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Drei Schläge der größten Glocke kündigten den Beginn des Schultags an. Padhi, Itoko und Mantis befanden sich zusammen mit unzähligen anderen Schülern im Speiseraum, wo sogar so früh am Tag bereits Sauerbrote, Braten und Obstteller bereitstanden.
Als die Glocken erklangen, brach rege Betriebsamkeit aus. Die meisten Schüler schluckten das Essen eilig herunter und eilten los, so auch Padhi und Itoko. Dem Fuchs hingen noch einige Streifen Speck aus dem Mundwinkel. Padhi legte eine Handvoll Früchte zurück auf ihren Teller, die sie bisher lustlos geknabbert hatte. Beide tauchten in den Strom ein und waren schon fast durch den reich verzierten Torbogen hindurch, als ihnen auffiel, dass Mantis fehlte.
„He!“ Itoko sprang mitten im Strom auf und ab und landete auf dem Fuß eines Elfen, der ein wütendes Zischen ausstieß. „Mantis!“
„Komme!“ erklang ein Nuscheln und ein Arm, der mit einer Fleischkeule winkte, erschien über den Köpfen der Menge. Am anderen Ende des Arms hing eine kauende Mantis mit vollem Mund.
Itoko grinste und gab das Hüpfen auf. „Wieso wundert mich das eigentlich noch?“
Padhi hob beide Hände auf Schulterhöhe und legte den Kopf zu einer Seite.
Als sie in eine große Halle mit luftigen Fensteröffnungen gespült wurden, schloss Mantis wieder zu ihnen auf. Am Ende der Halle führte eine breite Treppe auf einen Absatz, von dem zwei geschwungene Treppen zu den Seiten und auf die breite Galerie führten. Von der Galerie gingen die Klassenzimmer ab, wie die unzähligen, spitzbogigen Doppeltüren anzeigten. Über den Türen kamen Licht und Luft durch kleeblattförmige Öffnungen im bunt bemalten Stein.
Auf dem Absatz am Ende der breiten Treppe stand ein hochaufragender Erdelf, rötlichbraune Haut und schwarzbraune Locken, schlank und hochgewachsen, mit tief eingefallenen Wangen und sehr schmalen, hellgrünen Augen, gekleidet in eine dunkle Robe nach der Mode von Akijama. Sein Blick suchte Padhi in der Menge, die schnell die Augen niederschlug, und streifte dann missbilligend ihre beiden Begleiter, die alte Frau in Elfenrüstung und dem Silberfuchs in Gestalt eines grauhäutigen Mädchens.
„Willkommen!“ rief der Mann und fast sofort senkte sich Schweigen über die Schüler. „Herzlich Willkommen zu einem neuen Schuljahr an der Universität von Dhubaayana! Für die Neulinge unter euch – ich bin Namin Nephelis Upadhy, der Leiter dieser Akademie. Ich werde euch nun wie jedes Jahr in Klassen einteilen, und euch der Lehrkraft zuweisen, die euch im Laufe des nächsten Schuljahrs in der Kunst höherer und niederer Magie unterrichten wird. Also dann … wenn ich euren Namen vorlese, tretet bitte nach oben und geht in euer jeweiliges Klassenzimmer.“
Mehrere Schüler starrten Namin Nephelis mit offenen Mündern an, als er eine große, hölzerne Schriftrolle hervorzog, diese entrollte und die Namen darauf verlas. Obwohl sich Dhubaayana am Fuß der Tori‘Nai-Berge und damit in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt Akijama befand, waren die Schriftrollen und der Kleidungsstil der Elfenmetropole in den Dschungeln eine Seltenheit.
Namin begann mit den ältesten Schülern, die die Ausbildung voraussichtlich im Laufe des Jahres abschließen würden. Wie immer gab es einige erfreute Aufschreie, wenn jemand während dieser ersten Runde unerwartet den eigenen Namen zu hören bekam. Bald strömten die Schüler in zwei langen Linien zu beiden Seiten Namins nach oben, über die geschwungenen Treppen auf die Galerie und in die Klassenzimmer. Wie jedes Jahr wurde allerdings niemand der Silbersträhnen aufgerufen. Mantis‘ Magie war nur sehr schwach ausgeprägt, außerdem war die Menschenfrau nur an der Akademie, um zu lernen und hatte keine Ambitionen, irgendwelche Prüfungen zu machen. Ähnlich stand es mit Itoko, der Fuchs verbrachte mehr Zeit außerhalb der Studienräume, und die wenige Zeit innerhalb der Räumlichkeiten machte er alles, außer dem Unterricht zu folgen.
Und was Padhi anging … ihr Vater erwartete nichts geringeres als einen perfekten Abschluss. Dafür würde er sie notfalls Jahrhunderte studieren lassen.
Nach den Abschlussschülern wurden alle anderen verteilt.
„Itoko Karmacatl.“
Während Namin weiterlas, drehte sich Itoko zu den anderen um. „Habt ihr zugehört? Welches Klassenzimmer bin ich?“
Padhi formte mit den Fingern mehrere Buchstaben.
„Kairas Kanpadi Nambisdad? Echt?“, fragte Mantis.
Padhi nickte.
„Das ist doch der Kampfmagier, oder?“ Itoko staunte und wirkte zum ersten Mal in seiner Schulkarriere tatsächlich neugierig auf den Unterricht.
Padhi nickte heftig und formte weitere Zeichen.
„Kampfmagie und Verwandlungen!“, übersetzte Mantis und Itoko lachte ungläubig auf.
Padhi zuckte mit den Schultern.
Wenig später rief Namin: „Mantis Mihaylis Janiwhar.“
„Ich fass es nicht – ich bin im gleichen Kurs wie Itoko!“ Die alte Kriegerin staunte nicht schlecht und eilte dem Silberfuchs nach.
Padhi brauchte nicht lange zu warten, bis sie selbst aufgerufen wurde: „Padhi Panyiota Upadhy.“ Noch immer war es die Liste mit Nambisdads Schülern. Padhi konnte ihr Glück nicht fassen. Sie würde das ganze Jahr zusammen mit ihren Freunden verbringen können! Ihr Vater, der für die Einteilung der Schüler zuständig war, musste das absichtlich getan haben.
Noch immer ungläubig setzte sie sich in Bewegung und zog wie alle anderen Schüler an der streng aufragenden Figur von Namin Nephelis Upadhy vorbei. Padhi warf ihrem Vater einen fragenden Blick zu. Namin legte den Kopf leicht schief und berührte mit den Fingerspitzen seine Brust direkt über dem Herzen. Was immer dich glücklich macht.
Padhi legte die Hände vor der Brust flach gegeneinander und verneigte sich leicht. Ihr Vater wischte den Dank mit einer unwirschen Bewegung beiseite und dann waren sie aneinander vorbei und Padhi stieg weiter nach oben, einem neuen Schuljahr entgegen.
Kairas Kanpadi Nambisdad war ein recht junger Lehrer mit rötlicher Haut und dunkelrotem Haar, ein Feuerelf, der sogar passenderweise die Elementarmagie des Feuers beherrschte. Er stand vorne am Pult im Klassenzimmer, wo sich bereits etwa zehn Schüler auf dem mit bunten Teppichen bedeckten Boden versammelt hatten. Als Padhi eintrat, blickten Mantis und Itoko auf, wie vermutlich auch bei jedem Schüler, der vorher eingetreten war.
Auf den Gesichtern ihrer Freunde malte sich ungläubiges Staunen aus. Padhi musste unwillkürlich grinsen und rannte förmlich zu ihren Freunden, um sich neben ihnen auf den Boden fallen zu lassen.
„Hat dein Vater seine Meinung über uns geändert?“, fragte Mantis, nachdem die drei Silbersträhnen einander überglücklich umarmt hatten.
Padhi zuckte die Schultern und gab gestikulierend das stumme Gespräch mit ihrem Vater wieder.
„Er hat eben doch ein gutes Herz!“ Mantis lächelte und biss herzhaft von der Fleischkeule ab, die sie immer noch in der Hand hielt. Sie kaute schmatzend.
Als sich schließlich auch der letzte Schüler im Klassenzimmer eingefunden hatte, war die Keule restlos verputzt und Mantis wischte sich den Mund mit einem groben Tuch ab.
Nambisdad klatschte in die Hände und erhob das Wort: „So … guten Tag, Schüler! Ich bin Kairas Kanpadi Nambisdad und unterrichte Transformationsmagie und den Einsatz von Magie zur Selbstverteidigung. Dann stellt euch doch mal bitte der Reihe nach vor: Wie heißt ihr und was sind eure Fähigkeiten?“
Nacheinander standen die Schüler auf. Es dauerte nicht lange, bis die drei Freunde an der Reihe waren, denn Itoko drängelte sich eilig nach vorne. Mantis stieß Padhi an: „Hast du unseren Fuchs schon einmal so erlebt?“
Padhi grinste und schüttelte den Kopf.
„Und wie ist dein Name, junge Dame?“, fragte Nambisdad die neu entdeckte Streberin.
„Itoko Karmacatl!“, stellte sich Itoko artig vor.
„Ein interessanter Name“, sagte Nambisdad und musterte Itokos Halskette, ein Lederband, an dem ein weißer Zahn befestigt war. „Von welchem Tier ist der?“
„Von einem Silberfuchs!“, antwortete Itoko.
„Aus Akijama?“, fragte der Lehrer zurück und wirkte erstaunt. „Und der Fellbesatz auch, nicht wahr? Das muss doch ein Vermögen gekostet haben!“
Padhi und Mantis schlossen für einen Moment die Augen, während sich ein glückliches, überlegenes Lächeln auf Itokos Gesicht breitmachte. „Eigentlich musste ich nur eine Freundin bitten, mich zu bürsten. Und der Zahn ist noch ein Milchzahn.“
Vor den Augen des erstaunten Lehrers verschwand Itoko und an ihrer Stelle saß nun ein silbergrauer Bergfuchs im Klassenzimmer. Itoko lief schwanzwedelnd durch das Klassenzimmer. Schüler sprangen erschrocken zur Seite oder streckten lachend die Hände aus, um den Fuchs zu streicheln.
„Dabei haben die Ohren ihn ja schon verraten“, flüsterte Mantis Padhi zu.
Padhi bewegte die Hände. Hätte ja auch ein Mischling sein können.
„Ach, komm, so selten sind Tiermenschen hier nicht!“, beschwerte sich Mantis so laut, dass einige andere Schüler sich zu ihnen umdrehten.
Itoko sprang in die Luft und seine Formen verschwammen. Im nächsten Moment glitt ein Fisch aus nebelhaften, silbrigen Linien durch den Raum, flitzte unter die Decke, umkreiste den Lehrer.
„Jetzt gibt er nur noch an!“, stöhnte Mantis, während die Forelle die anderen Schüler zu übermütigen Fangversuchen animierte.
Itoko verwandelte sich zurück in ein Mädchen, stemmte die Hände in die Hüften und grinste stolz.
Nambisdad klatschte. „Wundervoll! Eine tolle Vorstellung!“
Itoko sprang auf das Lob an und verbeugte sich überschwänglich, worauf die anderen Schüler ebenfalls klatschten und johlten.
„Kneif mich mal“, flüsterte Mantis. „Ist unser ewiger Rebell gerade zum Klassenclown geworden?“
Padhi kniff ihre ältere Freundin, die aufschrie. Worauf sich die Aufmerksamkeit auf sie beide richtete.
„Alles in Ordnung?“, fragte Nambisdad.
Mantis nickte.
„Nun …“ Nambisdad sah sie auffordernd an und Mantis stand auf.
„Mantis Mihaylis Janiwhar.“
„Ein Mensch in Elfenrüstung?“, fragte Nambisdad, um Mantis einen Ansatz für ihre Vorstellung zu bieten.
Mantis nickte grinsend und zog den Degen. Sie hielt die Waffe vor sich, legte die flache Hand an die Klinge und murmelte: „Hoffen wir mal, dass ich es noch drauf habe!“
Dann wirbelte sie die Waffe so schnell herum, dass der Stahl melodisch vibrierte. Im nächsten Moment tanzte die alte Frau agil wie eine junge Elfe durch den Raum, fast schon schneller, als das Auge sehen konnte. Die Rüstung hinterließ blaue Schatten, das Gold des Degens feine Linien aus Licht, die noch eine Weile schimmernd in der Luft lagen. Mantis und die Waffe verschmolzen zu einem klingenden, blaugoldenen Nebel, der so traumhaft schön aussah, dass man die tödliche Gefahr dieser Kampftechnik beinahe vergessen könnte. Dann stolperte Mantis in die Mitte des Raumes und steckte keuchend und schweißüberströmt den Säbel weg.
Erneut wurde geklatscht. Mantis zögerte einen Moment, zwinkerte Itoko zu und verbeugte sich dann ebenfalls. Itoko verschränkte die Arme vor der Brust, als dem Fuchs das Publikum gestohlen wurde. Sie pfiff und wenig später sauste ein graues Tier durch eines der Fenster, segelte auf silbergrauen Schwingen durch den Raum und landete auf Itokos ausgestrecktem Arm.
„Ein Silberfalke?“, fragte Nambisdad überrascht und musterte das schimmernde, blauäugige Tier.
„Hatte ich fast vergessen.“ Itoko suhlte sich in erneuter Aufmerksamkeit. „Das ist Okoti, mein Seelenführer!“
Mantis schnaubte und flüsterte: „Angeber“, was nur Itoko mit ihren feinen Ohren, Padhi und einige Nahsitzende hörten.
Nambisdad entging der Zwist zwischen den beiden nicht. Er klatschte in die Hände, um weitere Auseinandersetzungen im Keim zu ersticken, und sagte: „Nun wollen wir mal sehen, was eure Freundin kann.“
Alle Blicke ruhten auf Padhi. Sie schluckte, stand auf und strich ihr weißes Kleid zurecht. Ihr war schwindelig.
„Wie heißt du?“, fragte Nambisdad, der ihre Angst vermutlich sofort bemerkte, mit einem sanften Lächeln. Padhi bewegte nervös die Finger.
„Das ist Padhi Panyiota Upadhy“, sagte Mantis ruhig. Sie war auf der Stelle ernst geworden. „Sie ist stumm.“
„Oh, verzeih mir.“ Nambisdad verbeugte sich leicht.
Padhi machte eine wischende Handbewegung. „Es ist schon in Ordnung, das konntet Ihr ja nicht wissen“, übersetzte Mantis.
„Nun, Padhi“, setzte Nambisdad an. „Welche Kräfte hast du?“
Er sah immer noch Padhi an, mit einem Blick, der sie wohl ermutigen sollte. Sie fühlte sich im Zentrum der Aufmerksamkeit einfach unwohl. Die Stimme ihres Vaters klang ihr im Ohr: „Du musst immer einen guten Eindruck machen.“
Sie hob die Arme und formte Zeichen. Mantis übersetzte weiter: „Ich bin Illusionistin. Meine Macht ziehe ich aus Edelsteinen. Dabei kommt es auf den Stein an, mit manchen kann ich gut arbeiten, andere passen weniger zu mir.“
Sie verbeugte sich mit vor der Brust aneinandergelegten Händen.
„Du hast wohl keinen Stein bei dir“, meinte Nambisdad. „Wie schade, ich hätte gerne eine Vorführung gesehen. Welchen Stein bevorzugst du?“
Padhi überlegte nicht lange. Fast schon von selbst bewegten sich ihre Finger, so hastig, dass Mantis unmöglich folgen könnte. Doch auch die Menschenfrau kannte Padhis Lieblingsstein inzwischen.
„Weiße Jade“, antwortete sie also.