~ ⁂ ~ ⁎ ~
Padhi starrte ungläubig in die riesige, hell erleuchtete Halle voller Käfige. Lärm schlug ihnen entgegen, sobald sich die Tür öffnete, ein einziges Kreischen, Trompeten und Jaulen, vermischt mit einigen allzu menschlich klingenden Schreien.
Der erste Eindruck, den der unterirdische Raum erweckte, war der eines Zoos. In Gitterkäfigen der verschiedensten Größe kauerten die lärmenden Kreaturen. Doch Padhi erkannte keines der Geschöpfe. Da waren riesige Papageien mit den Köpfen von Elefanten in Käfigen mit Stäben aus kompletten Baumstämmen, Krokodile mit den Stelzbeinen von Flamingos oder Tiger mit den Flossen von Karpfen aus Akijama. In einem Käfig, der ganz in der Nähe unter der Decke baumelte, hockte ein Mensch mit Libellenflügeln.
Langsam verebbte das Geschrei, das durch das Öffnen der Tür hervorgerufen worden war. Die seltsamen Wesen zerrten schwach an ihren Ketten und sahen mit müden Augen zum Ausgang.
Mantis zog die Tore zu und die Geschöpfe sanken in ihren Zellen auf den Boden. Stille legte sich über die gewaltige Höhle und sie konnten das Wasser hören, das von den mächtigen, braunen Tropfsteinen fiel.
„Was genau macht dein Vater hier?“, fragte Mantis erschüttert.
Itoko hielt sich die Nase zu. „So viel Elend und Verzweiflung habe ich noch nie gerochen! Was sind das für … Dinger?!“
„Mischwesen“, murmelte Shymron. „In den Dörfern werden angeblich immer wieder solche Kreaturen gesichtet. Unser General sagte, es sind Ammenmärchen oder Übertreibungen, nachdem Reisende ein paar der heimischen Wesen gesehen haben. Es passiert immer wieder, dass ein Fremder einen Fischparder sieht und sich überlegt, ob es auch Tigerkarpfen gibt. Aber in den letzten Jahren häuften sich die Berichte …“
Die Hände des jungen Wächters zitterten, während er die eingesperrten Kreaturen musterte.
„So eine Scheiße, und das direkt unter unserer Akademie“, fluchte Mantis. „Kein Wunder, dass dein Vater das hier geheim halten wollte. Was auch immer er den armen Dingern hier antut, es verstößt mit Sicherheit gegen alle Gesetze.“
Mit weichen Knien ging Padhi in die Höhle hinein. Unzählige Augen folgten ihren Bewegungen. Die Tiere hier unten sahen krank aus. Sie bemerkte verkümmerte Beine oder blinde Augen, seltsame Verwachsungen und unregelmäßigen Atem. Die Geschöpfe waren kaum lebensfähig.
Doch noch immer spürte sie diesen seltsamen Drang, weiterzugehen. Als sie dorthin sah, wo der Ruf seinen Ursprung haben musste, sah sie etwas Weißes inmitten der Käfige aufblitzen.
Sie verengte die Augen. Es war ein Gebäude mit einem Kuppeldach, Ziersäulen vor den glatten Wänden und offenen Türdurchgängen. Es sah aus wie ein kleiner Tempel oder Palast.
Wie im Traum setzte sie mechanisch einen Fuß vor den anderen. Ob ihre Freunde ihr folgten oder nicht, nahm Padhi nicht länger wahr. Stattdessen haftete ihr Blick auf dem Gebäude.
Dieser Stein … war das Marmor?
Sie legte die Hand auf eine der kühlen Säulen und spürte Energie unter ihren Fingern pulsieren.
Jade. Weiße Jade. Ein ganzes Haus aus dem seltenen Stein!
Mit einem Mal fühlte sie sich geborgen, als wäre sie nach langer Zeit zuhause angekommen. Sie schauderte. Und das, wo sie von diesem unvorstellbaren Elend umgeben war!
~ ⁂ ~ ⁎ ~
„Padhi?“ Itoko trat zögerlich zu seiner Freundin und berührte ihre Schulter. Doch Padhi reagierte nicht. Sie stand stocksteif da, jeden Muskel angespannt. Unter Itokos Griff zitterte sie ganz leicht.
„Padhi?“ Itoko wurde langsam nervös. „Was hast du?“
Wie in Trance stolperte das Mädchen in das weiße Gebäude hinein. Itoko warf einen hilflosen Blick zurück zu Mantis und Shymron, doch die beiden hatten am Käfig eines der Wesen angehalten und betrachteten ein dickliches Schaf mit nur wenigen Büscheln Wolle. Das hineingekreuzte Tier war vermutlich ein Elefant, obwohl man es nicht wirklich sagen konnte.
Itoko folgte Padhi in den Tempel und fand sich in einem Labor wieder. Tische mit Reagenzgläsern voller Flüssigkeiten standen kreuz und quer im ersten Teil des Raumes verteilt, im zweiten Teil standen größere Gefäße. Padhi ging an den Tischen vorbei zu einigen der riesigen Glaszylinder und Blechwannen. Der Geruch im Raum ließ Itoko würgen. Sie erkannte Formaldehyd, den Geruch toter, organischer Masse und diverse scharfe und stechende Chemikalien, andere Gerüche konnte sie nicht zuordnen.
Die Zylinder, vor denen Padhi stehen blieb, gehörten zu den größten. Sie waren höher als ein Elf, und so breit, dass man sie nicht umfassen konnte, wenn man sie umarmte. Angefüllt waren sie mit gelblicher Flüssigkeit, und es trieben große Gestalten darin. Sie sahen aus wie schlafende Menschen.
Padhi berührte das Glas eines Behälters und Itoko hörte ihre Fingernägel gegen das Glas klappern. Eilig lief der Fuchs zu dem Mädchen.
„Was hast du?“
Dann erstarrte Itoko. Er konnte es ebenfalls sehen.
Im Glas hinter dem Zylinder trieb ein Mädchen mit geschlossenen Augen. Blasse Haut, schwarze Haare, die leicht spitzen Ohren einer Halbelfe – eine nahezu perfekte Kopie von Padhi. Doch die Finger waren nicht richtig ausgebildet, und auch die Züge unterschieden sich ein winziges bisschen. Diese schlafende Padhi glich ihrem Vater deutlich stärker als die echte.
„Was zum …“ Itoko hielt den Atem an, als wäre die Luft im Raum vergiftet. Ihr Blick glitt über die anderen Zylinder.
Darin trieben ebenfalls Mädchen, manche kaum mehr als ein Embryo, andere ebenso groß oder sogar größer als Padhi. Fast alle hatten irgendeine Entstellung. Zettel, die an die Glasscheiben geheftet worden waren, zählten weitere Makel auf: Blind. Herzfehler. Fehlender Lungenflügel. Blutkrankheit. Nicht lebensfähig.
Padhi tastete nach ihrer Kehle. Endlich drehte sie sich zu Itoko um. In ihren Augen schimmerten Tränen. Das Entsetzen in ihrem Blick bohrte sich wie eine Faust in Itokos Magen.
Er nahm das Mädchen in die Arme und wollte irgendwas Tröstendes sagen, doch ihm fehlten die Worte. Was sollte man dazu auch sagen? Er spürte, dass er selbst zu zittern begann.
Er hörte Klappern hinter sich. Als er sich umdrehte, erkannte er Shymron und Mantis in der Tür. Shymron hatte sein Kampfstab mit dem Drachenkopf fallen gelassen.
Itoko starrte sie an und formte mit dem Mund die Worte: Was geht hier vor?
Mantis schüttelte fassungslos den Kopf.
~ ⁎ ~ ⁂ ~
Shymron verließ den kleinen Tempel und trat in das Licht der unzähligen Öllampen. Drinnen sprach die alte Kriegerin dem stummen Mädchen und dem Silberfuchs Mut zu. Shymron konnte die Stärke der alten Frau nur bewundern. Ihm selbst grauste es inmitten der Käfige und der kläglichen Laute der Tiere, als würden sie ihn anflehen, sie zu töten. Denn eine solche Existenz konnte nicht wünschenswert sein.
Dann dachte er an das Mädchen, Padhi. Sie war offenbar selbst nur ein solches Genexperiment. Die vielen Zylinder mit Mädchen ließen darauf schließen, dass ihr eine ganze Reihe Fehlschläge vorangegangen war. Aber … warum? Und was trieb Upadhy sonst noch hier unten?
Wie von selbst trugen Shymrons Schritte ihn zwischen den Käfigen entlang. Er sah auf, als er helles Grün bemerkte. Aus irgendeinem Grund befand sich mitten in der Höhle ein Erdhügel, der Boden offenbar mühsam von draußen hereingeschleppt, denn überall sonst gab es nur Stein. Unzählige Wildblumen wuchsen auf dem Hügel, doch Shymron bemerkte Spuren von abgeschnittenen Blättchen, geharkter Erde und sorgsam drapierten Steinen. Jemand pflegte diesen unterirdischen Garten mit Sorgfalt.
Shymron ging leicht in die Knie. Ein Stein befand sich auf dem Hügel. Es war weiße Jade, genau wie im Tempel, doch in diese war etwas eingraviert:
Hier ruht
Astil Areestardhos Visnut
Geliebter Ehemann
Wessen Ehemann?, fragte sich Shymron. Es kam doch niemand außer Universitätsleiter Upadhy hierher, oder?
Etwas blitze zwischen den Blumen auf. Shymron strich die Gräser beiseite und stockte.
~ ⁂ ~ ⁎ ~
„Seht euch das hier an!“, rief Itoko. „Ein Notizbuch.“
Padhi und Mantis eilten zu dem Silberfuchs, der das Büchlein zwischen den vielen Reagenzgläsern entdeckt hatte.
Padhi warf nur einen Blick darauf, legte die die Hand erst waagerecht vor die Stirn, dann unter das Kinn. Vater.
„Es ist seine Handschrift“, übersetzte Mantis halblaut. „Was steht da?“
Itoko blätterte durch das Buch. „Notizen über die Wesen, die er kreieren will. Nutztiere. Lasttiere. Wesen, die die Akademie beschützen. Aber er kriegt es nicht hin. Er … er ist echt wahnsinnig geworden. Vollkommen besessen.“
Padhi klammerte sich an Mantis und signalisierte: Was bin ich?
Itoko blätterte durch die Seiten, hin und zurück. Man konnte sehen, wie Namins ordentliches Schriftbild mit der Zeit verkam, wie schwarze Flecken ausgelöschter Zeichen sich auf schiefer werdenden Zeilen verbreiteten. „Davon steht hier nichts.“
„Weil sie keines seiner gewöhnlichen Experimente ist.“
Sie wirbelten zum Eingang herum. Dort stand Shymron. Er hielt ein gerahmtes Bild in den Händen und präsentierte es dem Blick der Anderen. Es war ein gemaltes Hochzeitsbildnis, doch zu sehen waren nicht Braut und Bräutigam, sondern zwei Männer in derselben Pose und in dem traditionellen Hochzeitsgewand von Akijama.
Der eine der Männer war Padhis Vater. Namin Nephelis Upadhy sah jünger aus als jetzt, und unendlich glücklich.
Den Mann an seiner Seite erkannten sie nicht, doch seine Züge waren sogar noch stärker als Namins in Padhis Gesicht gegraben. Er hatte blasse Haut und dunkles Haar. Seine Ohren waren nicht spitz, also war er ein Mensch. Vermutlich aus Akijama, der Stadt, die Padhis Vater so liebte. Er hatte ein weiches, freundliches Gesicht und wirkte ebenso glücklich wie Namin.
Ihr Vater in dem Foto erschien Padhi wie ein Fremder.
„Wer ist das denn?“, fragte Itoko.
„Astil Areestardhos Visnut”, antwortete Shymron. „Sein Grab ist draußen.“
„Ein Grab? Aber … Padhi, dein Vater sagte doch, deine Mutter sei gestorben, oder?“
Padhi senkte den Blick. Namin hatte niemals Bildnisse seiner verstorbenen Frau aufgehängt. Padhi hatte immer gedacht, dass es die Trauer war, die ihn daran hinderte, oder dass keine Bilder angefertigt worden waren. Doch nun begriff sie, dass außer Trauer noch etwas anderes dahinterstand.
Ein Mann. Ihr Vater hatte einen Mann geliebt. Er, der brillante Kloner, war außer Stande gewesen, zu dieser Liebe zu stehen. Hatte er die Schöpfung eines Kindes begonnen, als Astil noch gelebt hatte, oder erst danach? Sie schluckte. Ihr Vater hatte sich eine normale Familie gewünscht. Doch der Preis dafür … es war nicht nur ihre Stimme gewesen, sondern das Leben all dieser gescheiterten Experimente, die noch im Jadetempel ihr Halbleben führten.
Was hatte ihr Vater nur getan?
In diesem Moment kreischten die unzähligen Tiere draußen auf. Shymron, der in der Tür stand, sah nach draußen und warf sich dann ins Innere.
„Upadhy!“, keuchte er. „Er ist hier!“
~ ⁂ ~ ⁎ ~
„Er hat Wachen dabei“, rief Shymron über das ohrenbetäubende Kreischen der genetischen Experimente. Dann fielen die Tore mit einem dumpfen Geräusch ins Schloss und Stille trat ein.
„Ich habe euch gesehen!“ Namins Stimme hallte durch die Höhle. „Shymron Seyata Tamhanadhas, nicht wahr? Nach dem, was deinem Bruder zugestoßen ist, hätte ich gedacht, dass du vorsichtiger wirst. Doch ausgerechnet diesen Weg einzuschlagen …“
„Was sollen wir tun?“, fragte Itoko.
Mantis und Shymron hatten sich an den Fenstern aufgestellt.
„Sie kreisen uns ein“, flüsterte Mantis. „Die Wachen sehen allerdings geschockt aus. Sie wussten nichts hiervon. Das könnte uns einen Vorteil verschaffen.“
„Gegen so viele Gegner?“, fragte Shymron. „Das sind zwei Dutzend, mindestens!“
Mantis seufzte leise. „Ich weiß.“
Padhi konnte den hoffnungslosen Unterton ihrer Freundin hören.
„Padhi!“ Ihr Vater wandte sich nun direkt an sie. „Ich weiß, dass du da drin bist, zusammen mit diesem grässlichen Fuchs und deiner sterblichen Freundin. Habe ich dir nicht alles gegeben, was du wolltest? Du hättest die perfekte Tochter sein sollen. Deine Gene waren perfekt. Aber du hast auf diese Außenseiter hören müssen.“
Mantis packte ihre Waffe fester. „Wir müssen sie irgendwie überrumpeln.“
„Die Schlinge hat sich zugezogen“, murmelte Shymron düster. Doch auch er packte seinen Kampfstab und reichte Padhi die Sense seines Bruders. „Denkst du, dein Vater wird uns töten?“
Padhi zögerte. Dann hob sie ratlos die Schultern. Ihr Vater war ein Fremder geworden. Sie wusste nicht länger, was er tun und nicht tun würde.
„Du kennst inzwischen wohl die Wahrheit“, fuhr Namin fort. „Es tut mir leid, dass du es so herausfinden musstest. Aber eines solltest du wissen. Dein Vater … dein anderer Vater … hat dich geliebt. Schon bevor du geboren warst, als du nur eine Idee in diesem Keller warst. Doch das ist egal. Ich kann dich jederzeit neu erschaffen.“
Padhi ballte die Hände zu Fäusten. Dann legte sie eine Hand an den weißen Stein.
Sie besaß einen ganzen Palast aus weißer Jade – den musste sie nutzen!
Mantis nickte ihr zu und trat an den Rand der Türöffnung. Padhi streckte die Hand aus und dichter Nebel stieg aus dem Boden der Höhle.
Namin lachte. „Deine Illusionen werden dir hier nichts nutzen, meine Liebe!“
Mantis packte den Degen und sprang in den Nebel hinaus.