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„Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, zischte Siscas.
„Ich?“, gab Shymron zurück. „Es war deine Idee!“
„Ich habe nur mitgemacht, weil du so wehleidig geguckt hast!“, behauptete Siscas.
„Dann hättest du Manri also einfach dem Tod überlassen?“, knurrte Shymron gedämpft.
Beide verstummten und blickten zur Tür. Sie saßen in einer kleinen Zelle direkt neben dem Büro des Generals, in Untersuchungshaft. Sie hatten etwa zwei Stunden Verhör hinter sich. Shymron trug einen Verband um den Kopf, Siscas eine Bandage am rechten Arm.
Jetzt vergrub Siscas stöhnend den Kopf in den Händen. „Ich dachte, wir hätten alles bedacht!“
Shymron seufzte und rutschte näher zu seinem Bruder. „Unser Plan war ja auch gut. Vielleicht zu gut. Du hast den General gehört. Er fand es nur verdächtig, dass wir so ein gutes Alibi hatten.“
„Nicht der General“, sagte Siscas resigniert. „Das war Upadhy. Und ich glaube, egal, was wir getan hätten, er hätte einen Grund gefunden, uns unter Verdacht zu stellen.“
Shymron sah seinen Bruder entsetzt an. „Ist … ist das dein Ernst?“
Siscas nickte ernst. „Irgendwas geht hier vor, Shymron. Ich glaube, Upadhy verheimlicht etwas. Und wir sind zwischen die Fronten geraten, als wir Manri freigelassen –“
In diesem Moment wurde die Tür geöffnet. Die Zwillinge zuckten zusammen, als General Rashadhi eintrat.
„Ihr könnt gehen“, sagte der General. „Die Beweise gegen euch reichten nicht aus. Aber … ich rate euch, euch in Zukunft besonders sorgsam zu bewegen.“
Die Tamhanadhas-Zwillinge sahen ihren Vorgesetzten verschreckt an.
Der General winkte ab. „Ich denke, ihr beide versteht die Situation. Ich habe für euch getan, was ich konnte, aber bitte … gebt ihm keinen Anlass mehr.“
Bedrückt schwiegen die Zwillinge. Sie hatten den General noch nie zuvor derart besorgt gesehen.
Er trat aus dem Raum und hielt ihnen die Tür auf. „Ihr bekommt direkt eine wichtige Aufgabe, sozusagen als Feuerprobe. Vermasselt es nicht, Jungs.“
„F-Feuerprobe?“, stammelte Siscas. Dem älteren der Zwillinge kam das mehr als suspekt vor.
„Wie ich sagte“, knurrte der General und rollte mit den Augen. Er schien mit ihnen hinter sich deuten zu wollen. „Vermasselt es nicht.“
Als sie nach draußen traten, erkannten die Zwillinge den Grund für die seltsamen Verrenkungen des Generals. Auf dem Gang stand Universitätsleiter Namin Nephelis Upadhy in Begleitung mehrerer Wachen. Diese bewachten, neben der hochaufragenden, dunklen Gestalt des Leiters, auch drei Gefangene mit gesenkten Köpfen.
Es war Upadhy, der das Wort ergriff. „Dies sind die drei Personen, die euch angegriffen und den Tiermenschen befreit haben. Ihr beiden, Zwillinge, könnt eure Treue unter Beweis stellen, indem ihr sie bewacht. Doch ich warne euch. Sollte auch nur die geringste Unregelmäßigkeit auffallen, werdet ihr zu ihnen in die Todeszelle gesperrt.“
Jetzt hob eine der Gefangenen den Kopf. „Todeszelle?!“
Es war eine alte Frau, Siscas erkannte sie sofort. Obwohl sie ein Mensch war, trug die Frau die Rüstung der Elfengarde. Und sie beherrschte auch deren magische Fähigkeiten, wie der ältere Zwilling sehr wohl wusste.
Auch die anderen Gefangenen sahen erschrocken auf. Eines war ein Mädchen mit grauen Haaren, aus denen ebenfalls graue Fuchsohren ragten, das zweite ein dunkelhäutiges, schwarzhaariges Mädchen.
Siscas erstarrte. Das war doch … die Tochter von Upadhy! Ging der Universitätsleiter so weit, seine eigene Tochter zu verurteilen? Und dann auch noch zur Höchststrafe?
Siscas spürte einen Schlag in den Rücken. General Rashadhi hatte ihn und Shymron angestoßen, weil sie den Universitätsleiter und seine drei Gefangenen nun schon eine ganze Zeit sprachlos anstarrten.
„Natürlich“, stammelte Siscas. „Wir danken untertänigst für Eure Großzügigkeit und diese zweite Chance.“
Er verbeugte sich, Shymron tat es ihm gleich.
„Sehr gut“, sagte der Leiter kalt und wedelte dann mit einer Hand. „Führt sie ab.“
Drei der Wachen stießen die Gefangenen vorwärts und warteten dann darauf, dass die Zwillinge sich an die Spitze der Gruppe setzten. Siscas riss sich zusammen und Shymron stolperte ihm hinterher.
„Scheiße, verdammt“, fluchte das Fuchsmädchen. „Wollen die uns echt töten, Mantis?“
„Ruhe!“, blaffte Siscas. Er brauchte Zeit, um seinen eigenen Schock zu verdauen.
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Die Silbersträhnen konnten erst wieder durchatmen, als sie in der Zelle saßen. Eine Zelle, die Padhi nur allzu vertraut war. Hier hatte sie mit Manri gesessen und versucht, ihn zum Reden zu bringen. Doch diesmal befand sie sich hinter der Gitterwand.
Die leisen Worte ihres Vaters, als er sie abführen gelassen hatte, wiederholten sich in ihrem Kopf. „Ich hätte nicht erwartet, dass du mich so hintergehst, Padhi. Das ist der Dank für alles, was ich dir gegeben habe?“
Alles war so schnell gegangen, dass die Ereignisse in ihrer Erinnerung zu einem einzigen Wirbel verschwammen. Der Weg aus dem Klassenzimmer, über den Hof und zur Wache, das alles wurde zu einem einzigen, bunten Gang, durch den sie eilten, mit Wänden, die ihre Form und Farbe ständig änderten. Mal waren es die von Rosen überwucherten, weißen Gitter in den Gärten, dann die Steingänge im Gefängnis, dann die bemalten Lehmwände der Akademie. Wie ein großer Eintopf aus Farben, Geräuschen und Gerüchen.
Mit dem Zuschlagen der Tür brach in ihrer Erinnerung alles ab. Es herrschte Stille, weiße, unbewegte Stille. Sie stand mit ihren Freundinnen in dem Raum, wie lange, wusste sie nicht. Die Tatsache, dass ihr eigener Vater sie zum Tode verurteilt hatte, tröpfelte nur langsam in ihr Bewusstsein.
Keine von ihnen hatte sich bewegt.
„Woher wussten sie das?“, flüsterte Itoko schließlich. „Woher wussten sie, dass wir Manri …“
„Diese Wächter haben mein Gesicht gesehen“, knurrte Mantis mit finsterem Blick zur Tür.
„Hast du nicht zugehört?“, fragte Itoko. „Sie haben selber Ärger, und zwar großen.“
„Ja, weil ihr Gefangener entkommen konnte. Also haben sie uns verpfiffen und wir bilden ihre zweite Chance.“
Padhi winkte, um die Aufmerksamkeit ihrer Freundinnen zu erlangen. Als weder Mantis noch Itoko reagierten, tastete sie nach der Pfeife, die sie am Gürtel trug, doch da wandten sich ihr der Silberfuchs und die Kriegerin endlich zu.
Padhi bewegte die Hände: Sie mussten nur eins und eins zusammenzählen. Wir selbst haben uns mit unserem Verhalten verraten. Außerdem haben sämtliche Wächter einen Silberfuchs gesehen, und von denen gibt es nur einen einzigen an der Akademie.
„Du hast ja recht.“ Itoko seufzte. „Sag’s schon, Mantis. Das war eine ganz blöde Idee von mir.“
„Das war es“, sagte die Kriegerin.
„Und: Ich hab’s euch doch gesagt …“, soufflierte Itoko genervt.
„Das hilft uns jetzt auch nicht mehr.“ Mantis seufzte und setzte sich auf den Boden. „Wir sind in der verkackten Todeszelle. Jetzt ist alles egal.“
Itoko verstummte und der patzige Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. „Musst du mich daran erinnern?“ Sie ließ sich neben Mantis auf den Boden fallen. „Ich wollte unser besiegeltes Schicksal mit Sarkasmus verdrängen.“
„Tut mir leid“, murmelte Mantis. „Es ist nur so, dass ich an nichts anderes denken kann. Ob es morgen schon ist? Ob sie uns einen letzten Wunsch gewähren?“
„Ich wünsche mir die Freiheit!“, entschied Itoko.
Mantis versetzte dem Fuchs einen Klapps auf den Hinterkopf. „Kannst du nicht einmal ernst sein?!“ Doch dann grinste sie. „Moment, eine Henkersmahlzeit kriegen wir auch! Ich bestelle so viel Essen, dass sie es in einem Jahr nicht auftragen können, und erkaufe uns damit Zeit!“
Padhi musste ihren kichernden Freundinnen den Rücken zuwenden. Im Gegensatz zu Mantis und Itoko konnte sie keine Fröhlichkeit vortäuschen. Ihre Hände zitterten.
Ihr eigener Vater hatte sie in diese Zelle gesteckt! Sein Blick war so kalt gewesen, dass er ihr auch jetzt noch einen Schauer über den Rücken jagte. Er hasste sie!
Und wieso? Was hatte Manri gewusst, dessen Enthüllung ihr Vater fürchtete? Überhaupt, hatte er sie nicht beauftragt, es herauszufinden?
In ihrem Kopf machte es Klick. Ihr Vater war davon ausgegangen, dass sie ihn vorbehaltslos unterstützen würde. Vielleicht hielt er sie für zu dumm, um die Seltsamkeiten zu durchschauen, oder er glaubte, dass die Familienbande sie zwingen würden, das Spiel mitzuspielen. Es ging ihm gar nicht darum, dass Manri entkommen war, sondern darum, dass sie sich gegen ihn aufgelehnt hatte.
Mit einem Klicken wurde die Tür geöffnet. Mantis und Itoko sprangen auf, als die beiden Zwillingswächter hereinkamen.
„Ist es etwa jetzt schon?“, hauchte Itoko und wurde blass.
„Wir bestehen auf einem Prozess!“, brüllte Mantis.
Einer der beiden Zwillinge hob die Hände. „Leise, verdammt!“
Der andere durchquerte den Vorraum und schloss ihre Zelle auf.
„Wir haben nicht viel Zeit“, erklärte der erste wieder. Er hatte etwas längere Haare und trug ein langes Gewand sowie eine Sense als Waffe. Padhi versuchte sich zu erinnern. Was war noch gleich sein Name gewesen? Siscas?
Der andere musste Simron oder so ähnlich sein, der mit dem kleinen Drachen. Er zog die Tür auf und trat zurück.
Die Silbersträhnen tauschten verwirrte Blicke.
„Ist das ein Test?“, stammelte Itoko.
Siscas stöhnte gequält. „Nein, ist es nicht. Kommt jetzt, wir haben nur während des Wachwechsels Zeit.“
„Irgendwas geht hier vor“, mischte sich der andere Zwilling ein. „Und wir sind verdammt nochmal keine Golems, die einfach machen, was ihnen aufgetragen wurde.“
„Wir riskieren gerade alles für euch“, warf Siscas mit drängendem Unterton ein. „Also, wird’s bald?“
Ungläubig traten die drei Freundinnen aus der Zelle. Siscas winkte sie zur Tür, sein Bruder schon sie von hinten. Dann, auf dem Gang, schloss Siscas die Tür ab.
Sie huschten in den hinteren Teil des Gebäudekomplexes, dann in eine leerstehende Zelle. Diese hatte ein Fenster, vor dem draußen einige Rosenbüsche wuchsen.
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„Leg deine Rüstung ab“, befahl Siscas der Kriegerin. Shymron half der Tochter des Leiters mit einer Räuberleiter durch das schmale, hohe Fenster. Kaum, dass sie oben war, reichte er ihre Waffen und die widerstrebend abgelegte Rüstung der Menschenfrau hinauf.
Das grauhaarige Mädchen verwandelte sich in eine geisterhafte Forelle und glitt auf das Fenster zu.
„Nein!“, zischte Shymron und versperrte ihr den Weg. „Das Mauerwerk ist voller Zauber. Du musst deine Menschenform nehmen.“
Stattdessen nahm der Formwandler die Gestalt eines kleinen Fuchses an.
„Noch besser!“ Shymron nahm das Tier auf den Arm und schob es durch das Fenster.
Siscas hörte eine Tür. Er fluchte gedämpft, und kurz darauf erklangen Rufe: „Verdammt! Shymron! Siscas! Wo seid ihr?“
„Schneller!“, hauchte Shymron. Die Menschenfrau sprang erstaunlich agil auf seine Schultern und durch das Fenster. Beide zogen an Shymron, während Siscas ihm durch das Fenster half.
Schritte näherten sich. Der General, dessen Stimme erklungen war, und einige Wachen durchsuchten die Zelle. Sie waren früher als erwartet zurückgekehrt, vielleicht hatte Rashadhi auch geahnt, dass etwas in der Art passieren würde. Jedenfalls wusste er, dass niemand durch die Wachstube oder durch das Fenster der vorderen Todeszelle entkommen war, das hätten die Wachen bemerkt.
Also durchsuchte der General die weiteren Zellen. Das waren nicht viele. Das Licht näherte sich der Tür.
Shymron und die stumme Tochter des Leiters streckten die Hände nach Siscas auf.
„Los, komm!“, drängte Shymron.
Siscas sah zurück zur Tür. Dann wich er zurück. „Lauft.“
„Was?!“
„Geht ohne mich!“ Er rannte zurück, fummelte im Laufen den Schlüsselbund hervor und sprang auf den Gang.
„Da!“, donnerte der General.
Siscas steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte um. Dann zog er ihn halb heraus und trat dagegen, sodass das Metall brach.
Nur einen Augenblick später hatten ihn zehn Wachen umzingelt. Er keuchte. Nervös fasste er seine Sense.
„Siscas.“ Der General stand hinter dem Ring Bewaffneter. Er klang unendlich traurig. „Warum tust du mir das an?“
„Irgendetwas ist hier faul“, sagte Siscas. Seine Hände zitterten vor Angst. „Du merkst es doch auch!“
Generals Zechárias Zalim Rashadhi sah ihn unglücklich an. „Ich weiß doch, Siscas. Aber was wollen wir dagegen tun? Wir sind nur Wächter.“
Er hob die Hand. Die Wachen erhoben ihre Waffen. Siscas wich gegen die Tür zurück. Dahinter hörte er gedämpft Shymrons Schreie.
„General Rashadhi …“, hauchte er.
„Tötet ihn“, befahl der General mit tonloser Stimme.
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Shymron hörte, wie sein Bruder aufschrie. Dumpfe Schläge trafen die schwere Tür zur Zelle.
Dann verstummten alle Geräusche, bis auf eines, das an einen umfallenden Sack mit Süßkartoffeln erinnerte.
Bis Shymron die rote Flüssigkeit sah, die unter der Türritze hindurch sickerte.
„Nein!“ Er hatte schreien wollen, doch es wurde nur ein tonloses Flüstern. Entsetzt grub er die Fäuste in die Erde. Er konnte den Blick nicht abwenden. „Siscas …“
Jemand riss ihn in die Höhe. Die Menschenfrau. „Reiß dich zusammen, Soldat!“
Sie ohrfeigte ihn mit Kraft. Shymrons Ohr klingelte und seine Wange brannte.
„Wir müssen hier weg“, rief die Menschenfrau dann und packte das Fuchswesen am inzwischen wieder menschlichen Arm.
Sie rannten los, Shymron mehr stolpernd als rennend. Nur das stumme Mädchen lief noch hinter ihm.
Die Gärten, die an ihm vorbeiglitten, fühlten sich irreal an. Die Rufe der Wachen, das Licht ihrer Fackeln … das alles musste ein Traum sein. Er war wie betäubt. Ständig sah er das Blut vor sich, dann wieder Siscas‘ Gesicht, als er ging, statt durch das Fenster zu klettern.
Was für eine dumme Aktion! Was hatte Siscas bezwecken wollen? Ihnen Zeit verschaffen?
Etwas zerrte an dem kurzen Ärmel seines Gewandes. Er drehte sich um und das stumme Mädchen fasste seinen Ellbogen und zog mit aller Kraft an seinem Arm, als wollte sie eine Glocke läuten. Dann bewegte sie die Hände und formte mit den Fingern wilde Zeichen. Verständnislos sah er sie an.
„Ähh … Hey!“
Er rief gedämpft. Die beiden Vorlaufenden drehten sich um.
Das stumme Mädchen buchstabierte offenbar etwas, umständlich formte sie die Zeichen.
„Nambisdad?“, fragte Mantis. „Was ist mit ihm?“
Das Fuchsmädchen schlug sich vor die Stirn. „Nambisdads Warnung! Mantis, er hatte doch in seinem Unterricht was erzählt, von wegen, die Akademie ist in Wahrheit das beste Gefängnis der Gegend.“
„Das bestgesicherte“, korrigierte Mantis und blieb stocksteif stehen. „Und ich Idiotin laufe zu den Brücken. Die Schlangen sind sicher schon auf uns angesetzt. Sie würden uns töten.“
„Wohin dann?“, fragte Itoko. „Durch die Gräben?“
Mantis schüttelte den Kopf und deutete zu den Fackeln hinüber. „Das erwarten sie. Wir … wir müssen in die Akademie.“