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Es dauerte keine halbe Stunde, bis der General zurückkehrte. In der Hand hielt er eine Schüssel Reis, die er Shymron in die Hände drückte.
„Für Manri“, sagte Rashadhi. „Er hat das Recht darauf, sich für morgen eine Mahlzeit zu wünschen, also fragt ihn, ob er etwas möchte. Und er hat -“
„Das Recht auf einen letzten Wunsch, ja, wissen wir“, unterbrach Siscas seinen Vorgesetzten. General Rashadhi sah den älteren Zwillingsbruder überrascht an. Einen solchen Bruch des Protokolls hätte er von Shymron erwartet, doch nicht von seinem Bruder.
Erschrecken malte sich auf Siscas‘ Gesicht aus und verdrängte den missmutigen, beinahe trotzigen Ausdruck, den er vorher gezeigt hatte. „Vergebt mir, General, ich wollte nicht -“
„Heute sehe ich darüber hinweg“, erwiderte Rashadhi entschieden. „Doch wenn ihr lieber vom Dienst befreit werden wollt, sagt es. Ihr habt bereits einen langen Tag hinter euch, ich kann euch die Nachtwache erlassen.“
Siscas warf einen Blick zu Shymron. Der hatte bis eben auf den noch leicht dampfenden Reis gestarrt und sah jetzt mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen auf. Wortlos schüttelte er den Kopf.
„Wir bleiben hier“, antwortete Siscas mit fester Stimme für sie beide, doch trotz seiner geraden Haltung huschte sein Blick zu seinem Bruder. Der General musterte beide jungen Wächter besorgt, dann nickte er und ging.
„Wir sehen uns morgen früh.“
Als er die Tür zur Wachkammer öffnete, drangen Licht und Stimmen heraus. Gerade wurde die zweite Schicht der Tageswächter von den Nachtwächtern abgelöst. Dann fiel die Tür ins Schloss und hüllte den spärlich beleuchteten Gang der Todeszellen in Stille.
„Gehen wir rein?“, fragte Siscas nach einem Moment der Stille, in der sich keiner von beiden rührte. Shymron nickte.
Als sie die Tür entriegelten, hörten sie ein Lachen wie von einem Kind. Die Fackeln in Manris Zelle tauchten den Raum in warmes Licht und beleuchteten nicht nur den Gefangenen hinter der zusätzlichen Gitterwand, sondern auch das, was ihn so zum Lachen brachte.
„Mibbi?!“, fragte Shymron entgeistert, als er seinen Drachen sah.
Aionas Manri fuhr ertappt in die Höhe und wich von dem Walddrachen zurück. „Es tut mir leid, ich … er kam einfach herein …“ Hilflos deutete der Hasenmensch auf das hohe, schmale Loch an einer Seite der Kerkerwand. Es war gerade groß genug, dass ein wenig Licht und Luft in den Kerker gelangen konnte. Und ein neugieriger Moosdrache.
Mibbi zeigte keine Spur eines schlechten Gewissens und hopste zu Manri, um sich an seinem Bein zu schubbern.
Ein schwaches Lächeln stahl sich auf Shymrons Lippen. „Er mag dich.“
Auch Aionas lächelte. Er bückte sich und nahm den Drachen auf den Arm. Siscas riss sich zusammen, schloss die Eingangstür ab und öffnete die Gittertür, um Aionas seine Mahlzeit zu bringen.
Dann räusperte er sich. „Aionas Manri … Eure Hinrichtung soll morgen in der Früh stattfinden.“
Aionas starrte Siscas an, dann Shymron, doch beide Wächter wichen seinem Blick aus. Gestockt taumelte der Hasenmensch gegen die hintere Wand.
„Hinrichtung? Aber …“ Aionas‘ Stimme versiegte zu einem Flüstern. Mit geweiteten Augen starrte er die Zwillinge an.
Shymron stellte den Reis auf das kleine Tischchen in Manris Zelle. Siscas folgte mechanisch dem Protokoll. „Ihr habt das Recht, Eure letzte Mahlzeit selbst zu wählen. Außerdem gewährt das Recht von Dhubaayana Euch einen letzten Wunsch, sofern dessen Erfüllung Eure Hinrichtung nicht verhin-“ Siscas‘ Stimme brach.
„Was habe ich denn getan?“, flüsterte Manri leise. „Das ist ein Witz, nicht wahr? Ihr erlaubt euch einen Scherz!“ Seine Stimme wurde wütend, doch nicht für lange, als könnte der schmächtige Tiermensch nicht so viel Energie aufbringen. Er fuhr sich, vermutlich geistesabwesend, über die Narbe des rechten Auges. „Es ist, was ich gesehen habe, nicht wahr?“
„Was hast du gesehen?“, fragten Shymron und Siscas wie aus einem Mund.
Das linke Auge des Hasenmenschen verdunkelte sich, als die Pupille riesengroß wurde. Er atmete schnell und flach und dann schüttelte er in schnellen, winzigen Bewegungen den Kopf. Es sah aus, als würde er zittern oder einen Krampfanfall bekommen.
„Ich kann nicht!“, drang es über Aionas‘ spröde Lippen. „Der Keller …“
Mibbi drückte sich gegen das Schienbein des Gefangenen. Aionas hatte ihn fallen gelassen und nun spürte der Moosdrache offenbar die Angst seines neuen Freundes.
Siscas seufzte. Genau wie Shymron hatte er gehofft, dass man Aionas verschonen würde, wenn er nur endlich erzählte, was er wusste. „Aionas … dein letzter Wunsch? Hast du einen? Und was möchtest du morgen frühstücken?“
Der Hasenmensch beruhigte sich nur langsam. Kraftlos sank er an der Wand entlang auf den Boden. Mibbi drückte sich an ihn.
Als die Zwillinge schon fast glaubten, dass Aionas ihnen nicht antworten würde, erklang seine dünne Stimme: „Ein Wunsch … ich wünschte, das alles wäre nie passiert. Ich wünschte, ich wäre wieder zuhause, bei meiner Familie. Dass die Sklavenhändler nie gekommen wären. Oder dass ich wieder einfach in der Akademie leben könnte.“ Unglücklich hob er den Blick und sah die jungen Wächter an. „Wie soll mir etwas zu Essen denn jetzt noch wichtig sein? Ich wünschte, ich wäre wieder frei, aber das könnt ihr mir wohl kaum erfüllen!“
„Ich wünschte, wir könnten es“, sagte Siscas mit einem unglücklichen Lächeln.
Shymron atmete tief durch. „Wir könnten dich vielleicht auf den Hof lassen.“
Siscas warf seinem Bruder einen entgeisterten Blick zu, doch Shymron beachtete ihn nicht. „Wir fragen unseren General, ob er dir ein paar Stunden auf dem Hof erlaubt, was sagst du dazu?“
Aionas sah auf und nickte zögerlich. „Das wäre toll.“
„Natürlich müsstest du Hand- und Fußfesseln tragen, aber es ist ein Rest Freiheit, den wir dir schenken können.“ Ein zuversichtliches Lächeln lag auf Shymrons Gesicht. Er lief los. „Bin gleich wieder da.“
Siscas schüttelte ungläubig den Kopf. Den Gefangenen aus der Todeszelle lassen? Warum machte Shymron Aionas Hoffnung, wo keine bestand?
Umso erstaunter war er, als Shymron in Begleitung des Generals zurückkehrte, der Aionas Manri Fesseln anlegte.
„Ich schätze das Ausbruchsrisiko sehr gering ein“, erklärte der General. „Aber ich warne euch, Jungs, wenn etwas schiefgeht, haben wir echte Probleme.“
Siscas und Shymron nickten ernst.
Die Eisenketten wurden um Manris Knöchel und Handgelenke gelegt und waren vorne mit einer weiteren Kette zusammengebunden. Dort, wo die große Kette mittig auf die Handfessel traf, ging sie als Leine weiter. Diese drückte der General Shymron in die Hände. Während der jüngere Zwilling den Gefangenen nach draußen führte, langsam, weil die Kette Manri nur winzige Schritte ermöglichte, trat der General zu Siscas. „Wenn er euch davonläuft, dann gnaden euch die Götter!“
„Verstanden“, sagte Siscas leise. „Es war Shymrons Idee.“
„Ich weiß“, antwortete der General. „Und es tut mir leid, dass ihr beide in dieser Situation gelandet seid. Das ist eure erste Erfahrung mit der Todeszelle, nicht wahr?“
Siscas nickte.
„Es wird irgendwann leichter“, tröstete ihn der General. „Aber der Fall Manri ist nun wirklich besonders abartig, erst recht als Einstieg in diese Arbeit. Trotzdem dürft ihr euch keinen Fehler erlauben. Ich fürchte, dann würden Köpfe rollen.“
Siscas nickte erneut. Er konnte sich nicht helfen – er schluckte nervös. Todeszellen-Gefangene mussten streng bewacht werden. Dass der General Manri Freigang erlaubte … damit riskierte er sicherlich einiges. Siscas hatte das Gefühl, das Zugeständnis war nicht für Aionas, sondern für ihn und Shymron.
Eilig folgte Siscas seinem Bruder. Sie durften Rashadhi nicht enttäuschen.
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„Bitte, Itoko, langsam! Wir verstehen kein Wort. Atme erst einmal durch, ja?“
Schwer atmend starrte Itoko Mantis an. Der Silberfuchs hatte die alte Menschenkriegerin und Padhi soeben auf dem geschwungenen Waldweg eingeholt und war noch völlig außer Atem.
„Manri!“, stieß Itoko jetzt hervor. „Sie wollen ihn töten. Morgen früh! Wir müssen etwas unternehmen!“
Mantis schlug die Hand vor den Mund. „Töten?“
„Morgen früh!“, stieß Itoko hervor und schnappte nach Luft.
Padhi wendete kurzerhand den Elefanten, den sie bisher an einem Seil neben sich hergeführt hatte, damit sie Seite an Seite mit Mantis laufen konnte.
Hoch mit euch!, signalisierte sie ihren Freundinnen.
Der kleine Waldelefant trompete, als die drei Freunde aufgesessen waren und Padhi ihn grob zum schnellstmöglichen Tempo antrieb.
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Langsam senkte sich die Nacht über den großen Hof der Universität. Sterne standen am Himmel und beleuchteten die drei Gestalten, die langsam über den weitläufigen Platz schlenderten, zwischen den Hochbeeten des Kräutergartens und kleinen Teichanlagen hindurch.
Aionas Manri zitterte im kühlen Wind, Tränenspuren auf der linken Wange. Shymron, der die Kette hielt, und Siscas folgten dem Gefangenen wie stumme Leibwächter. Als vierter im Bunde tollte Mibbi durch die Zierbüsche, grub Löcher in den gepflegten Sandflächen, rupfte Blätter von den Heilkräutern und jagte Glühwürmchen. Warum seine Begleiter so bedrückt waren, verstand der kleine Drache nicht.
„Ich danke euch.“ Irgendwann brach Manri das Schweigen. „Ihr … ihr seid die ersten Elfen, die freundlich zu mir sind.“ Tränen schimmerten in seinen großen, sanften Augen.
Keiner der Zwillinge konnte darauf antworten. Sie beide – die Wächter, die Manri morgen zur Hinrichtung bringen würden – waren die freundlichsten Elfen, der er getroffen hatte?
Als Siscas dem Blick des Kaninchenmenschen auswich, bemerkte er einen Schatten im nahen Gebüsch. Er sah genauer hin: Nein, drei Schatten!
Ein einziger Blick genügte – die Zwillinge verstanden einander ohne Worte. Shymron zog den Gefangenen näher zur Wachstube, zu dem Licht, das durch eines der Fenster fiel.
„Moment, Manri!“, rief Siscas laut und kniete sich neben den Hasenmenschen. „Ich glaube, die Fesseln sind etwas zu locker.“