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Gegen Mittag erreichten Shymron und Siscas das östliche Tor. Eine Brücke aus weißlichem Salholz führte über den breiten Fluss, der das Gelände der Universität auf dieser Seite begrenzte. Gemeinsam mit dem dicht gepflanzten Bambus am Westufer bildete er auch eine zuverlässige Barriere gegen die meisten Bewohner des Monsunwaldes. Ganz zu schweigen von der Magie, die dem Torbogen über der Brücke innewohnte.
Die Tamhanadhas-Zwillinge überquerten die Brücke mit nahezu lautlosen Schritten. Shymron kraulte den Moosdrachen, der aufgeregt gurrte und mit den Flügeln schlug. „Du freust dich schon, was, Mibbi? Ein wenig Geduld noch, Kleiner.“
Die Höfe der Bauern lagen ebenfalls am Fluss. Auf einer weiten Fläche waren die mächtigen Salbäume abgeholzt worden und das Waldgebiet in Äcker und Weiden umgewandelt worden. Ein Gitternetzwerk von Zäunen aus grünem Bambus oder weißem Salholz durchzog die Felder, dazwischen erhoben sich einfache Bambushütten wie große Würfel, die man im Gras verstreut hatte. Wege aus roter Erde führten von einem Punkt zum anderen und waren vor kurzem erst gefegt worden, um zu verhindern, dass die Samen der Salbäume irgendwo Wurzeln schlugen.
Als Shymron und Siscas die Pfade betraten und aus dem Schatten des Waldes tauchten, wurden sie sofort gesichtet. Mehrere Hirten eilten auf sie zu und zerrten sie förmlich zu der Stelle, wo auf einer der äußeren Weiden eine Kuh gerissen worden war.
„Es war der Tigerkoi! Er sucht unser Dorf heim!“, rief eine Käserin, die anderen Frauen und die Hirten nickten bestätigend.
Vier Ziegen waren vorher verschleppt worden, berichtete man den Wächtern, die Kuh musste dem Tiger zu schwer gewesen sein. Siscas beugte sich vor und strich durch das Fell der toten Kuh. Shymron wimmelte die aufgeregt durcheinandersprechenden Hirten ab.
„Und?“, fragte er, nachdem die Menschen sich zu ihrer Arbeit zurückgezogen hatten.
Siscas drehte den Kopf der gerissenen Kuh vorsichtig und betrachtete die Bisswunde an der Kehle, dann die tiefen Kratzer auf den Schultern des Tieres.
„Es ist sie von oben angesprungen und direkt an die Kehle. Ein Tiger wäre von der Seite gekommen, sie sind zu schwer, um auf einen Baum oder so zu klettern.“
Siscas sah zum Wald herüber. Shymron setzte den Moosdrachen ab. „Such, Mibbi!“
Das grüne Reptil schnupperte an der Wunde und lief dann leicht watschelnd in den Wald. Shymron und Siscas ergriffen ihre Waffen und folgten dem Drachen, ohne dass ihre Füße auf dem Boden ein Geräusch verursachten.
Mibbi lief, flatterte ein Stück in die Äste eines nahen Baumes und flog von dort weiter.
„Was machen wir, wenn es doch ein Tiger ist?“, flüsterte Siscas.
„Ich dachte, du hättest gesagt …“, meinte Shymron überrascht.
„Die Spuren deuten trotzdem auf eine Großkatze hin. Vielleicht ein junger Tiger“, antwortete Siscas.
Shymron packte seinen Stab fester. „Dann tun wir das, was wir gelernt haben!“
Mibbi fiepte und erstarrte plötzlich auf einem Ast. Siscas fasste unwillkürlich nach Shymrons Arm und klammerte sich an ihn.
Mibbi machte eine Bewegung nach hinten, und im nächsten Moment wurde der Drache von einem großen, grauen Wesen angesprungen.
„Mibbi!“, schrie Shymron entsetzt auf. Der graugefleckte Fischparder packte den Moosdrachen mit den Pranken und schnappte nach Mibbis Hals. Der Drache nahm fauchend den Kopf zurück und spuckte grünliche Tropfen. Mit einem Kreischen wie eine Katze, der man auf den Schwanz getreten war, fuhr der Angreifer zurück. Mibbi setzte sofort nach.
„Mibbi, Halt!“, rief Shymron. Der Parder stolperte und fiel auf die Seite. Mibbi, der sich auf den nun wehrlosen Gegner stürzen wollte, hielt auf Shymrons Befehl hin inne.
Das graue Katzentier, dessen Hinterleib in einen schuppigen Fischkörper überging, lag bewusstlos auf der Seite, die grünen Augen glitzerten durch die halb geschlossenen Lider. Stille legte sich über den Wald. Nicht ganz – plötzlich hörten die Zwillinge leises Maunzen. Siscas und Shymron tauschten einen verwunderten Blick. Sie gingen um den Baum herum, auf dem Mibbi angegriffen worden war, und entdeckten nicht weit entfernt eine leicht geflutete Erdhöhle. In der schlammigen Pfütze plantschten vier kleine, flauschige Parderkätzchen.
„Ein Muttertier!“, erkannte Shymron, der den leise grollenden Moosdrachen auf den Arm nahm.
„Sie ist spät dran“, meine Siscas leise. Die Regenzeit war vorbei, doch die jungen Kätzchen waren noch etwas zu klein, um an Land zu gehen. Die Erdhöhle war in die Tiefe gebohrt, sodass sich Wasser darin angesammelt hatte, doch die Pfütze war bereits sehr klein für die vier Kätzchen mit Fischschwänzen.
„Was tun wir mit ihnen?“, fragte Siscas seinen Bruder.
„Fischparder stehen unter Schutz, nicht wahr?“, fragte Shymron mit einem leisen Seufzen. „Hierlassen können wir sie nicht, dann wird das Weibchen weiter Vieh jagen. Entweder wir suchen im Wald nach einem geeigneten Ort für die Jungtiere oder … oder wir nehmen sie mit zur Akademie.“
Siscas nickte. Das waren auch seine Gedanken gewesen. Nachdenklich betrachtete er das schnell und flach atmende Weibchen. Fischparder waren nur wenig größer als eine Ziege, trotzdem waren sie alles andere als ein Haustier, das man einfach so in einem Schulgebäude halten sollte.
„Bleib du hier, Mibbi wird dich warnen, falls die Mutter aufwacht“, entschied Siscas. „Ich berichte General Rashadhi und frage ihn, was wir tun sollen.“
Shymrons Gesicht verfinsterte sich. „Beeil dich aber, ja?“
Siscas lächelte beruhigend, obwohl die Geste dank der Drachenschädelmaske nur zur Hälfte zu sehen war. „Ich bin noch vor Einbruch der Nacht zurück!“
Unwillig sah Shymron zum Himmel – es war gerademal Mittag. Er nickte schicksalsergeben und ließ sich im Schneidersitz neben dem bewusstlosen Parderweibchen nieder. Die Fischflosse zuckte und Shymron packte den Kampfstab instinktiv fester.
Nach einem letzten Blick auf seinen Bruder eilte Siscas in den Wald.
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„Was war denn nur los?“, fragte Itoko, als die Klasse zur Mittagspause entlassen wurde und in den Speisesaal strömte. Noch immer ächzten die Tische hier unter diversen Speisen. Obwohl es unmöglich schien, hatte das Personal riesige Schüsseln mit weißen, roten und gelbem Reis zwischen die restlichen Teller gequetscht. Die Schüler bedienten sich an Sauerbrot, Reis und dem reichhaltigen Angebot an gebratenem Gemüse und scharf gewürzten Fleischstückchen. Genau wie die Silbersträhnen nahmen verschiedene kleine Gruppen sich jeweils eine große Tonschale, füllten diese zuerst mit Brot und dann mit den gewünschten Zutaten, und ließen sich auf einem freien Stück Fußboden im Kreis um die Schüssel nieder.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst“, erwiderte Mantis mit unschuldigem Blick. Sie häufte Fleischkeulen auf die Schüssel, die Padhi in den Händen trug.
„Du weißt genau, was ich meine!“ Itoko wies mit dem Finger anklagend auf die alte Kriegerin. „Du wolltest allen zeigen, dass deine Fähigkeiten beeindruckender sind als meine!“
„Ich wollte dich davor retten, deinem eigenen Wesen untreu zu werden!“ Mantis streckte Itoko frech die Zunge heraus. „Du hast dich regelrecht eingeschleimt, das passt doch nicht zu dir!“
Itoko verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe mich nicht eingeschleimt.“
„Natürlich nicht, Schätzchen.“ Mantis grinste noch breiter. „Du bist der Rebell, der auch nicht jedes einzelne Wort mitgeschrieben hat.“
Unwillkürlich schob Itoko die Pergamente hinter den Rücken, die sie sich von Padhi geliehen hatte, um sie während der Unterrichtsstunde mit ihren ungeschickten, kindlichen Schriftzeichen zu füllen. „Vielleicht könnte das mal nützlich werden! Überlebenswissen!“
„Schon klar“, meinte Mantis. Sie war damit fertig, die überquellende Schale zu befüllen und die drei Freunde suchten sich einen Sitzplatz am Rand der großen Halle. Sie aßen, indem sie Streifen vom weichen Brot abrissen und Reis und Fleisch darin einwickelten. Rote Soße lief Itoko und Mantis über Kinn und Hände. Padhis Kleidung und Haut blieben auf mystische Weise unberührt.
„Nambisdad ist ein ehemaliger Krieger, er war da draußen und hat alles erlebt! Er kennt das wirkliche Leben! Die Gefahren!“ Itoko rang die Hände. „Er hat die Wahrheit gesehen!“
Mantis schnaubte abfällig. „Von welchen Gefahren redest du bitte?“
„Kriegselefanten, Hinterhalte, Spione“, fing Itoko an, wurde aber direkt wieder unterbrochen.
„Das ist vorbei. Der Krieg war vor Jahren, Nambisdad und du, ihr hängt einer längst untergegangenen Zeit nach!“ Mantis tippte dem Fuchs mit dem Zeigefinger auf die Stirn. Itoko schnappte instinktiv nach ihrem Finger.
Ein lautes Klirren unterbrach die Streithähne. Padhi hatte ihren Löffel auf den Rand der Tonschale geschlagen und funkelte ihre Freunde wütend an. In schnellen, abgehakten Bewegungen gestikulierte sie: Hört endlich auf!
„Aber ich habe doch recht!“, brummte Mantis. „Der Krieg ist vorbei. Die einzige Gefahr da draußen ist der Dschungel.“
Padhi rollte mit den Augen und wiederholte die Geste etwas langsamer. Hört endlich auf.
Itoko verschränkte die Arme vor der Brust. Mantis schwieg. Padhi nutzte die Pause, um ihre Hände weiter zu bewegen. Sie deutete durch den Raum, denn unzählige Schüler hatten die Köpfe zu ihrer Diskussion gewandt und lauschten. Itoko rutschte auch gleich unbehaglich hin und her.
Mantis winkte auf Padhis Ausführungen hin ab. „Pah, das hat uns doch früher auch nicht gekümmert. Wieso bist du so versessen darauf, dass wir uns in diesem Jahr anpassen?“, fragte sie.
Padhi gestikulierte mit flehendem Gesichtsausdruck.
„Nein, werde ich nicht. Nicht, bevor du mir sagst, was mit dir los ist!“, knurrte Mantis und dann: „Natürlich ist irgendwas los, ich sehe doch, dass dich irgendwas beschäftigt. Rede mit uns, Padhi.“
Itoko kicherte und kassierte einen bösen Blick von Mantis und ein Augenrollen von Padhi.
Die junge Halbelfe winkte erneut ab.
„Nein, nein, so einfach kommst du mir nicht davon!“, widersprach Mantis. „Irgendetwas bedrückt dich. Du bist viel verkrampfter als früher.“
„Das stimmt“, warf Itoko ein. Der Fuchs war ernst geworden. „Du kannst mit uns reden, über alles.“
Die umgebenden Schüler hatten sich wieder ihrem Essen zugewandt und die drei Silbersträhnen waren näher zusammengerückt. Padhis Schultern hoben und senkten sich, als sie lautlos seufzte.
Dann schüttelte sie den Kopf und gebärdete die Hände, halb verborgen im Schoß: Nicht hier.
Mantis hob die Augenbrauen und tauschte einen Blick mit Itoko, die nervös schluckte. Padhis Gesicht zeigte Sorge und Angst, nun, da sie ihre Maske fallen gelassen hatte. Ihr Blick huschte durch die Halle und sie zog die Schultern bis fast neben die Ohren.
„Wir schleichen uns nacheinander raus auf die Toiletten!“, schlug Mantis vor, aber Padhi schüttelte heftig den Kopf.
„Nach der Schule?“, fragte die alte Kriegerin nach.
Padhi zögerte. Ihr Gesicht verzog sich, als ob sie Schmerzen spüren würde. Zögerlich nickte sie, aber ihr war anzusehen, dass sie mit der Lösung nicht wirklich glücklich war.
Mantis tauschte einen weiteren Blick mit Itoko.
„Wir trennen uns nach der Schule, als wäre nichts“, sagte der Fuchs. „Du wartest irgendwo auf deinem Heimweg, Mantis und ich werden dich schon finden.“
„Am Teich!“, schlug Mantis sofort vor. „Dann kann ich mit Itoko durch das Westtor gehen und wir erreichen den See ungefähr gleichzeitig mit dir, wenn du etwas schneller reitest.“
Padhi nickte mit mehr Zuversicht. Seid vorsichtig, bedeutete sie ihren Freunden.
Itoko schluckte beunruhigt. Es war offensichtlich: Etwas stimmte nicht. Padhi fürchtete sich. Und sie fürchtete auch, dass ihre Freunde in Gefahr geraten würden, wenn sie ihnen von der Sache erzählte.