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„Padhi!“, rief Nambisdad vorwurfsvoll.
Sie zuckte zusammen und hob den Blick, um sich irritiert umzusehen. Wo war sie? Ach ja, Unterricht … das Zimmer ihres neuen Stufenleiters. Kairas Kanpadi Nambisdad sah sie mit mühsam unterdrückter Ungeduld an. „Was ist denn heute los mit dir?“
Padhi antwortete mit Gesten. Stille schloss sich an.
Kanpadi seufzte schließlich und rief: „Mantis!“ In genau dem Moment stieß Padhi Itoko an. So kam es, dass beide Padhis Gesten übersetzten, als das stumme Mädchen sie wiederholte.
„Tut mir leid, es kommt nie wieder vor“, übersetzte Mantis.
„Tut mir leid, war 'ne lange Nacht“, übersetzte Itoko.
Kanpadi rieb sich das Kinn. „Ich verstehe …“
Padhi warf den Kopf genervt in den Nacken und wiederholte den zweiten Teil ihrer Aussage ein drittes Mal.
„Oh. Sie meinte: Was war die Frage?“, übersetzte Mantis ein wenig kleinlaut.
„Vergesst es bitte einfach, ihr drei.“ Kanpadi winkte ab und nahm einen anderen Schüler dran.
Padhi tauschte einen Blick mit ihren Freundinnen. In ihren Augen las sie, dass Itokos und Mantis‘ Gedanken ebenfalls um den gestrigen Abend und Aionas‘ Tod kreisten. Padhi hatte in der Nacht keine einzige Minute Schlaf gefunden, sondern sich hin und her gewälzt und gefragt, was sie hätte besser machen können. Immer wieder hatte sie Aionas‘ Hände in ihrem Griff gefühlt – weich, zittrig, schweißnass und vertrauensvoll, eine stumme Bitte um Hilfe und unausgesprochene Hoffnung.
Sie hätte ahnen können, dass die Schlangen sich nicht einfach nur so am Torbogen aufhielten. Sie hätte es wissen müssen! Dann wäre Aionas noch hier.
Itoko hatte ihren Freundinnen mit leiser Stimme von den Alpträumen erzählt, die ihr in der Nacht keine Ruhe gelassen hatten.
„Ein Traum nach dem anderen, einer schlimmer als der vorherige, ich sag’s euch!“
„Ich habe geschlafen wie ein Kleinkind“, hatte Mantis behauptet. Und dann geseufzt. „Ich weiß, dass die Alpträume bald genug kommen werden. Sie kommen immer nach zwei, drei Tagen.“
Mantis war eine Kriegerin, die bereits Tote gesehen hatte, und trotzdem hatte die gescheiterte Flucht sie mitgenommen. Kein Wunder, dass keine der drei dem Unterricht in Kampfmagie folgte. Sie waren nur deshalb hier, weil ihr Fehlen Fragen aufwerfen würde. Nach ihrer Straftat in der Nacht durften sie keine Aufmerksamkeit erregen. Mit etwas Glück hatte keiner der Wächter in dem Gedränge ihre Namen mitbekommen oder ihre Gesichter gesehen. Mantis hatte entschlossen, dass ihre Chancen besser standen, wenn sie sich unschuldig verhielten.
„Die Schlangen sind Torwächter, die direkt unter dem Befehl der gewöhnlichem Campuswächter stehen“, sagte in diesem Moment einer ihrer Mitschüler. Die drei Silbersträhnen zuckten zusammen, aber der Junge fuhr ungerührt fort: „Der General kann den Schlangen bestimmte Personen nennen, die auf keinen Fall passieren dürfen, diese greifen die Schlangen dann an, sobald sie sich dem Tor nähern. Auf diese Weise halten sie unbefugte Personen vom Universitätsgelände fern. Zum Lohn erhalten sie regelmäßig Futter, als Opfergabe, und stehen natürlich unter dem Schutz der Wachen.“
Inzwischen war Padhi klar geworden, dass der Schüler soeben die Frage beantwortet hatte, die Nambisdad ihr zuvor gestellt hatte. Wie zum Hohn ihrer gestrigen Erlebnisse befasste sich der Unterricht also nun mit den Wächterschlangen.
„Das stimmt fast“, sagte Nambisdad. „Unsere Wächterschlangen werden nicht direkt dazu eingesetzt, Personen fern zu halten. Für gewöhnlich würde man sie darauf trainieren, einfach jeden Fremden anzugreifen. Doch in unserer Akademie gehen viel zu viele Personen ein und aus; die Gefahr, dass ein Student gebissen wird, ist viel zu hoch. Bei einem Verdacht kann man den Schlangen befehlen, bestimmte Personen anzugreifen, wenn sie sich nähern, doch für gewöhnlich werden sie genutzt, damit niemand hinauskommt. Jeder Gefangene, der fliehen will, muss entweder an den Torwächtern vorbei oder durch die Gräben mit ihren Krokodilen schwimmen.“
Padhi tauschte einen Blick mit Mantis und Itoko. Sie konnte den beiden ansehen, dass es ihnen ähnlich ging wie ihr.
Beide würden am liebsten laut schreien.
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Shymron klopfte zögerlich an die Tür. „General?“
„Tretet ein.“
Die Tür quietschte in ihren Angeln, als die Zwillinge das Büro von General Rashadhi betraten. Neugierig sahen sie sich um. Mit Lapis Lazuli und Safran eingefärbte Wandteppiche bedeckten die Wände, in den Lücken erhoben sich fragile Silberstahlregale voller Schriftrollen und Bücher. Auf dem hahnenkammroten Teppich stand ein Schreibtisch aus Salbaumholz, und dahinter thronte der General auf einem mächtigen Stuhl. Zwei niedrige Holzschemel mit drei Beinen standen dem Schreibtisch gegenüber.
„Setzt euch.“ Der General wies auf die Hocker und die Zwillinge kauerten sich darauf.
Schräg hinter dem General stand eine schlanke, hochgewachsene Elfe mit knochigem Gesicht und schrieb auf einer langen Papyrusrolle mit.
„Ich habe bereits damit gerechnet, dass ihr beiden früher oder später in meinem Büro sitzen werdet“, begann der General. „Aber ich dachte, es wäre wegen eines eurer Streiche und nicht wegen des Verdachts zur Beihilfe bei der Flucht.“
„Beihilfe?!“, wiederholte Siscas spitz.
„Ihr solltet über den Sachverhalt bereits hinreichend aufgeklärt sein!“, warf die Schreiberin mit einer Stimme ein, die ebenso unangenehm wie ihre Erscheinung war. Ihre schwarze Schreibfeder machte ein paar Markierungen auf dem Blatt.
Der General warf seinen Schutzbefohlenen einen mahnenden Blick zu. ‚Bleibt ruhig, sonst macht ihr alles nur noch schlimmer‘, schien er ihnen zu sagen.
„Natürlich“, sagte Siscas kleinlaut. „Aber – General Rashadhi! Das könnt Ihr doch nicht wirklich glauben. Wir sind doch keine -“
„Das herauszufinden ist der Zweck dieses Treffens“, unterbrach ihn der General. „Ich werde nun die Fakten aufzählen.“
Die Frau trat vor und reichte dem General eine kürzere Liste. Shymron und Siscas sanken auf den Schemeln noch etwas tiefer.
„Ihr beide wurdet mit der Bewachung eines Gefangenen betraut. Zugegeben, es war euer erster Einsatz in der Todeszelle, doch mir wurde befohlen, nicht mehr Leute als unbedingt notwendig in die Sache hineinzuziehen, und ihr beide wart die einzigen Wächter, die von Manris Verhaftung wussten. Außerdem hielt ich euch für dieser Aufgabe gewachsen.“
Die Zwillinge sahen beschämt zu Boden.
„Kurz darauf batet ihr darum, mit dem Gefangenen auf den Hof zu gehen, wobei ihr euch auf das Recht des letzten Wunsches berieft. Ich gewährte es und warnte euch, besonders wachsam zu sein. Als nächstes berichten die Wachen, die zu jener Zeit im Wachraum waren, einen Ruf von euch gehört zu haben. Sie sahen, wie du, Siscas, Manris Fesseln löstest. Sie gaben ebenfalls an, dass es wohl deine Absicht war, die Fesseln enger zu ziehen. Dazu kam es nicht. Ihr wurdet von drei Unbekannten angegriffen. Sie flohen mit Manri und konnten nicht aufgefunden werden, bis wir heute Morgen Manris Leiche auf einer der Brücken fanden.“
Die Zwillinge zuckten zusammen. „Er ist tot?“, fragte Siscas.
Der General nickte. „Die Torwächter haben ihn erwischt. Wären sie nicht gewesen, wäre er entkommen, mit allen, was er weiß. Die Folgen wären unabsehbar gewesen.“
„Und zwar weil wir überhaupt nicht wissen, was hier überhaupt gespielt wird!“, brummte Shymron.
Siscas warf seinem Bruder einen entsetzten Blick zu. Die Schreiberin unterstrich die eben geschriebenen Zeilen mehrfach mit lautem Kratzen der Schreibfeder.
„Es ist doch so!“, rief Shymron und sprang auf. „Irgendetwas geht hier vor! Uns wurde nicht gesagt, dass Manri möglicherweise Verbündete hat, nicht einmal, warum er sterben sollte. Wir wurden bei dem Versuch, seine Flucht zu verhindern, verletzt – mehrere Wachen haben den Kampf beobachtet. Es ist aber nichts geschehen, denn er ist tot. Und trotzdem sind wir hier!“
„Manris Befreier haben sich dumm angestellt, diesen Erfolg könnt ihr wohl kaum für euch verbuchen“, erwiderte der General. „Und genau die Tatsache, dass der Kampf so gut zu beobachten war, hat euch heute hierhergebracht. Gewisse Verantwortliche fanden es merkwürdig, dass ihr euch nicht nur direkt vor dem Fenster der Wachkammer befandet, sondern auch unmittelbar vor dem Angriff mit Rufen auf euch aufmerksam gemacht habt. Dazu kommt dann das Geschehen mit den Fesseln des Gefangenen, die in der scheinbaren Absicht, sie zu verstärken, gelockert wurden.“
Sprachlos starrten die Zwillinge ihren General an.
„Ihr meint, wir hätten den Überfall nur gestellt?“, stammelte Siscas schließlich.
„Eben das will ich heute herausfinden“, sagte der General. Etwas in seinem Blick, obwohl er es nicht aussprach, machte deutlich, wie wenig ihm die Untersuchung behagte. Doch ihm saß die Schreiberin im Nacken, und wohl auch die ‚gewissen Verantwortlichen‘. Nachdem nur sehr wenige Personen von Manri wussten, war klar, dass es nur einen Verantwortlichen gab: Namin Nephelis Upadhy. Der Universitätsleiter wollte die Zwillinge hängen sehen.
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„Nun, ich sehe, dass unsere Zeit sich dem Ende zuneigt“, bemerkte Nambisdad mit einem Blick auf die Wand neben der Tür. Die Lichtflecken, die durch die hohen Fenster drangen, wanderten über die bunten Mosaike der Wand, die mehrere Uhren darstellten, wobei die Lichtfinger synchron auf die richtige Stunde deuteten.
„Fassen wir doch noch einmal zusammen, was wir gelernt haben“, fuhr der Kampfmagielehrer fort. „Unsere Universität wird streng bewacht, obwohl diese Bewachung so gehalten ist, dass sie den meisten Studenten entgeht. Das soll verhindern, dass die strengen Sicherheitsvorkehrungen die Atmosphäre hier verdunkeln. Torwächterschlangen bewachen die Zuwege, eine Grabenanlage voller Krokodile begrenzt die Fläche des Campusgeländes. Wo die Grenze der Universität direkt am Gemäuer verläuft, hat unsere Universität keine Fenster und nur glatte Wände, zudem haben wir heute die Luftgeister beobachten können, die uns von oben schützen.
Doch wir haben auch gesehen, dass all diese Vorrichtungen eher dazu geeignet sind, eine Flucht zu verhindern als Angreifer fernzuhalten, da sich einzelne Personen ohne Probleme auf das Gelände schleichen können. Diese Universität ist also zusätzlich das am besten gesicherte Gefängnis der Gegend, weshalb Straftäter aus dem Umland sehr häufiger hergebracht und hier ihrer gerechten Strafe zugeführt werden.“
Nambisdads Worte erschütterten Padhi mehr, als sie gerne zugeben würde. Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich an einem Ort aufgehalten, der im Geheimen als Gefängnis fungierte und wo regelmäßig Menschenleben erloschen.
Die Eingangstür knarrte. Schweigen fiel über die verdutzten Schüler. Alle drehten sich zum Eingang um.
Dort stand Namin. Padhis Vater ließ den Blick über die Sitzenden schweifen. Hinter ihm standen gleich zehn Wächter in voller Rüstung.
„Ich möchte Padhi Panyiota Upadhy, Mantis Mihaylis Janiwhar und Itoko Karmacatl bitten, mit mir zu kommen“, sagte er.
Die Silbersträhnen tauschten verwirrte Blicke. Etwas in Namins Tonfall machte ihnen Angst.
„Verzeihung, aber wir befinden uns noch im Unterricht“, sagte Nambisdad.
„Und ich entschuldige mich dafür, ihn gestört zu haben. Doch ich muss diese drei mitnehmen, es geht um einen schweren Verdacht“, widersprach Namin.
Die beiden Männer funkelten einander über die Köpfe der Studenten hinweg an, dann senkte Kairas Kanpadi Nambisdad den Blick.
Padhi und ihre Freundinnen standen auf.
Vater?, fragte Padhi mit einer zögerlichen Geste.
Namin Nephelis Upadhy sah ihr in die Augen. Sein Blick war hart, kalt und abweisend. Er seufzte. „Folgt mir!“
Unter den Blicken ihrer Kommilitonen und ihres Lehrers wurden die drei abgeführt.