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Das Knirschen, mit dem die Zellentür aufgeschlossen wurde, ließ sowohl Padhi als auch Aionas Manri aufhorchen. Der Hasenmensch sprang auf, doch statt zur Tür zu laufen und einen Fluchtversuch zu starten, wich er nur weiter an die hintere Wand der offenen Zelle zurück.
Auch Padhi erhob sich. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen – inzwischen war sie seit Stunden hier drinnen und hatte schon befürchtet, dass man sie vergessen hatte. Doch Aionas hatte kein weiteres Wort gesagt und so hatte Padhi sich nicht getraut, ihre Flöte zu benutzen und sich aus der Zelle holen zu lassen. Sie wollte ihn nicht in Schwierigkeiten bringen.
„Verflucht noch eins, langsam!“, rief ein Junge, der etwas weiter von der sich öffnenden Tür entfernt sein musste.
Die Tür wurde aufgeschoben und eine helle Gestalt trat ein: Blasse Haut, silberne Haare und einen leuchtenden Brustpanzer in Gold und Blau.
„Padhi!“, rief Mantis und eilte in dem Raum, um die schlanke Halbelfe in eine feste Umarmung zu ziehen. Itoko folgte der menschlichen Kriegerin auf den Fuß.
„Mibbi, nein!“, schrie eine weitere Stimme, als ein kleines, grünes Wesen durch die Tür und in die Zelle huschte. Gefolgt von zwei jungen Elfen mit hellgrüner Haut und dunkelgrünen Haaren, die einander so ähnlich sahen, dass sie Zwillinge sein mussten.
Vollkommen überrumpelt befreite sich Padhi aus Mantis‘ Umarmung und starrte die vier an, die die Ruhe der eben noch so verschlafenen Zelle gestört hatten. Einer der beiden Elfen – er hatte lange, glatte Haare und trug ein längeres Gewand als der andere – stellte eine Schüssel mit Eintopf auf den Tisch vor Padhi. Eine zweite Schüssel trug er in die Zelle zu Aionas, während der vermutliche Zwillingsbruder das grüne Wesen durch die Zelle jagte. Dieser Wächter hatte kurze, unordentliche Haare und ein beeindruckendes Tattoo auf der Stirn, mit Flügeln, die aus der Haut ragten, als würde ein Drache aus der Stirn des jungen Elfen brechen.
Mantis fasste Padhis Hand. „Wir haben uns solche Sorgen gemacht! Niemand konnte uns sagen, wo du warst, bis wir eben endlich den General gefunden hatten! Haben sie dich eingesperrt? Wurdest du gefoltert?“
Padhi beschwichtigte ihre Freundin mit einer verneinenden Geste. Mir geht es gut!
Itoko boxte Padhi gegen den Oberarm und sah Mantis betont lässig an. „Ich habe dir gesagt, dass es unserer Padhi gut geht!“
„Du konntest die ganze Nacht nicht schlafen und hast mich auch wachgehalten!“, gab Mantis zurück.
„Mibbi!“, schrie der kurzhaarige Wächter in diesem Moment. Die drei Silbersträhnen wirbelten herum und sahen, wie das grüne Wesen – ein Moosdrache, wie sie nun erkannten – schmatzend den Inhalt von Aionas‘ Schüssel verschlang.
„Ich habe dir gesagt, du sollst ihn draußen lassen, Shymron!“, schimpfte der langhaarige Wächter. „Jetzt haben wir den Salat!“
Shymron wollte einen Schritt in die Zelle machen, vermutlich, um den Drachen zu packen.
„Ist schon gut“, unterbrach Aionas ihn. „Ich brauche nicht so viel, und seht doch: Der kleine Kerl ist echt hungrig!“
Ein sanftes Lächeln lag auf den Lippen des Hasenmenschen. Der verschlossene, verängstigte Aionas Manri wirkte wie ausgewechselt. Der Moosdrache hob den Kopf, als er alle Blicke auf sich ruhen spürte, gurrte und leckte die Schüssel aus. Dann bemerkte das Tier offenbar, dass es von Unbekannten umringt war, und starrte Aionas, der ihm am nächsten was, misstrauisch an.
Der Hasenmensch ging auf die Knie und hielt dem Drachen eine Hand hin, damit dieser daran schnuppern konnte. „Na, hallo. Mibbi ist dein Name, nicht wahr?“
Entgeistert beobachtete der Wächter namens Shymron, wie der Drache auf Aionas‘ Schoß kroch und sich kraulen ließ.
Der langhaarige Wächter wandte sich Padhi zu. „Hat er dir etwas erzählt?“
Padhi schüttelte den Kopf.
„Schade. Ich weiß nicht, was wir sonst noch tun können. Danke für deine Hilfe. Iss etwas, du musst hungrig sein. Dann kannst du gehen.“
Padhi sah auf die Schüssel mit Eintopf, die noch auf dem Tisch für Verhöre stand. Sie nahm sie in die Hände und stellte ihre Schüssel neben die, die Mibbi soeben geleert hatte.
Aionas Manri sah sie überrascht an. „Danke!“
Padhi nickte und kehrte zu ihren Freundinnen zurück.
„Dann habt ihr eure Freundin jetzt offenbar wieder“, wandte sich der Wächter an Mantis und Itoko. In seiner Stimme schwang ein kühler Unterton mit. Vermutlich hatten Mantis und Itoko die beiden Mooselfen ziemlich bedrängt.
„Danke, wir nehmen sie auch gleich mit“, antwortete Itoko mit einem schiefen Grinsen. „Ihr beiden seid Siscas und Shymron, richtig? Wir werden eurem General sagen, dass ihr nett zu uns wart oder so.“
Der langhaarige Elf – Siscas – hob eine Augenbraue.
„Na, um uns erkenntlich zu zeigen.“ Itoko winkte ab und spazierte aus der Zelle. Mantis und Padhi folgten.
Während Mantis sie aus der Tür zog, warf Padhi einen Blick auf Aionas. Das Gesicht des Hasenmenschen strahlte, während er den kleinen Drachen kraulte, doch die alte Wunde war trotzdem nicht zu übersehen. Ebenso wenig wie der Schatten eines unbekannten Grauens, der auf seinem Gesicht lag.
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„Was war denn los?“, fragte Itoko, als die drei Freundinnen nach draußen traten. „Wir dachten schon, dass man dich verhaftet hätte oder so.“
Padhi schüttelte den Kopf und zeigte Itoko einen Vogel. Ich bin die Tochter des Universitätsleiters, wer sollte mich verhaften? Die Gebärde für ‚Universität‘, bei der sie die Spitzen von Ringfinger und Daumen aneinanderlegte und die restlichen Finger streckte, bevor sie mit der Hand einen Bogen nach unten machte, führte sie besonders kräftig und deutlich aus.
„Nach allem, was du uns über deinen Vater erzählt hast, hätten wir alles für möglich gehalten“, warf Mantis streng ein.
Ihr habt euch unmöglich benommen!, warf Padhi ihren Freundinnen mit wütenden Gesten vor.
„Wir dachten, dass wir dich auf dem Weg zu deiner Hinrichtung finden!“, brüllte Itoko ihr ins Gesicht. Die Stimme des Fuchses hallte über den leeren Campus, der in weißen Morgennebel gehüllt dalag. „Du warst in einer der Todeszellen, Padhi! Ich habe die ganze Zeit daran denken müssen, dass wir vielleicht zu spät kommen und sie uns die Stelle zeigen, wo sie dich im Fluss versenkt haben!“
Padhi wich dem Blick ihres Freundes aus. Mir geht es gut, wiederholte sie mit winzigen, kleinlauten Gesten.
Itoko schnaubte. „Wir haben es gemerkt. Du hast dich ja prächtig mit dem Hasenmenschen verstanden. Was ist denn jetzt schon wieder?“
Padhi war stocksteif stehen geblieben. Todeszellen, formte sie mit den Händen und hob fragend die Augenbrauen. Ihre Gesichtszüge waren entgleist.
Mantis rollte leicht mit den Augen. „Ja, Padhi, eine Todeszelle. Die normalen Gefängniszellen in Dhubaayana liegen oberirdisch und haben auch keinen Vorraum für Verhöre und als doppelten Fluchtschutz. Wir haben die üblichen Zellen abgesucht wie die Irren, aber wir konnten dich nicht finden.“
Padhi hörte kaum zu. Aionas ist in einer Todeszelle?!
„Halt, halt, halt!“, rief Itoko. „Du magst diesen Hasen doch nicht wirklich so sehr, dass sein Schicksal dir nahegeht, oder?“
Padhi schüttelte den Kopf. Nein, so ist das nicht. Aber … Sie ließ die Hände sinken und sah zurück zu dem Gefängnis. Dann sah sie ihre Freunde an und machte zwei überdeutliche Gesten, betonte jede Handbewegung. Sie zeigte zum Gefängnis und tippte sich dann an die Stirn: Er weiß etwas.
Mantis und Itoko starrten sie an.
„Aionas Manri?“, fragte Itoko nach. „Er weiß etwas über das Geheimnis deines Vaters?!“
Padhi zögerte. Was ihren Vater anging, so war sie sich nicht sicher, ob und was er verbarg. Er benahm sich seltsam, ja, aber es könnte genauso sein, wie Itoko vermutet hatte. Womöglich hatte ihr Vater eine Affäre, so unwahrscheinlich ihr das auch erschien.
Aber in den Augen von Aionas Manri hatte sie echte Angst gesehen. Nein, keine Angst – Terror. Der Hasenmensch trug nicht nur die offensichtlichen Spuren einer Misshandlung – das so etwas Tiermenschen zustieß, war leider nicht ungewöhnlich – doch er hatte offensichtlich Panik vor irgendwas.
Je länger sie nachdachte, desto mehr seltsame Sachen fielen ihr auf: Wieso war Aionas in eine Hochsicherheitszelle gesteckt worden? Er war doch nur einer der Vielen, die sich in den Kellergewölben der Akademie verborgen hielten und wie die Mäuse im Schatten lebten. Es waren immer eine Handvoll Schmarotzer auf dem Gelände gewesen, denn die verwinkelte Akademie bot Sicherheit vor dem Dschungel, Verstecke vor rassistischen Idioten und es fielen immer genug Essensreste ab. Selbst Itoko hatte ähnlich gelebt, ehe sie die Aufnahmeprüfung gemeistert hatte.
Warum also wurde Aionas so anders behandelt? Und wieso hatte niemand Padhi aus der Zelle geholt? Dazu fiel ihr nur eine Antwort ein: Niemand hatte gewusst, wo sie war. Nur die Zwillingswächter hatten es mitbekommen und zu Beginn von ihrer Schicht hatten Mantis und Itoko es geschafft, Padhi zu befreien. Vorher nicht. Offenbar war Aionas‘ Festnahme ein Geheimnis.
„Padhi?“, fragte Mantis und berührte sie sanft am Arm. Padhi wurde bewusst, dass sie nun schon eine ganze Weile mitten auf dem Campus stand und sich nicht rührte. Ihre Freundinnen wirkten besorgt.
„Weiß dieser Aionas etwas über deinen Vater?“, hakte Itoko nach. „Hat er dir etwas gesagt? Was?“
Padhi schüttelte den Kopf. Er wollte nicht reden. Er hat Angst vor … irgendetwas.
Mantis und Itoko tauschten verunsicherte Blicke.
„Es könnte stimmen“, gab Mantis zögerlich zu. „Die ganze Sache ist tatsächlich seltsam. Aber das scheint mir eine große Sache zu sein, wenn die Wächter es geheim halten müssen. Ich … ich weiß nicht, Freunde … sollen wir uns da wirklich einmischen?“
Padhi konnte sich nicht erinnern, Mantis jemals so unsicher und ängstlich gesehen zu haben. Trotzdem ballte sie die Hände zu Fäusten. Wir müssen!
„Mantis hat recht. Das scheint gefährlich zu sein.“ Itoko zögerte, ehe sich ein füchsisches Grinsen auf ihr Gesicht legte. „Aber wir sind ja nicht umsonst die Silbersträhnen, oder welchen Namen wir heute mal wieder tragen. Und wenn an unserer Akademie irgendetwas vorgeht, dann will ich das gefälligst wissen!“
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„Tamhanadhas!“ Die Stimme des Generals donnerte durch die langen Gänge neben den Kerkern.
Siscas und Shymron zuckten zusammen, als General Rashadhis Ruf erklang. Siscas schloss die Zelle ab, deren Gefangenen sie eben versorgt hatten, und beide eilten in die Wachstube.
„Wo wart ihr?“, donnerte der General. Sein Kopf war bereits dunkelrot angelaufen.
„Wir …“ Siscas senkte den Blick. „Verzeihung.“
„Wir haben nur die Essensrationen verteilt!“, sagte Shymron trotzig.
„Habe ich euch Erlaubnis gegeben, Manri zu verlassen?“, fragte der General herausfordernd.
„Nein, Sir“, antwortete Siscas und stieß Shymron den Ellbogen in die Seite. Doch Siscas‘ Zwillingsbruder wollte sich nicht so leicht beruhigen.
„Bei allem Respekt, Sir – Ihr habt uns auch nicht das Gegenteil befohlen und es war schon immer unsere Aufgabe, auch die restlichen Gefangenen -“
„Jetzt hat Aionas Manri oberste Priorität!“, schnitt der General ihm das Wort ab. Er atmete tief durch und sein Tonfall wurde etwas weicher. „Ich gebe zu, dass ich euch genauere Befehle hätte geben sollen. Ihr erhaltet keine Strafe, Jungs. Aber jetzt geht zurück zu Manri. Ihr müsst ihn bewachen, am besten rund um die Uhr.“
„Was?“, entfuhr es nun Siscas.
„Es ist nicht für lange“, beruhigte General Rashadhi seine jungen Untergebenen. „Morgen früh soll Manri hingerichtet werden.“
Den jungen Mooselfen fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Morgen? Warum?“, fragte Shymron aufgebracht. „Er hat doch nur ein paar Brote oder so gestohlen!“
Der General seufzte erneut und sah mit einem Mal alt und müde aus, fast schon verbraucht, wie ein Sterblicher, dessen Leben sich dem Ende näherte. „Ich weiß es nicht. Es ist auch nicht unsere Aufgabe, die Entscheidungen von Universitätsleiter Upadhy in Frage zu stellen. Er will, dass Manri morgen früh hingerichtet wird, und dass wir ihn bis dahin streng bewachen.“
Unwohl sahen die beiden jungen Wächter zu der Tür, hinter der die Todeszellen lagen.
„Das ist doch nur ein Kaninchenmensch“, murmelte Siscas bedrückt.
Der General klopfte ihnen beiden auf die Schultern. „Denkt einfach nicht zu viel darüber nach. Der Universitätsleiter wird seine Gründe haben, daran zweifele ich nicht. Vermutlich weiß er mehr als wir, aber das ist ja auch kein Wunder.“
„Ich würde den Grund trotzdem gerne wissen!“, knurrte Shymron.
General Rashadhi schüttelte den Kopf. „Es steht uns nicht zu, so etwas zu verlangen. Ihr könnt ihn fragen, wenn er morgen kommt, aber er ist in keinster Weise verpflichtet, euch zu antworten. Vergesst nicht, dass ihr nur Wächter seid.“
Die Zwillinge senkten fast synchron die Köpfe. Widerspruch erklang keiner mehr. Während der General loszog, um die vorherige Aufgabe der Zwillinge zu Ende zu führen und das Essen an die Gefangenen zu verteilen, traten Shymron und Siscas durch die schwere Tür in den Gang mit den Todeszellen. Sie bezogen zu beiden Seiten von Manris Tür Stellung, nachdem Siscas eilig ihre Waffen geholt hatte, die Sense und den Kampfstock, sowie seine eigene Schädelmaske.
Weder der General noch die Zwillinge sahen das schwache Licht unterhalb des Fensters der Wachstube, und sie beobachteten auch nicht, wie ein geisterhafter Fisch, eine Forelle aus silbrigen Linien, lautlos davonschwebte.