinge ausgemalt hatte, die dann nicht eingetreten waren, und mich darüber wie ein kleiner Junge geärgert hatte. Und letztendlich war ich es, der den Kopf in den rosaroten Wolken gehabt hatte, über die offenbar keine Wetterballons mit wichtigen Botschaften wie »Am Mittwoch kümmert sich Rob um seine kleine Nichte« aufstiegen. Und dann fauchte ich ihn auch noch an, wenn er sich Sorgen um mich machte, weil ich mich, zugegebenermaßen, wirklich seltsam benommen hatte.
Aber wieso musste er auch mit seiner Vermutung ins Schwarze treffen? Wieso musste gerade Herr von und zu Planlos checken, in welche Richtung meine Pläne für die Abendgestaltung gegangen wären, hätten wir nicht eine Sechsjährige zu betüdeln gehabt?
Das war nicht nur unfair, das war hochgradig peinlich!
Nichtsdestotrotz quälte mich das schlechte Gewissen, seit sich meine Gedanken geklärt hatten. Rob konnte nichts dafür. Eine Entschuldigung war also das Mindeste. Und das so bald wie möglich.
Ich hievte mich in die Senkrechte und stand auf. Schlich zur Tür und zog sie einen Spalt breit auf.
Robs Zimmertür war nur angelehnt. Leise Stimmen und das übliche Flackern seines Laptopbildschirms, auf dem irgendeine Serie lief, drangen durch den Türspalt. Sonst war alles finster und still.
Ich schlich leise ins Bad, brachte das Bier weg und wusch mir anschließend gründlich die Hände. Vielleicht ein bisschen zu gründlich. Vielleicht trocknete ich mich auch viel zu lange am Händehandtuch ab. Aber jetzt, wo ich aus meinem sicheren Hafen raus war, kehrte die Nervosität, die mich am Nachmittag befallen hatte, mit einem Schlag zurück.
Mann, Johannes, reiß dich zusammen! Du gehst nur hin, entschuldigst dich kurz und dann gehst du ins Bett! War aber auch echt ein anstrengender Tag.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann tappte ich zu Robs Zimmer hinüber und klopfte vorsichtig an.
»Ja?«
Das Flackern hielt inne, die Stimmen verstummten.
»Hey, hier ist Jojo.«
Mental verpasste ich mir eine Ohrfeige. Ja, wer denn sonst? Die Katze würde ja wohl kaum klopfen.
»Ich, äh … kann ich reinkommen?«
»Klar!«
Ich hörte ein Knarzen, vermutlich war er vom Bett aufgestanden, und eine Sekunde später öffnete Rob die Tür zur Gänze. Er trug nichts weiter als seine Woodstock-Boxershorts und strich sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
»Ich, äh …«
Ja, das hast du gerade schon gesagt, Idiot!
»Ich … ich wollte mich entschuldigen. Für vorhin. Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anraunzen. Es … es war einfach …«
Meine Güte, nun hör schon auf, ihn anzustarren! Du bist keine vierzehn mehr, auch wenn du dich den halben Tag schon so fühlst!
Trotz aller gedanklicher Schelte konnte ich nicht verhindern, dass mein Körper ganz von selbst reagierte. Und auch Rob schien das Ganze nicht verborgen zu bleiben, obwohl ich schnell die Hände vor meinem Schritt verschränkte.
»Schon gut, Jojo.«
Robs Hand berührte meine Schulter, strich hinauf zu meinem Hals und blieb schließlich an meiner Wange liegen. Ich fühlte, wie meine Wangen begannen zu glühen – der Rest meines Blutes machte sich scheinbar auch in Richtung Körpermitte auf. Gehirnversorgung? Ach, wozu! Dieses Ding war ja eh komplett nutzlos, nicht wahr?
Hin und her gerissen zwischen kopfloser Flucht und dem Einlassen auf Robs Berührung stand ich im Flur und wusste nicht, wohin mit mir. Mir lag schon eine weitere Entschuldigung auf den Lippen, ich war schon dabei, einen Schritt rückwärts zu machen, doch ich brachte kein Wort heraus. Es war, als wäre ich im Boden zementiert und hätte vergessen, wie man seine Gedanken in Worte fasste. Welche Gedanken überhaupt? Mein Kopf war wie leergefegt.
»Komm rein«, sagte Rob einfach. Ließ seine Hand zurück zu meiner Schulter wandern und übte leichten Druck aus.
Und als hätte es nur das gebraucht, machte ich einfach einen Schritt nach vorn und dann noch einen und dann warf ich alle Fragen und Ängste und die ganze verrückte Zurückhaltung über Bord und umarmte ihn einfach. Und bevor Rob reagieren konnte, zog ich seinen Kopf näher und drückte ihm meine Lippen auf seine.
Ich spürte, dass ich ihn überrumpelt hatte, aber er fing sich schnell und erwiderte sowohl meinen Kuss als auch die Umarmung. Und ebenso schnell wurde klar, dass dies hier keiner der schüchternen Küsse war, die wir bisher ausgetauscht hatten. Doch seltsamerweise machte mir das weder Angst, noch fühlte es sich falsch an. Also beschloss ich, mich einfach treiben zu lassen.
Keine Ahnung, wie, aber irgendwann fand ich mich auf Robs Bett wieder, das kühle Laken am Rücken, das Shirt bis über meine Brust hochgeschoben, Rob über mir. Verdammt, lag es an dem Zwielicht oder sah Rob schon immer so heiß aus?
»Bist du dir sicher, Jojo?« Robs Stimme war kaum mehr als ein heiseres Keuchen.
Ich nickte, zog ihn aber noch einmal hoch, bevor sich seine Lippen wieder meiner Brust widmen konnten.
»Aber nur anfassen. Für mehr fehlt mir der Mut.«
Rob nickte und wollte sich schon wieder herunterbeugen, doch ich hielt ihn noch einmal zurück.
»Und nur fürs Protokoll« – und weil ich es noch nie gesagt habe, ergänzte ich in Gedanken – »ich liebe dich, Rob.«
Für einen Moment erstarrte er, dann begannen seine Augen zu schwimmen, er beugte sich zu mir hinunter und vergrub sein Gesicht an meiner Schulter. Vielleicht eine Minute lagen wir so da, ich strich über seinen Rücken und murmelte immer wieder »Na, na«. Schließlich hatte Rob sich wieder gefangen und sah mich an.
»Ich dich auch, Jojo. Und ich werde nichts tun, was du nicht möchtest oder wofür du dich noch nicht bereit fühlst.«
Das war ja wohl das Mindeste.
Also zog ich ihn nah an mich und küsste ihn.
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- Wie das Feuer zum Wasser kam: https://belletristica.com/de/books/20331-wie-das-feuer-zum-wasser-kam
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60-Minuten-Geschichten:
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