HYPHURION – Die Chronik der Eisenwelt
Tipanyaaris: Palast der weißen Jade
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[1] Dhubaayana
Über den nachtdunklen Wipfeln des Dschungels hing dichter Nebel, der jedes Licht von Sternen und Monden verschluckte. Es war so dunkel, dass selbst die nachtaktiven Raubtiere die Gestalt nicht bemerkten, die lautlos über den von Elfen angelegten Pfad huschte.
Der Unbekannte trug kein Licht bei sich, so gut hatte sich ihm dieser Weg über Jahre hinweg ins Gedächtnis eingebrannt. Ein Licht hätte ihn verraten. So ging er das Risiko der Dunkelheit ein, ohne eine Flamme gegen die Raubtiere, die in den Schatten zwischen den Bäumen lauerten.
Er brauchte keine Waffe und kein Feuer. Der Geruch nach Leid und Angst, der seiner Kleidung anhaftete, für Elfen und Menschen nicht wahrnehmbar, schreckte jede Kreatur der Wildnis ab.
Selbst die Wächterschlangen an den Toren der Akademie wichen lautlos zurück, als der Unbekannte das gut gesicherte Campusgelände betrat. Niemand, dessen Worte das nächtliche Geschehen hätten verraten können, hatte den lautlosen Zutritt bemerkt.
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Die grünen Blätter der Salbäume rieben mit leisem Rascheln gegeneinander. Die reifen Früchte in ihren beigen, flügelartigen Ummantelungen regneten aus den hohen Kronen. Es sah aus, als würden tausende bräunlicher Feen auf der verzauberten Fläche unter den dichten Kronen und über den tieferen Wuchsschichten tanzen, über Farnen und Bambus, Eukalyptus und über den weit verzweigten Wurzeln der Mangroven am Fluss. Affen jagten einander kreischend durch die oberen Äste, ihr wildes Spiel schreckte Schwärme bunter Kanarienvögel auf, die sich schimpfend in den Himmel erhoben.
Das Flussbett war nun, gegen Ende der Regenzeit, schlammig und schwarz. Der neben dem Ufer verlaufende Pfad aus festgetrampelter, rötlicher Erde zeigte noch Spuren, dass er vor kurzem gefegt worden war, doch schon bedeckten neue Samen die Straße. Der kleine, braune Waldelefant setzte die Füße vorsichtig in die freien Flecken zwischen den Pflanzen.
Die kurzen Stoßzähne wiesen das eilig trabende Tier als Weibchen aus. Es trug einen Sattel aus dicken, gewebten Teppichen, die auf den Rücken geschnallt worden waren, und die Zügel waren mit metallenen Klammern an den Enden der runden Ohren befestigt. Diese Zügel lagen in den schmalen Händen der Reiterin, deren blasse Haut die Farbe von Haselnusscreme hatte. Das junge Mädchen trug ein weißes, enganliegendes Gewand, das mit roten Blumen bestickt war. Ein Ziergürtel aus blassgoldenen Ketten lag um ihre nicht besonders gut ausgeprägte Taille, daran baumelte eine kleine Pfeife.
Das Mädchen ruckte an den Zügeln und der Waldelefant verlangsamte seine Schritte. Das dichte Unterholz des Waldes teilte sich vor ihnen und das Elefantenweibchen tauchte in helles Sonnenlicht ein. Sie hatten den großen Vorhof eines prächtigen, bunt bemalten Gebäudes erreicht. Unzählige Kuppeltürme in Blau, Jadegrün und Rot erhoben sich in den strahlenden Himmel, der höchste Turm hatte eine Kuppel aus strahlend weißem Stein, aufgesetzt auf mehrere farbenprächtige, gemusterte Ringe. Das reich verzierte Mauerwerk mit seinen Zierbögen, gemeißelten Durchlässen und Zinnen war ebenso bunt, nur das Fundament dieses Gebäudes war aus eintönigem, braunen Lehm errichtet, der einen kniehohen Streifen nah am Boden bildete.
Menschen in gefärbten Leinenstoffen bevölkerten den Vorplatz und machten dem jungen Mädchen Platz, als es den Elefanten zu einem großen Tor an der Seite führte. Dahinter lagen Ställe mit Säulen aus geschnitzten, elfenbeinweißem Salholz und Mauern aus bemaltem Stein. Die Stallboxen waren für Waldelefanten ausgelegt, wenngleich auch einige Pferde im Stall und auf der durch ein zweites Tor zugänglichen Wiese standen.
Ein Junge mit rötlichbrauner Haut und schwarzbraunen Haaren hielt die Zügel, während der Elefant einen Knicks machte, der es dem Mädchen erlaubte, über das Vorderbein auf den Boden zu steigen. Daraufhin führte der Stallbursche das Tier wortlos ab.
Das junge Mädchen strich die glatten Haare hinter die Ohren. Die Strähnen waren gerade lang genug, um ihr nicht direkt wieder ins Gesicht zu fallen. Nach einem leisen Seufzen richtete sie sich auf und marschierte über den bunt bevölkerten Platz.
Ihre blassere Haut und die nun sichtbaren Ohren mit der kleinen, nach hinten gerichteten Spitze zogen Blicke auf sich. Die meisten Anwesenden auf dem Platz waren junge Elfen, deren Ohren ein ganzes Stück länger waren, und sie hatten rötlichbraune Haut und krause, fast schwarze Haare wie der Stallbursche oder lindgrüne Haut in Kombination mit moosgrünen Haaren und Augen. Selbst die weiße, enge Kleidung hob das Mädchen von seinen Kommilitonen ab, die buntbestickte, weite Gewänder in Erdfarben trugen. Die Menge teilte sich vor der Halbelfe, die so offensichtlich fehl am Platz war.
Trotzdem gab es keine spöttischen Kommentare oder gar Beschimpfungen, während das junge Mädchen mit sichtbarer Nervosität über den Vorhof stolzierte. Nur die Blicke folgten ihr – misstrauische, irritiere und abwertende Blicke.
„Padhi!“
Das Mädchen blieb stehen und drehte sich zu der Person um, die den Namen gerufen hatte. Es handelte sich um eine weitere Außenseiterin, eine alte, blasse Menschenfrau mit silbergrauen Haaren und wachem, violettblauem Blick. Auch sie trug keine weiten Kleider, sondern eine Art Rüstung aus wenigen Metallplatten an Schulter, Brust und Hüfte über einem Hemd mit tiefem, schmalem Ausschnitt und hohen Stiefeln.
Nicht nur die Strapsen und das Hemd, das als Ersatz für eine Hose im Schritt zusammengeknöpft wurde, waren förmlich unangemessen freizügig, die alte Frau trug sogar dunkelrote Farbe auf den dünnen Lippen. Trotzdem lächelte die Halbelfe, die mit Padhi angesprochen worden war, freundlich.
Die alte Frau schlug ihr auf die Schulter. „Wie geht’s dir, Kleine? Du siehst traurig aus!“
Tatsächlichen lag Wehmut in den großen, grünen Augen des Mädchens, doch sie verschwand, als Padhi lächelte. Sie winkte ab und dann legte sie die Fingerspitzen ans Kinn und zog die Hand von dort ein Stück nach unten.
Die Frau lachte herzlich. „Nichts zu danken. Dann erzähl mal, wie war dein Urlaub?“
Wieder bewegten sich Padhis Hände, fast zu schnell, als dass das Auge folgen könnte. Dann hob sie fragend die Augenbrauen.
„Nein, hier war alles ruhig. Herrlich ruhig, so ohne die ganzen verzogenen Elfen. Itoko und ich hatten die ganze Akademie mehr oder weniger für uns. Ah, da ist sie ja!“
Die Frau wandte sich ab und winkte jemandem, der in diesem Moment den Vorhof betrat: Ein Junge mit grauer Haut, silbergrauen Haaren und azurblauen Augen, gekleidet in einfache, türkise und orange Lederkleidung.
„Padhi! Mantis!“, rief der Junge und eilte zu ihnen. Aus den kurzen Haaren ragten, hinter einem geflochtenen Lederband, zwei graue Fuchsohren auf, und ein grauer Fuchsschwanz blitzte unter dem kurzen, türkisenen Rock auf.
Die alte Frau kicherte. „Du hast da was durcheinander gebracht, Itoko!“
Der Fuchsjunge folgte dem Blick der Frau zu seiner Kleidung. Tatsächlich trug er ein zu dem Rock passenden Brustschutz mit fellbesetzten Trägern, sowie ein oranges Schnürmieder, das den flachen, muskulösen Bauch freiließ und unter dem Rock in orange Beinlinge überging, die schließlich in dunkelgrünen Lederschuhen verschwanden.
„Oh“, sagte Itoko. „Ich hätte schwören können, dass ich die richtige Form hatte.“ Er schloss einen Moment die Augen und seine Form veränderte sich. Die Taille wurde schmaler, die Hüften breiter, die Schultern weniger kräftig, und unter dem Brustteil wölbten sich kleine Brüste. Mehrere der Umstehenden beobachteten die Verwandlung befremdet.
„Du Fuchs!“ Mantis grinste breit.
Itoko erwiderte das Grinsen und spitze Eckzähne blitzten auf. „Korrekt.“
Padhi lächelte nicht und bewegte die Hände schnell und heftig.
Mantis verdrehte die Augen. „Nun stell dich nicht so an, Mädchen. Als ob es noch einen Unterschied macht, ob Itoko sich hier oder anderswo verwandelt.“
Padhi gestikulierte weiter.
Mantis schnaubte. „Es gibt keinen Ruf mehr, den wir noch verlieren können. Deswegen sind wir ja die Silbersträhnen – die Außenseiter der Akademie.“
Während sie wütend die Luft durch die Zähne ausstieß, ließ Padhi die Hände sinken. Mantis legte ihr und dem Fuchsmädchen je einen Arm um die Schultern. „Kommt, lasst uns reingehen. Ich könnte einen ganzen Elefant verspeisen.“
Itoko grinste an Mantis vorbei zu Padhi: „Na, wie waren die Ferien bei deinem Alten?“
Padhi tat, als hätte sie nichts gehört.
„Langweilig wie immer, hat sie erzählt“, antwortete Mantis an ihrer Stelle.
„Und seit wann sind wir denn die Silbersträhnen?“, fragte Itoko. „Beim letzten Mal, als du mit einem albernen Namen ankamst, waren wir noch die Nicht-Elfen.“
„Aber Silbersträhnen passt doch!“, protestierte Mantis. „Wir haben meine silberne Haarpracht, den Silberfuchs aus Akijama …“
„Und Padhi?“, fragte Itoko.
„Schwarze Haare schimmern silbern im richtigen Licht“, erläuterte Mantis mit einem immer noch breiten Grinsen. Sie ließ sich nicht davon irritieren, dass Itoko und Padhi beide die Augenbrauen hoben.
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Die Tür zu der kleinen, gänzlich mit Holz eingerichteten und ausgekleideten Kammer, wurde mit einem kräftigen Stoß geöffnet. Die Holztür schlug gegen die Holzverkleidung der Wände und die beiden jungen Elfen, die bis eben an dem kleinen Holztisch Karten gespielt hatten, fuhren von den fein geschnitzten Holzstühlen auf.
„General Rashadhi!”, riefen die Jüngeren fast gleichzeitig und nahmen Haltung an.
Der hochgewachsene Erdelb Zechárias Zaljeem Rashadhi musterte die beiden Jünglinge und die Spielkarten, die sich auf dem Tisch und dem Holzfußboden verteilten. Der dunkelhäutige General bückte sich und hob eine der Karten an, um das detaillierte Muster darauf zu studieren. „Die Elefantenstampede. Spielt ihr Dschungelkopf oder Lengba-Kartenlegen?“
„Sowohl als auch, Sir“, antwortete einer der beiden Elfen zögerlich. Die beiden Mooselfen glichen einander wie ein Haar dem anderen: Sie hatten die hellgrüne Haut und dunkelgrünen Haare ihres Volkes, aber auch die gleichen schmalen, dunklen Augen mit tierischen Pupillen, ähnliche purpurne Zeichnungen auf der Stirn und Gewänder in den gleichen Farbtönen – weiß und beige, mit Akzenten in Gold und Violett.
Auseinanderhalben konnte man die Zwillinge trotzdem. Siscas, der Ältere, trug schulterlanges, ordentlich geschnittenes Haar, das er ordentlich nach hinten gekämmt hatte. Er machte einen zarten, weiblichen Eindruck. Sein Bruder Shymron dagegen hatte kurzes, struppiges Haar. Zusätzlich zu dem Stirntattoo hatte er sich einen purpurnen Miniatur-Drachenschädel und eine Replik schwarzer Drachenschwingen von einer Handbreit Länge einsetzen lassen, die von der Stirn abstanden und über die Haare gingen, sodass es aussah, als würde das Tattoo zum Leben erwachen. Er war es auch, der antwortete, während sein Bruder nur betreten dem Blick des Generals auswich.
„Wir spielen nach den Regeln von Dschungelkopf, aber aus den Karten machen wir eine Geschichte mit den Deutungen der Lengba!“ Shymron grinste schelmisch.
„Verzeiht, Sir“, mischte sich nun Siscas ein. „Wir hatten keine Aufgaben und wollten uns nur die Zeit vertreiben.“
Der missbilligende Ausdruck im Gesicht des Generals wurde weicher und Zechárias Zaljeem lächelte schwach. „Schon gut, Jungs. Ihr müsst mir bei Gelegenheit erzählen, was für eine Geschichte ihr herausbekommen habt.“
Shymron verzog das Gesicht. „Sie ist sehr konfus.“
Der General klatschte in die kräftigen Hände. „Jetzt räumt das Chaos hier auf und holt eure Waffen. Es gab einige Tierangriffe im Osten der Akademie, getötet wurden hauptsächlich Ziegen und eine kranke Kuh. Die Bauern behaupten, es wäre der Tigerkoi. Abergläubisches Pack! Wir sollten der Sache trotzdem nachgehen, denn irgendetwas hat die Tiere ja gerissen und eine Raubkatze so nah am Dorf ist ein großes Problem.“
Die Zwillinge salutierten und der General verließ den Raum. Shymron und Siscas sammelten die Karten ein.
„Siehst du? Ich wusste, dass wir erwischt werden!“, zischte Siscas.
„Na und? Wir haben keinen Ärger bekommen!“ Shymron wertete das als Erfolg.
Wenig später ergriffen sie ihre Waffen, die an der Wand lehnten. Siscas ergriff die Sense mit krummen, schwarzem Stiel und einem wie eine Drachenschwinge gezackten Blatt, Shymron nahm einen schwarzen Stab, der den jungen Elfen noch überragte und dessen oberes Drittel mit violettem Holz überzogen war, dessen Knauf den Kopf eines Drachen nachbildete. Während Siscas einen geschwärzten Schädel aus einem Holzregal nahm, und sich eine Maske in Form eines halbierten Drachenschädels, der die Hälfte seines Gesichtes bedeckte, überzog, stieß Shymron einen Pfiff aus. Im Dach des hohen Raumes, zwischen unzähligen Stützbalken, erklang ein Grollen und dann das Flattern von Schwingen, dann glitt ein etwa lammgroßes, hellgrünes Tier herunter und landete auf Arm und Schulter des leise ächzenden Shymrons.
„Du wirst langsam zu groß, um dich tragen zu lassen!“ Der jüngere Elf kraulte den Moosdrachen, ein hellgrünes Wesen mit Schuppen, Hörnern und Klauen in dunklem Moosgrün und feurigen, orangen Augen. Der Jungdrache fiepte und schloss genießerisch die Augen.
Derartig ausgerüstet traten die beiden Elfen durch die Tür in einen großen Gemeinschaftsraum, von dem viele Türen abgingen. Der General war durch die Öffnung der Außentür zu sehen, wo er in der frühen Sonne stand und wartete. An der Wand neben der Tür stand ein Tisch mit einem großen, ledergebundenen Buch darauf. Siscas nahm die Feder, die neben dem Wälzer bereitlag, und beugte sich über die lange Tabelle, die die ganze Seite bedeckte, und auch alle vorherigen und folgenden Seiten.
Zuerst zögerte er kurz, doch just in diesem Moment erklang das vielstimmige Geläut unzähliger Glocken, silberhell und melodisch, gefolgt von drei tiefen, dröhnenden Schlägen.
„Wie praktisch!“ Siscas grinste und trug ein: Dritter Schlag des Tages – Shymron Seyata Tamhanadhas und Siscas Sedherkerys Tamhanadhas – Untersuchung von Tierangriffen östl. Akademie.
„Gut“, sagte der General, als Siscas die Feder ablegte. „Geht zu den Bauernhöfen, die Hirten erwarten euch. Ich vermute, dass es sich um einen Tiger handelt.“
Die Zwillinge tauschten einen überraschten Blick.
„Seid also vorsichtig“, fuhr der General fort. „Vielleicht übertreiben die Bauern auch. So oder so ist diese Aufgabe eine gute Übung für euch beide.“
Die Zwillinge salutierten erneut, packten ihre Waffen fester und zogen los. Siscas befestigte die Sense hinten an den Metallringen in seiner Taille, klappte die Schneide ein und legte sich das krumme, das außen gebogene obere Ende des Griffs auf die Schulter. Shymron nutzte den Stab wie einen Wanderstock und hüpfte trotz des Gewichts des Drachen auf seinem Arm bei jedem Schritt ein wenig.
General Rashadhi sah den jungen Rekruten mit besorgtem Kopfschütteln nach.