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Sie huschten geduckt durch ein großes Feld aus Bambus. Die Blätter der schlanken Bäume raschelten über ihren Köpfen.
Wenn auch nur das kleinste Geräusch ertönte, blieben sie stehen. Doch sie hatten Glück. Die meisten Wachen suchten sie am Fluss und an den Brücken.
Der junge Wächter Shymron hatte sich so weit gefangen, dass er das Verhalten seiner ehemaligen Brüder erklären konnte. „Falls wir entkommen, wäre das eine Katastrophe für sie. Die Wachen suchen zuerst außen, bei den Brücken und am Fluss, überall dort, wo ihr vom Gelände fliehen könntet. Dann wird der Ring immer enger gezogen.“
Itoko schluckte unwillkürlich. „Und wir tappen gerade in die Falle.“
„Ihr erinnert euch doch noch, was Manri gesagt hat, oder?“, fragte Mantis mit fester Stimme. In dieser Stunde kam die Kämpferin in ihr zum Vorschein, stärker als je zuvor. „Was auch immer er gesehen hat, er sah es im Keller. Im Keller der Akademie! Wenn wir dieses Geheimnis jemals lösen wollen, dann können wir es nur auf diese Art!“
Sie sprach damit genau das aus, was auch Padhi dachte, aber nicht zu formulieren gewagt hatte. Dass ihr Vater sie gefangen genommen hatte, war der letzte Beweis gewesen, den sie gebraucht hatte.
Etwas ging in der Akademie vor sich. Etwas Schreckliches, das ihr Vater unbedingt verbergen wollte. So sehr, dass er seine eigene Tochter töten würde.
Sie spürte Tränen in ihren Augen, als sie an seinen wütenden und trotzdem gequälten Gesichtsausdruck zurückdachte. Er hatte immer gesagt, dass ihr Gesicht ihn an Padhis verstorbene Mutter erinnerte. Wieder und wieder. Es war förmlich sein Gutenachtlied gewesen.
Was konnte so wichtig sein, dass er dafür sogar diese Erinnerung vernichten würde?
Sie sah eine Bewegung und fuhr zusammen, doch es war nur die Flagge von Dhubaayana, die über dem Nebeneingang im Wind wehte. Grün, mit einem silbernen Elefanten unter einem Stern. Die Tür darunter war nicht bewacht. Und auch der Gang, der sich anschloss, war verlassen.
Inzwischen hatte Shymron schweigend die Führung übernommen. Er wusste, wo der Eingang zum Keller lag und strebte zielsicher eine der vielen Türen an. Hinter dieser befanden sich Treppen, die in einem engen, gewundenen Gang nach unten führten.
Er legte den Finger auf die Lippen und schlich dann nach unten. Die Silbersträhnen folgten.
Die Keller der Akademie stellten sich als verwirrendes Labyrinth unendlicher Gewölbe, Flure und Hallen heraus, schwach beleuchtet und nur erfüllt vom Widerhall ihrer Schritte und vom Staub. Es gab unzählige Lager und Keller, manche schienen häufig benutzt zu werden, andere waren vergessen worden. In den zahlreichen Nischen in den Wänden fanden sie nicht selten Schlafplätze aus gestohlenen Tüchern, kleine Verstecke mit Lebensmittel oder ähnliche Spuren.
„Die Schmarotzer sind uns schon lange ein Dorn im Auge gewesen“, berichtete Shymron im Flüsterton. „Manri muss ebenfalls hier gelebt haben, insgesamt sind es sicherlich fünfzig Individuen, die sich in den Kellern verstecken. Sie stehlen Essensreste aus der Küche und ausrangierte Wäsche aus der Wäscherei. Meist nehmen sie so wenig, dass es erst auf die Dauer auffällt.“
„Was für ein schreckliches Leben“, meinte Mantis betroffen. „Die armen Existenzen. Verstecken sich hier und hungern …“
Sie fanden auch immer wieder Verstecke, deren Lebensmittel verdorben waren. Offenbar waren die Besitzer nicht zurückgekehrt.
Schließlich stieß Itoko hinter einem Wandvorhang auf eine herausgebrochene Nische im Mauerwerk. In dem Loch kauerte ein Skelett, das schon ganz morsch war. Der Fuchs stieß einen leisen Schrei aus und wich zurück, der Wandteppich schlug gegen das Mauerwerk und eine Staubwolke erhob sich.
„Müssen wir jetzt auch so sterben?“, fragte Itoko mit zitternder Stimme. Obwohl der Fuchs noch weibliche Kleidung trug, hatte er inzwischen den männlichen Menschenkörper angenommen. Das tat Itoko nur, wenn sie einen Kampf erwartete, denn in Jungengestalt hatte er einen besseren Schwerpunkt und mehr Körperkontrolle.
„Wir kommen hier raus“, knurrte Mantis durch die zusammengebissenen Zähne.
Padhi spürte einen Schauer. Sie drehte den Kopf und sah zu einem der Durchgänge, die in ihren Tunnel führten.
Ohne zu zögern eilte sie auf den Torbogen zu und hindurch.
„Padhi, warte!“, rief Mantis. Die drei eilten dem Mädchen nach.
Hinter dem Torbogen führte eine breite Treppe nach unten. Hier lag weniger Staub. Padhis Schritte wurden immer schneller, denn sie spürte etwas, eine rätselhafte Macht, die sie rief. Fast glaubte sie, zu hören, wie etwas im Wind ihren Namen flüsterte.
Sie flog die Stufen förmlich hinab. Mantis, Itoko und Shymron hatten Schwierigkeiten, sie einzuholen.
Am Fuße der Stufen befand sich eine Halle aus Stein, mit einem aufwendigen Mosaik auf dem Boden, das an eine Sonne oder – der bläulichen Farbe wegen – an eine Blume erinnerte. Gegenüber der Treppe erhob sich eine gut gesicherte Tür. Die Riegel waren jedoch auf ihrer Seite.
Fackeln zu beiden Seiten des Tors erleuchteten den Raum schwach. Die Blume schien sich im flackernden Licht zu bewegen.
„Das ist es, oder?“, hauchte Itoko. „Alles an dieser Tür schreit ‚Geheimnis‘. Woher … woher wusstest du das, Padhi?“
Sie kam nicht dazu, zu antworten. Als sie die Hände hob, schlugen plötzlich blaue Flammen aus dem Ring der Blume am Boden, und aus dem festen Stein wuchs plötzlich eine Gestalt in die Höhe. Es schien, als würden die Schatten zusammenfließen, um das Wesen zu bilden.
Sprachlos starrten die vier auf eine blasshäutige Frau mit bloßem Oberkörper. Eine Kette aus blauen Perlen hing ihr bis zum Bauchnabel. Mehrere gleichartige Ketten bildeten den breiten Gürtel eines luftigen Kleidungsstückes, dessen Form an einen Rock erinnerte, obwohl der Stoff in der Mitte zusammenlief und es sich darum wohl eher um eine Hose handelte. Klimpernde, dicke Ohrringe aus Gold hingen in ihren Ohren, auf dem blauen Haar saß ein Reif mit einer goldenen Perle in der Mitte.
In der Hand hielt sie einen breiten Säbel.
„Wer wagt es, sich der Pforte zu nähern?“, fragte sie mit donnernder Stimme.
„Was ist das?“, kreischte Itoko.
„Eine Yakshi“, stammelte Shymron. „Eine mächtige Wächterin.“
„Ich bin Elyada Feidha und ich hüte diese Pforte!“, verkündete das Wesen.
Mantis trat vor und rief mit selbstbewusster Stimme: „Universitätsleiter Upadhy schickt uns! Wir sind in Begleitung seiner Tochter Padhi und verlangen Einlass.“
Die Yakshi sah die vier einen Moment überrascht an, dann lachte sie. „Ihr seid dreist, Eindringlinge. Aber eure Tricks könnt ihr euch sparen. Mein Meister gewährt Anderen niemals Zutritt, und was seine Tochter angeht – ich habe spezielle Anweisungen, genau sie niemals passieren zu lassen.“
Mit einem wortlosen Schrei stürzte Mantis vor. Sie bewegte sich so schnell, dass kein Blick ihren Bewegungen folgen konnte. Die Anderen nahmen nur blaue und goldene Linien wahr. Dann schlug Metall auf Metall. Mantis stand vor ihnen, das Schwert in der Hand. Die Yakshi hatte den Schlag auf ihren Kopf mit dem goldbereiften Arm abgeblockt. Dann schwang Elyada ihren Säbel.
Mantis wich nach hinten aus. Einen Moment war die alte Frau zu sehen, wie sie keuchend Atem schöpfte, dann sprang sie nach vorne und wurde zu einem Gitternetzwerk leuchtender Blitze, die die Yakshi umkreisten. Elyada wehrte die nicht sichtbaren Angriffe ab, das Klirren und Klingen von Metall füllte die Halle. Wie gebannt sahen die drei anderen zu, bis plötzlich ein Schrei ertönte. Mantis stolperte rückwärts aus der Lichtwolke heraus und hielt sich die Seite. Ein langer, jedoch zum Glück nicht besonders tiefer Schnitt zog sich über ihre Rippen und den Bauch.
„Mantis!“ Itokos Schrei ging in einem Knurren unter, als der Fuchs in seiner wahren Gestalt in den Kampf eingriff und nach dem Knöchel der Yakshi biss. Sie trat nach Itoko. In der Zwischenzeit griff Mantis an, nun in gewöhnlichem Tempo.
„Ahh!“ Auch Shymron lief nach vorne. Padhi sah sich nach einer Waffe um und entdeckte die Sense von Siscas, die Shymron bis hierher mitgeschleppt hatte.
Die Halbelfe ergriff die Waffe und lief zu ihren Freunden. Sie schwang die Waffe auf den Kopf der Yakshi zu.
Elyada Feidha, Wächterin der geheimnisvollen Pforte, war eine grandiose Kriegerin, doch mit vier wildentschlossenen Gegnern auf einmal geriet auch sie in Bedrängnis. Sie schlug um sich, aber selbst die im Kampf ungeübte Padhi bemerkte, dass sich die Yakshi bemühte, ihre Angreifer nicht zu verletzen. Die Wunden, die ihr Säbel zufügte, waren schmerzhaft, aber flach und harmlos. Wenn sie wollte – oder dürfte – hätte Feidha sie alle innerhalb von Sekunden getötet.
Padhi trat zurück und signalisierte ihren Freundinnen: Hört auf!
Im Kampf bemerkte es natürlich niemand. Padhi packte die Pfeife und blies hinein.
Jetzt wandten sich ihr alle Köpfe zu. Selbst die Yakshi ließ die Arme sinken.
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„Was sagt sie?“, fragte Shymron, als Padhi die Hände bewegte.
„Der Kampf hat keinen Zweck, wir würden die Yakshi nur töten“, übersetzte Mantis und drehte sich mit breitem Grinsen zu Elyada Feidha um. „Siehst du? Wir sind besser!“
„Meine Befehle besagen, dass euch kein Haar gekrümmt werden darf“, sagte die Yakshi. „Doch passieren dürft ihr ebenfalls nicht.“
„Wie wär’s, wir machen einen Deal.“ Mantis stützte sich auf ihren Degen und grinste blutig. Sie musste einen Schlag gegen das Kinn abbekommen haben. Shymron hinkte, Itoko hatte büschelweise Fell verloren und auch Padhi hatte einen Schnitt an der Wange abbekommen. Winzige Hinweise darauf, dass sie eigentlich tot wären.
„Du lässt uns durch, und wir lassen dich leben“, schlug Mantis vor.
„Ich … kann nicht“, beharrte die Yakshi.
„Aber du kannst uns auch nicht verletzen. Denn wir werden erst aufgeben, wenn diese Tür offen ist. Nichts kann uns aufhalten, nur der Tod – du darfst uns aber nicht töten.“
„Aber hinter dieser Tür …“ Die stolze Miene der Yakshi zeigte Risse und sie sah zu Boden. „Wollt ihr sie wirklich durchschreiten? Ihr habt keine Ahnung, was euch dort erwartet. Es wird euch und eure Welt für immer zerstören. Besonders du, Padhi Panyiota Upadhy, solltest nicht eintreten. Wenn du es dir wünscht, bist du eine Närrin. Ihr kennt den Preis nicht, den ihr dann zahlen werdet.“
Itoko bleckte selbst in Menschengestalt die Zähne. „Wir wollen endlich wissen, was hier gespielt wird! Zwei unserer Freunde sind tot wegen dem, was auch immer hinter dieser Tür liegt.“
„Du spricht von Aionas Manri, nicht wahr?“, fragte die Yakshi traurig. „Auch ihn habe ich gewarnt, doch seine Angst vor den Wachen war stärker. Er hat es bitter bereut.“
„Geh. Zur. Seite.“ Mantis trat vor. „Ich bitte nicht noch einmal.“
Die Yakshi seufzte. „Wie ihr wünscht. Ihr habt mich im Kampf besiegt, oder jedenfalls hättet ihr es. Der Befehl meines Meisters ist damit nichtig.“
Damit versank sie ebenso plötzlich im Boden, wie sie daraus erwachsen war. Stille senkte sich über den Raum und die vier traten vor die Pforte.
Schweigend entriegelten sie die Tür, lösten die Ketten und dann zogen sie mit vereinten Kräften, zwei auf jeder Seite, die Portale auf.
Bei dem Anblick, der sich ihnen nun bot, stockte ihnen der Atem.