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Siscas öffnete die Fesseln, die die erstaunlich dürren Knöchel von Manri umschlangen. „Wir müssen die fester machen …“
Ein Schatten sprang aus dem nahen Gebüsch. Siscas konnte gerade noch den Arm hochreißen und den Biss abwehren, der auf seine Kehle gezielt hatte. Der Silberfuchs riss ihn trotzdem von den Füßen. Siscas schrie.
Der Fuchs schnappte nochmals nach seinem Hals. Und jetzt kam ein Wirbelsturm aus blauem Licht und goldenen Blitzen aus dem Gestrüpp und rauschte auf Shymron zu. Bevor der jüngere Wächter irgendetwas tun konnte, schlug auch er auf den Boden.
Ein junges Mädchen in einem weißen Kleid folgte den beiden Angreifern, ergriff Manris Handgelenk und riss ihn mit sich. Verwirrt folgte der Hasenmensch ihr.
Die hellblaue Wolke verlangsamte sich und heraus stolperte eine alte, in eine blaugoldene Rüstung gekleidete Frau. „Itoko!“, brüllte sie. „Komm jetzt, oder willst du ihn umbringen?“
Der Fuchs hörte auf, an Siscas‘ Handgelenk zu reißen und sprang Manri, dem Mädchen und der Frau hinterher.
Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden. Siscas blieb überrumpelt auf dem Rücken liegen. Schmerzen, die er vorher nicht wahrgenommen hatte, jagten wie Feuer durch seine Nerven. Blut lief aus tiefen Bisswunden in seinem rechten Arm. Schwankend setzte er sich auf: „Shymron!“
Sein jüngerer Bruder stöhnte und drückte sich hoch. Blut lief aus einer Platzwunde an seiner Stirn, ansonsten war er glücklicherweise unverletzt. Siscas atmete auf. Die Elfenkrieger waren tödliche Gegner, doch die Frau hatte offenbar nicht beabsichtigt, Shymron zu schaden.
Von dem Tumult angelockt kamen nun die Nachtwächter aus der Kammer geströmt. Hände halfen den jungen Tamhanadhas-Zwillingen auf die Beine.
„Was ist passiert?“, fragte Padhel Palu Zeeno, der ranghöchste Wächter, der genau wie Siscas einen halbierten Drachenschädel als Maske trug. Ein weiterer Nekromant. „Wo ist Manri?“
Wie eine eiskalte Faust krallte sich Angst in Siscas‘ Eingeweide. Aionas Manri, der Gefangene, der nicht entkommen durfte – war entkommen!
„Weit können sie nicht sein!“, rief ein anderer Wächter. „Los, sucht sie!“
Die Nachtwächter sahen zu Zeeno, der nickte. Erst dann rannten sie los, um die Flüchtigen einzuholen. Shymron und Siscas wollten mechanisch folgen.
„Nein.“ Zeeno hielt sie zurück. „Ihr seid verletzt. Geht in die Kammer und verarztet euch.“
Täuschte sich Siscas, oder war da Misstrauen im Blick des älteren Wächters? Wortlos folgten die Zwillinge dem Befehl.
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„Schneller!“, drängte Itoko, ehe die Füchsin wieder in die Fellgestalt wechselte und leichtfüßig vorauslief.
Mantis warf einen Blick über die Schulter zu Padhi, die den stolpernden Manri stützte.
„Wir können nicht schneller“, rief die Kriegerin und huschte in den Schatten hinter einigen Zierpappeln. Keuchend gesellten sich Padhi und Manri zu ihr. Padhi deutete auf die schweren Ketten um Manris Handgelenke, die den Hasenmenschen am Laufen hinderten. Mantis zückte ihr Schwert und Aionas sprang mit einem Aufschrei zurück. Padhi konnte ihn gerade noch festhalten.
„Ganz ruhig!“, beschwichtigte Mantis den eingeschüchterten Tiermenschen. „Wir wollen dir helfen.“ Sie schwang das Schwert, dessen Klinge zu silbrigem Licht verschwamm. Zwei helle Schläge waren zu hören, dann fielen die Fesseln auf den Boden.
Erstaunt hob Aionas die Hände vor das Gesicht. „Ich … ihr habt mich befreit.“
„Sie wollten dich töten“, sagte Mantis.
Aionas nickte und brach in Tränen aus. „Ich hätte es niemals sehen sollen! Ich wollte das nicht!“
„Was sehen?“, fragte Mantis.
Aionas starrte sie aus einem schreckgeweiteten Auge an, namenloses Grauen im Gesicht. „Das, was im Keller ist!“
In diesem Moment erschien Itoko mit leisem Rascheln neben den beiden anderen Silbersträhnen und wuchs in menschlicher Gestalt in die Höhe. „Was trödelt ihr denn? Los, wir müssen weiter!“
Padhi fasste Aionas‘ Hand. Der Hasenmensch sah sie an, als würde er sie erst jetzt wahrnehmen.
„Padhi! Ihr …“
„Los, Itoko hat recht. Wir haben keine Zeit“, sagte Mantis und spähte zwischen den Blättern der Pappeln hindurch. „Da kommen die Wächter. Wir sollten das Gelände sofort verlassen.“
Padhi hielt Mantis an der Schulter fest, als die Fuchsfrau losrennen wollte. Im nächsten Moment flackerte Licht auf und eine Gruppe aus drei Wächtern kam den Weg vor den Pappeln entlang. Die Silbersträhnen und Aionas warfen sich zu Boden und hielten den Atem an, während die Wächter mit gezückten Waffen vorbeiliefen. Die Krieger spähten in das Gebüsch zu beiden Seiten des Weges. Padhi schloss die Augen, doch aus irgendeinem Grund übersahen die Wächter die Versteckten.
„Wie hat das denn jetzt geklappt?“, flüsterte Itoko entgeistert.
„Sie tragen eine Fackel“, antwortete Mantis. „Das Licht blendet ihre Augen – zum Glück!“
„Die sind allerdings nicht alle so dumm“, warf Itoko ein und deutete zu den Wächtern, die ohne Lichtquelle unterwegs waren. „Wir müssen hier raus, und zwar dringend.“
Padhi bewegte die Hände.
„Wie bitte?“, fragte Mantis und Padhi wiederholte die Geste.
„Das Labyrinth! Genial. Da werden sie uns zuallererst suchen!“, schimpfte Mantis.
„He, so schlecht ist die Idee nicht“, meinte Itoko. „Wir haben einen Vorteil durch meine scharfe Nase. Und wir kennen das Labyrinth.“
Padhi nickte heftig, um die Aussage des Fuchses zu unterstreichen.
Mantis seufzte und erhob sich. „Na gut. Gehen wir.“
Sie nahmen Aionas in ihre Mitte und huschten los. Das Labyrinth lag nicht weit entfernt, obwohl sie mehrmals über gekieste Wege von einem großen Strauch zum nächsten huschen mussten. Das große Heckenlabyrinth war jedoch ein lohnendes Ziel. Über einen Morgen Fläche erstreckte sich hier ein Netz von großen Hecken eingegrenzter Wege. Das Labyrinth war eine Mutprobe für neue Studenten und eine weitläufige Fläche mit unzähligen kleinen Inseln, Bänken und Lauben, wo man ungestört lernen oder den Stress hinter sich lassen konnte. Ein wirkliches Labyrinth war es nicht, denn es gab weder Sackgassen noch konnte man sich hier stundenlang verirren, doch es war und blieb der unübersichtlichste Ort im Campus.
Am Eingang zum Labyrinth standen zwei Wächter, doch die Silbersträhnen hatten ihren eigenen Eingang, ein Loch in der Hecke, dessen Boden Itoko weiter aufgegraben hatte, sodass man geduckt in das Labyrinth schleichen konnte.
So schnell, wie sie es bei den knirschenden Pfaden wagen konnten, huschten die Silbersträhnen und der befreite Gefangene durch das Labyrinth. Itoko lief in Fuchsgestalt voraus und blieb an jeder Kurve witternd stehen. Dann bewegte er den Schweif, um zu signalisieren, dass die Luft rein war. Lautlos huschten sie weiter.
Aionas zitterte am ganzen Leib. Immer wieder liefen ihm Tränen über die Wangen und in seinem verbliebenen Auge wechselten Angst und ungläubige Freude einander ab. Seine Hasenohren zuckten bei jedem noch so kleinen Geräusch, als würde die Angst ihn in kleinen Blitzen durchfahren.
Dann erreichten sie einen der vielen Hinterausgänge des Labyrinths, wo ein Teil der Hecke zerstört und noch nicht neu gepflanzt worden war. Itoko wuchs in Jungengestalt in die Höhe. Mantis legte einen Zeigefinger auf die Lippen.
Die vier Flüchtigen erstarrten. Nicht weit entfernt hörten sie den Fluss plätschern, der das Gelände der Universität begrenzte und hinter mehreren Bambusstauden verborgen war. Ein Stück flussabwärts erhob sich eine kleine, gebogene Holzbrücke. An dem mit lebenden Schlangen bedeckten Rahmen brannte oben eine kleine Laterne.
Niemand war zu sehen.
„Ich gehe vor“, flüsterte Itoko. „Sollte irgendwas sein, renne ich einfach los und stoße später wieder zu euch. Ihr müsst euch dann im Labyrinth verstecken.“
Ohne ein weiteres Wort huschte der Fuchs hinaus auf die Steinplatten, die den Boden bis zur Brücke bedeckten.
Manri klammerte sich so stark an Padhis Hand, dass es wehtat. Sie brachte es trotzdem nicht fertig, ihre Hand aus seinem Griff zu winden.
Angespannt verfolgten die drei, wie der silbrige Fuchs bis zu der Holzbrücke und schließlich darüber lief. Auf der Mitte der Brücke blieb Itoko stehen und setzte sich.
„Gut. Geh du mit Aionas vor. Ich gebe euch Deckung, falls irgendwas passiert“, flüsterte Mantis.
Padhi starrte ihre Freundin an und bewegte die Hände, wobei sie Aionas‘ Hände, die ihre eine immer noch umfasst hatten, mit sich zog.
Mantis lachte leise. „Ich werde tun, was ich tun muss, Padhi. Wenn das bedeutet, gegen die Wächter zu kämpfen – meinetwegen. Aber ich passe schon auf mich auf.“
Widerstrebend erhob sich Padhi. Aionas folgte ihr auf den Fuß.
„Viel Glück. Ich bin direkt hinter euch“, flüsterte Mantis.
Dann rannte Padhi los. Das Geräusch ihrer Schritte und ihr leiser Atem dröhnten ihr in den Ohren. Neben ihr schlugen Aionas‘ Füße im gleichen Rhythmus dumpf auf den Boden. Der Weg zur Brücke, eigentlich nur ein kurzes Stück, kam ihr unendlich lang vor. Das Sternenlicht beleuchtete die Steinplatten und den großen, offenen Platz neben dem Labyrinth, über dessen Rand sie nun rannten. Padhis Herz raste. Wenn jemand sie sah …! Es gab keinerlei Deckung.
Sie kamen an der Brücke an, ohne dass ein Ruf erklungen war. Padhi blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und atmete erleichtert durch. Fast geschafft!
Mantis erreichte den Lichtschimmer der kleinen Laterne nur wenig später. Nach einem letzten Blick zum Campus traten sie durch den Torbogen.
Da geschah es: Die vielen unterschiedlichen Schlangen auf dem Bogen zischten mit einem Mal laut und richteten sich angriffslustig auf.
„Was … was haben sie?“, rief Mantis verwirrt.
Schneller, als irgendjemand der vier reagieren konnte, schlang sich eine Würgeschlange um Aionas‘ Bein. Der Hasenmensch sah panisch vom einen zum anderen.
„Hilfe!“, schrie er.
Padhi und Mantis lösten sich aus ihrer Starre und traten gegen die Boa. Aionas riss an seinem Bein, um sich zu befreien, aber die Schlange ließ sich nicht beirren. Mehrere bunt gemusterte Giftschlangen glitten vom Rahmen des Torbogens.
„Wächterschlangen!“ Dieser Ruf stammte von Itoko, die sich wieder in ein Mädchen verwandelt hatte. Sie stand wie angewurzelt auf der Brücke und wagte sich nicht näher heran. „Die ganze Zeit waren es Wächterschlangen!“
Das Zischen und Fauchen der giftigen Tiere war ohrenbetäubend laut. Aionas schrie in Panik, und die ersten Giftschlangen bissen in das freie Bein. Einmal, zweimal, dreimal … Blut trat aus den winzigen Wunden aus und in Sekundenschnelle verfärbte die Haut sich rings um die Löcher rot, dann lila. Die Flecken breiteten sich aus.
Aionas zitterte, seine Beine gaben nach. Krämpfe schüttelten ihn und er fiel auf die Erde. Padhi und Mantis wichen zur Seite, fort von den Giftschlangen.
Flehend riss Aionas das eine Auge auf und streckte eine Hand in Padhis Richtung. Dann fiel der Arm kraftlos auf die Erde und der Hasenmensch rührte sich nicht mehr.
Die Schlangen ließen von ihm ab und krochen zurück auf den Torbogen, als sei nichts gewesen. Geschockt starrten die Silbersträhnen auf die Leiche.
Padhi zitterte und schluchzte auf. Mantis legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
„Verdammte Scheiße!“, flüsterte Itoko. Nur langsam kam wieder Bewegung in die drei. Mantis konnte den Schock als erste abschütteln.
„Wir müssen hier weg. Padhi, Itoko – kommt! Wenn die Wächter uns hier finden …“
Sie zog ihre Freundinnen zum nahen Wald. Dorthin, wo sie sich mit Aionas hatten verstecken wollen.
Dumpfe Leere füllte ihre Köpfe. Nur ihr Herzschlag schien deutlich zu hören zu sein, alle anderen Geräusche – das rauschende Wasser, die Rufe der Nachtvögel – waren gedämpft.