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Wie verabredet trennten sich die drei Silbersträhnen nach dem Unterricht, als ob nichts wäre. Padhi eilte zum Stall, wo ihr schon von weitem der charakteristische Geruch der Elefanten entgegenschlug. Zwar wurden die Tiere von ihren Pflegern geduscht und geschrubbt, doch nichts davon half gegen den muffigen Gestank der großen Dickhäuter.
Padhi erkletterte ihren bereits gesattelten Waldelefanten und lenkte ihn auf den Dschungel zu. Sie sah sich auf dem Vorhof um, doch Mantis und Itoko waren bereits im Gebäude verschwunden. Die beiden würden vermutlich direkt zum Westtor eilen und sich abseits der Wege bis zu dem kleinen See durchschlagen, an dem auch Padhis Weg zu der kleinen Siedlung mit der Wohnung, die sie während der Schulzeit bewohnte, vorbeiführte. Allerdings musste sie dazu einen größeren Umweg schlagen. Sie trieb den Elefanten mit einem leisen Schnalzen der Zügel an und das rotbraune Tier eilte nach einem leisen Trompeten vorwärts.
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Das Knacken brechender Zweige ließ Shymron in die Höhe fahren. Sofort hob der junge Wächter seinen Kampfstab. Ein Blick auf den Drachen Mibbi, der neben dem inzwischen gefesselten und immer noch bewusstlosen Fischparder lag und schlief, ließ Shymron die Waffe wieder senken.
Wenig später brach Siscas, gefolgt von General Rashadhi durch das Unterholz. Shymron nahm Haltung an und empfing seinen Vorgesetzten salutierend.
„Ist hier alles in Ordnung?“, fragte der General. Inzwischen wurde es dunkler, weil die Sonne unterging, und mit Anbruch der Nacht auch kälter. Die Unruhe des Generals war also durchaus berechtigt, denn nachts erwachten die größeren Raubtiere des Dschungels.
„Alles in Ordnung“, beschwichtigte Shymron jedoch und trat beiseite, damit der General das Fischparderweibchen und die im Teich zusammengedrängten Jungen sehen konnte. Siscas trat aus dem Schatten des Generals. Er trug eine große Wanne aus Glas, die mit Wasser gefüllt war und mit einem Netz aus groben Seilen umhüllt war, das das Tragen erleichterte und zugleich wie ein Deckel verhinderte, dass etwas größeres als ein Eichhörnchen in die Wanne hinein oder hinaus konnte. Siscas atmete tief durch, streckte mit in die Hüften gestemmten Händen den Rücken durch und kniete sich dann neben die Wanne, wo er den oberen Teil des Netzes öffnete.
Shymron riss sich aus seiner Starre und hob den bewusstlosen Fischparder vorsichtig hoch, indem er das Tier von den Fesseln befreite und mit einer Hand im Nacken fasste und den Arm unter den Vorderpranken hindurchschob. Die Vorsichtsmaßnahme war gerechtfertigt, denn in dem Moment, in dem Mibbi ein warnendes Pfeifen ausstieß, erwachte der Parder mit einem Mal zum Leben und schnappte und kratzte nach Shymron. Der packte den Nacken fester, worauf die Bewegungen des Tieres langsamer wurden und schob den Arm etwas höher, was es dem Fischparder unmöglich machte, ihn zu kratzen.
„Mistvieh, hat sich nur schlafend gestellt“, knurrte er, ehe er das Weibchen in die Wanne gleiten ließ. Sofort übernahm Siscas und drückte das Tier mit beiden Armen an den Boden der Wanne. Der Fischparder fauchte und wand sich, während Shymron die Jungtiere aus dem Teich fischte und auf den Arm nahm. Die Jungen quiekten ängstlich und verstummten erst, als sie sich im Wasser an ihre Mutter schmiegen konnten. Siscas riss die Arme aus der Wanne und die beiden Zwillinge knüpften das Netz mit fliegenden Fingern zu, ehe die Tiere fliehen konnten.
„Etwas unkonventionell, aber zweckmäßig“, kommentierte der General ihr Vorgehen.
„Es wurde immerhin niemand verletzt“, meinte Shymron mit einem schiefen Grinsen.
Der General rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Kommt, es wird bald dunkel.“
Die Zwillinge nahmen die Wanne in die Mitte, jeder ergriff das Netz auf einer Seite, und sie schleppten das Gefäß mit dem knurrenden Fischparder den Weg zurück, den sie gekommen waren. Im Hirtendorf hatten Siscas und der General einen Holzkarren zurückgelassen, der für die Durchquerung des Dschungels zu klobig war. Umringt von den Hirten, die ihnen zu ihrem Fang beglückwünschten, befestigten die Brüder die Wanne auf dem Karren.
Dann zogen sie los zu Akademie.
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Unter dem Bogen des Westtores verharrte Mantis einen Moment. Die alte Kriegerin fröstelte, als der Wind über ihre Haut strich.
Itoko entging das nicht: „Ich hatte dir gesagt, du sollst dich wärmer anziehen!“
„Das ist die Rüstung der Schlangenkrieger!“, knurrte Mantis gereizt. „Ohne sie kann ich nicht kämpfen, und das weißt du.“
Itoko schnaubte und verwandelte sich vor Mantis‘ Augen in seine Ursprungsform, einen kleinen, hellgrauen Fuchs mit wachen, türkisen Augen. „Gegen was willst du denn im Wald kämpfen?“, erklang Itokos menschliche Stimme wie ein körperloses Flüstern. „Blätter? Wurzeln?“
„Ich dachte eher an Schlangen und Tiger“, knurrte Mantis gereizt und nickte zum Torbogen. Das Westtor war weiß und gestreift wie der Pelz eines Tigers, doch um den großen Steinbogen wanden sich unzählige Schlangen – große, braune Würgeschlange, gefährliche, bunt gemusterte Giftschlangen und harmlose, grüne Waldschlangen. Ihr leises Zischeln mischte sich in den kühlen Abendwind.
Der Fuchs zuckte mit einem Ohr. „Die sind zahm, und alle anderen Tiere werde ich riechen, lange, bevor sie uns zur Gefahr werden. Kommst du jetzt, Feigling?“
„Feigling?“, wiederholte Mantis empört und eilte dem Fuchs hinterher, der leichtfüßig in den Wald huschte. „Dir zeige ich, wer hier feige ist!“
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Die Zwillinge und der General erreichten ein nahezu identisches Tor. Das Nordtor war aus schwarzem Stein gebaut und mit Reliefs gemustert, die wie die Zeichnung eines Schildkrötenpanzers erschienen. Auch um dieses Tor wanden sich die gezähmten Schlangen der Wächter. Im Vorbeigehen warf General Rashadhi den Tieren einige weiße Mäuse zu. Die kleinen Pelztierchen quiekten und rannten, kaum auf dem Boden aufgekommen, panisch los. Zischelnd machten sich einige Schlangen an die Verfolgung, während die anderen satt und müde das Geschehen beobachteten. Mäuse und Verfolger gerieten im hohen Gras außer Sicht, doch die Geräusche der panischen Flucht erklangen weiter.
Shymron und Siscas wurden von dem Todeskampf so sehr abgelenkt, dass sie zu spät bemerkten, dass jemand auf das Tor zu rannte. Die Zwillinge wandten die Köpfe, als sie Schritte hörten, da stießen sie auch schon mit dem Rennenden zusammen. Die Elfen und der Fremde, von dem nur eine Masse brauner Haare zu erkennen war, stürzten auf den Boden.
Der Fremde sprang jedoch sofort auf. Zwei lange Ohren stiegen von seinem Kopf auf und drehten sich nervös in jede Richtung. Dann sprang der junge Mann gehetzt weiter und wollte in den Dschungel fliehen.
„Halt!“, rief der General. Siscas wirbelte auf den Bauch, streckte sich und bekam den erstaunlich dürren Knöchel des Laufenden zu fassen, der erneut auf den Boden schlug. Panisch trat der Mann aus und wollte sich losreißen, doch jetzt war Shymron auf allen Vieren und warf sich auf den Rücken des Hasenohrigen.
Der Tiermensch wand sich und stieß dabei abgehaktes Schluchzen aus.
„Wer bist du?“ Der General umrundete das Knäuel auf dem Boden und stellte sich dem langhaarigen Jungen gegenüber. Dieser erstarrte, Shymron fühlte den Leib nur noch unter sich Beben. Wie ein verängstigtes Kaninchen. Der junge Wächter richtete sich auf und besah sich den Gefangenen: Lange, verfilzte Haare, gekleidet in verschiedene Stoffreste, die offenbar überall zusammengestohlen worden waren, mit Handstulpen, die die Finger frei ließen. Eine Brille mit großen, runden Gläsern war bei dem zweiten Sturz auf den Boden gefallen und lag nun eine Armlänge vor dem Tiermenschen. Dessen Blick huschte vom General über die beiden Wächter und wieder zurück. Dann verdrehte er das Auge – anstelle des anderen hatte er nur noch eine Narbe – und sackte leblos zusammen.
Shymron und Siscas standen auf und betrachteten den bewusstlosen Hasenjungen.
„Ein Schmarotzer“, murmelte der General. „Kommt, Jungs, den nehmen wir auch noch auf dem Karren mit. Wir sollten ihn befragen, wenn er wieder aufwacht.“
Shymron sah nachdenklich zur dunklen Akademie. „Wovor ist er denn bloß so panisch geflohen?“
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Hinter Itoko trottete Mantis durch den Dschungel. Leider brauchte es schon die feinen Sinne des Graufuchses, um sich in diesem Gebüsch zurecht zu finden. Während Itoko leichtpfotig vorauslief, mühte sich Mantis mit den tiefhängenden Ästen, dichten Bambusbeständen und Schlingpflanzen ab.
„Verflixtes Gestrüpp! Elende Astgabeln! Vermaledeite Grüngewächse!“
Ein Knurren ließ sie aufhorchen. Ein Blick nach vorne zeigte ihr, dass es Itoko war, der knurrte. Der kleine Fuchs hatte das Fell gesträubt, was ihm den Anschein einer fluffigen, grauen Wolke gab.
„Was hast du denn?“, fragte Mantis und beschleunigte ihre Schritte.
Itokos Knurren wurde lauter, dann bellte er warnen. Mantis erstarrte.
Sie lauschte auf den Wald um sie herum, auf das leise Rascheln der Salblätter. Nicht weit entfernt zwitscherten ein paar Vögel. Alles schien ruhig und friedlich.
Itoko knurrte und machte dann plötzlich einen Sprung in die Höhe, wie Mantis es von Schneefüchsen bei der Jagd auf Mäuse in deren versteckten Tunneln kannte. Itoko landete jedoch auf der gleichen Stelle wie zuvor und bohrte auch nicht die Schnauze in den Boden.
Etwas bewegte sich.
Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Teil des Bodens, auf den zweiten Blick schien das Ding eine dicke Wurzel zu sein.
Mantis fühlte sich, als würde ihr ein Schwall eiskaltes Wasser über den Rücken laufen. Eine Schlange!
Das Tier war bestimmt fünf Meter lang und dicker als Mantis‘ Oberschenkel. Wenn sich die Schlange nicht bewegt hätte, hätte Mantis sie niemals entdeckt, selbst so verschwammen die Formen des Tieres immer wieder vor ihrem Blick. Über die bräunliche Haut der Schlange huschten Muster, die den Boden darunter – bunte Blätter, helle Steine, schwarzen Torf – perfekt nachahmten.
„Scheiße, Itoko. Eine Tarnviper!“
Der Fuchs knurrte der Schlange mit immer noch gesträubtem Fell hinterher. Glücklicherweise waren die riesigen Giftschlangen nicht besonders aggressiv und traten lieber den Rückzug an. Doch wenn Mantis der Tarnviper zu nahe gekommen wäre und diese sich bedroht gefühlt hätte …
„Ich hasse diesen verdammten Dschungel!“, fluchte Mantis.
Itoko bellte einmal und trabte voran. Mantis folgte ihrem Freund mit schnellen Schritten, während ihr Blick immer wieder misstrauisch über den Boden zu beiden Seiten glitt. So bemerkte sie erst verspätet, dass sich der Dschungel öffnete und kaltes Mondlicht durch die Baumkronen brach.
Die silbernen Strahlen trafen auf ein natürliches Steinbassin, in dem sich klares Wasser angesammelt hatte und an mehreren Seiten in kleinen Wasserfällen zu schmalen Bächen plätscherte. Blaue und weiße Blumen blitzten im Schilf rings um die Bäche auf, während das Steinbassin wie eine absichtlich geformte Badewanne mit unregelmäßiger Oberfläche aussah.
Der Mond spiegelte sich im klaren Wasser des großen Teiches, während einige Nachtvögel sangen.
„Verdammt, ich liebe diesen Dschungel“, murmelte Mantis.
Itoko wuchs neben ihr in die Höhe, als er seine menschliche Gestalt annahm. Die junge Frau, die nun neben Mantis stand, streckte sich und grinste. „Man kann tausendmal hier sein und ist trotzdem immer wieder begeistert!“
Mantis drängte sich grinsend an Itoko vorbei, legte ihren Degen am Teichrand ab und ließ sich mitsamt der Rüstung und Kleidung ins Wasser gleiten.
„Ist das nicht kalt?!“, entfuhr es Itoko.
Mantis nickte. Itoko konnte das Zittern in ihrer Atmung hören, doch äußerlich blieb die Kriegerin gelassen. Trotzdem sprach sie erst nach einer Weile. „Eisbaden ist ja auch sehr gesund. Alles eine Frage der Selbstbeherrschung.“
„Ich muss gestehen, ich bin ein wenig beeindruckt.“ Itoko hüpfte leichtfüßig zu Mantis, die aufkreischte, als ihr Wasser entgegen spritzte und eine Welle über ihren Kopf schwabbte.
„Verdammt, Itoko!“ Prustend tauchte Mantis wieder auf. „Spinnst du?“
Fast gleichzeitig hörten beide schnelle Schritte, die sich dem Teich näherten. Itoko und Mantis wirbelten herum, als Padhi aus dem Dschungel stürzte. Die Halbelfe sah sich panisch um, doch als sie ihre Freunde entdeckte, blieb sie stehen und ihre Gesichtszüge entspannten sich. Energisch bewegte sie die Hände.
„Nein, alles gut“, antwortete Mantis. „Itoko hat mich nur nass gemacht.“
Padhi gestikulierte weiter, so energisch, dass einige unartikulierte Laute aus ihrer Kehle drangen.
„Hey, es tut mir leid, klar? Aber wir wussten doch nicht, dass du in der Nähe bist, und auch nicht, dass du so eine Panikdrossel geworden bist!“, entgegnete jetzt Itoko.
Padhi stöhnte und ließ die Hände sinken.
„Es ist ja nichts passiert“, warf Mantis beschwichtigend ein. „Wie wäre es, wenn du uns jetzt erzählst, was los ist?“
Sofort standen Zweifel in Padhis Gesicht, Angst und Trauer huschten wie Schatten über ihr Antlitz. Mantis behielt ihr Lächeln bei, doch ihre Hand packte den Rand des natürlichen Bassins fester.
Padhi nickte und bedeutete ihnen, noch kurz zu warten. Sie eilte zurück in den Urwald und führte bald ihren Waldelefanten herbei, dessen Führstrick sie an dem Ast eines nahen Baumes befestigte. Das Tier angelte mit dem Rüssel nach den Blättern eines Farns und steckte sich diese in das Maul, um gleich darauf mit dumpfem Mahlen zu kauen.
Padhi straffte sich und trat dann von außen an das Bassin. Da die Steinwälle so hoch waren, war sie trotzdem noch auf einer Höhe mit ihren badenden Freundinnen.
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In der Akademie gab es einen weitläufigen Innenhof, der sich über mehrere Ebenen erstreckte, da an vielen Stellen Treppen auf Dachterrassen führten. Überall war der Boden mit einer dicken Schicht Erde bedeckt, um den Bäumen und Blumenbüschen einen Untergrund zu bieten. Dazwischen versteckt lagen Gehege, meistens Volieren für die vielen bunten Singvögel, deren melodische Rufe in alle Klassenzimmer drangen, doch es gab auch größere Gehege, wo zum Beispiel ein Tiger lebte, der als Jungtier verletzt gefunden und aufgezogen worden war. In einen anderen Käfig dieser Größe brachten Shymron und Siscas nun das gefangene Fischparderweibchen und ihre Jungtiere.
Sie stellten die Wanne im Gehege ab, das neben einigen Verstecken und einer größeren Wiesenfläche vor allem auch einen sauberen Teich beinhaltete. Shymron zückte seinen Stab, während Siscas das Netz von der Wanne zog.
Die Zwillinge sprangen zurück und eilten zum Tor, welches der General hinter ihnen ins Schloss warf. Doch das Parderweibchen hatte nicht einmal versucht, die Wanne zu verlassen. Nun hob es misstrauisch den Kopf und schnupperte.
General Rashadhi versperrte die Tür mit einem goldenen Schloss. Dann drehte er sich zu dem Hasenmenschen um, der gefesselt auf einer Bank in der Nähe lag. Kurz, nachdem die Zwillinge ihn gefasst hatten, war er bewusstlos geworden. Das schmale Gesicht, umrahmt von langen, ungekämmten Haaren wie mit einer Mähne, lag in der Sonne und so konnte man die Narbe gut erkennen, an der Stelle, wo das rechte Auge sein müsste.
„Bringen wir ihn in den Kerker.“