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Acht Schläge der großen Glocke hallten über der Akademie und verkündeten die Zeit für das Mittagsmahl.
Nambisdad klatschte in die Hände und die Schüler ließen die Holzschwerter sinken, mit denen sie bis eben paarweise einige einfache Schritte geübt hatten. Mantis‘ und Itokos stummer Machtkampf hatte dazu geführt, dass sie andere Partner bekommen hatten, deshalb trafen sie erst jetzt wieder aufeinander, als sie ihre Sachen zusammenrafften.
„Sie ist noch nicht zurück“, meinte Itoko.
Mantis nickte ernst und hob ihre Tasche auf.
Die Freundinnen eilten Seite an Seite nach draußen. Ohne sich abzusprechen liefen sie an dem Eingang zum Speisesaal vorbei und nach draußen auf den Vorhof. Mantis übernahm mit energischen Schritten die Führung und wurde noch schneller, als sie die beiden Wächter entdeckte, die in diesem Moment aus der Wachkammer traten – ohne Padhi.
„He, Jungs!“, rief Mantis und hielt auf die Mooselfen zu. „Wo ist unsere Freundin?“
Die Wächter hielten an. Sie sahen einander so ähnlich, dass es schwierig war, sie zu unterscheiden. Der mit den längeren Haaren antwortete: „Tut mir leid, das dürfen wir nicht sagen.“
Mantis legte die Hand auf den Griff ihres Degens. „Ihr werdet mir sofort verraten, was ihr mit Padhi gemacht habt, oder …“
Die Gesichter der jungen Wächter verdüsterten sich.
„Verdammt noch mal!“, fuhr der Kurzhaarige auf. Auf seiner Schulter hockte ein grüner Drache und zischte erregt. „Ich hab die Schnauze voll! Wir haben jetzt Feierabend – ihr könnt gerne versuchen, General Rashadhi zu finden und ihn nach eurer Freundin fragen, aber wenn ihr mir und meinem Bruder noch einmal droht, werfen wir euch in den Kerker – sofern ihr überlebt!“
„Shymron!“, zischte der andere Elf bestürzt. Doch der Wächter funkelte Mantis und Itoko wütend und mit geballten Fäusten an.
Mantis‘ Hand packte den Griff ihrer Waffe fester, bis Itoko ihr eine Hand auf die Schulter legte.
„Verzeiht bitte“, sagte der Fuchs sanft. „Wir machen uns nur Sorgen um unsere Freundin. Wo ist denn der General?“
Der kurzhaarige Wächter deutete mit dem Daumen auf die Wachkammer, die sie eben verlassen hatten. „Fragt unsere Ablösung. Wir haben ihn, seit wir Padhi zu ihm gebracht haben, nicht mehr gesehen. Wir haben auf ihn gewartet, dabei hätten wir ab Mittag eigentlich frei!“ Der verbitterte Unterton in der Stimme des Wächters machte deutlich, dass Shymrons Bruder nicht annähernd so ruhig war, wie er sich gab.
„Danke“, sagte Itoko deshalb und zog Mantis schnell weiter. „Und tut mir leid, dass wir euch aufgehalten haben!“
„Tut es nicht“, knurrte Mantis halblaut. „Was für Bastarde!“
„Shh!“, machte Itoko. „Sie haben offenbar einen harten Tag hinter sich und keine Ahnung, was hier möglicherweise vorgeht.“
Mantis seufzte und ließ die Schultern hängen. „Was geht hier vor, Itoko? Ich weiß nicht einmal mehr, was ich glauben soll. Ist Padhi in Gefahr oder machen wir uns grundlos Sorgen?“ Die Menschenfrau fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Itoko leise. „Ich weiß es nicht, Mantis.“
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Die schwere Tür, die zu den Zellen führte, fiel mit einem dumpfen Geräusch hinter Padhi ins Schloss. Wie ein zuschlagender Sargdeckel.
In ihrem Bauch herrschte bedrückende Sorge und kribbelnde Angst. Als sie die Wachkammer betreten und sich sowohl dem General als auch ihrem Vater gegenübergesehen hatte, hatte sie geglaubt, ohnmächtig zu werden, so sehr hatte sie gefürchtet, dass ihr Vater wusste, dass sie ihn beobachtet hatte, und sie nun aus dem Weg räumen würde.
Ja, sie hatte panische Angst. Namin Nephelis Upadhy verließ regelmäßig abends das Haus, um zur Akademie zu eilen, und er machte dabei nicht den Eindruck, etwas Gutes im Schilde zu führen. Schlimmer noch, einmal hatte Padhi ihn heimkehren gesehen: Müde, aufgelöst und mit blutbesudelter Kleidung. Es war nicht sein Blut gewesen, denn er hatte keine Verletzungen gehabt.
Wessen Blut war es dann?
Sie hatte schnell gemerkt, dass ihr Vater sie nicht deshalb hatte rufen lassen. Er hatte ihr erklärt, dass es einen Gefangenen gab, den sie unbedingt befragen müssten. Doch dieser sprach nicht, weder mit dem General noch mit Padhis Vater, auch nicht mit den Wächtern. Also hatten sie Padhi geholt, denn ihr Vater war überzeugt, dass sie dem jungen Mann Vertrauen einflößen konnte. Das war ein Teil ihrer Magie. Doch Namin hatte ihr auch das Versprechen abgenommen, nichts über die Befragung weiterzuerzählen. Deswegen musste es Padhi sein, die den Jungen befragte, jemand, der schweigen würde.
Eigentlich hätte sie schon längst zu dem Gefangenen vorgelassen werden sollen, doch es hatte ein weiteres Problem gegeben: Generals Rashadhi hatte einen weißen Jadestein holen wollen, aus dem Padhi ihre Macht ziehen könnte, doch dieser Stein war aus der Schatzkammer der Akademie gestohlen worden – es brauchte keine großartige Leistung, damit Padhi erkannte, dass Nambisdad den Stein genommen haben musste. Die Lehrer hatten Zugang zur Schatzkammer, und da dort selten jemand war, wäre es eigentlich kein großes Risiko gewesen, den Jadestein zum Unterricht mitzubringen und nachher still und leise zurückzulegen. Bis man den Stein das nächste Mal bräuchte, wäre dessen Magie längst wieder aufgeladen.
„Bitte übertreibe nicht, ich habe den Stein lediglich geliehen“, hatte Nambisdad gesagt.
Als Ersatz hatte der General nun einen der helleren grünen Jadesteine gebracht. Padhi konnte mit jeder Form von Jade arbeiten, aber am besten immer noch mit weißer Jade. Sie fragte sich selbst manchmal, warum sie in dieser Hinsicht so wählerisch war.
Padhi schluckte, während sie stehen blieb und darauf wartete, dass der General die Tür zu einer der Zellen öffnete. Nambisdad würde ziemlichen Ärger bekommen.
Mit einem Quietschen schwang die Tür auf und gab den Blick auf einen kargen Vorraum und eine Gitterwand frei. Im hinteren Teil des Raumes, hinter den Gittern, gab es ein Bett aus ausrangierten Decken, einen Eimer für die Notdurft und eine Sitzecke, wo eine Schale mit Brot und buntem Reis stand, sowie ein Sitzkissen und ein roter Teppich als Unterlage.
Auf den Decken lag eine Gestalt in dunklen Lumpen – braun und dunkelgrün, der hellste Akzent war ein blaues Tuch, das um die Hüften geschlungen war. Das Gesicht der Gestalt, die sie irgendwie verhören sollte, konnte Padhi noch nicht erkennen, es war hinter langen, dichten, braunen Locken verborgen, aber zwei übergroße Hasenohren standen vom Kopf ab und zuckten nervös.
General Rashadhi reichte ihr einen Eisenschlüssel. „Für das Gitter. Ich werde die äußere Tür zuschließen. Wenn irgendwas sein sollte, schrei einfach … ähh …“
Etwas hilflos starrte der General sie an.
Padhi grinste und zog die Flöte von ihrem Gürtel. Sie blies sanft in das kleine Instrument und ein hoher Ton ließ den General und den Gefangenen zusammenzucken.
„Ja, das sollte reichen.“ Rashadhi lächelte erleichtert. „Eigentlich musst du aber keine Angst haben. Manri ist harmlos. Nicht wahr, mein Freund? Aionas?“
Der Hasenmensch hob den Kopf und sah auf, mit einem Auge, das durch die runden Gläser einer großen Brille starrte. Das andere Auge war fort, an seiner Stelle zeigte sich nur eine alte, gezackte Narbe, die auf eine tiefe Verletzung und einen schlechten Arzt hindeutete. Padhi presste erschrocken die Hand vor den Mund.
Aionas senkte den Blick wieder und nickte. Der General klopfte Padhi auf die Schulter und ging.
Sie hörte, wie von außen zugesperrt wurde – eine einfache Sicherheitsvorkehrung, damit der Gefangene nicht aus dem Vorraum fliehen könnte.
Trotzdem schluckte sie nervös, als ihr klar wurde, dass man sie nun eingesperrt hatte.
Mit vorsichtigen Schritten ging sie zur Gitterwand. Aionas‘ Ohren zuckten, als sie den Schlüssel mit einem leisen Knirschen im Schloss drehte. Für einen Moment blockierte der Schlüssel und Padhi fürchtete schon, dass der Schlüssel feststeckte oder abbrechen würde, doch dann gab es einen kleinen Ruck und das Schloss klickte.
Die schwere Tür schabte quietschend über den Boden, als Padhi sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegenstemmte, um sie zu öffnen.
Aionas Manri hob nun den Kopf und sah ihr aus dem einen Auge nervös zu.
Padhi schenkte ihm einen Blick, der ihn hoffentlich beruhigte und ermutigte, dann kehrte sie in den Vorraum zurück und setzte sich an den Holztisch. Sie legte den grünen Jadestein vor sich auf die Platte und bewegte ihn mit den Fingerspitzen beider Hände hin und her.
Aionas richtete sich auf, seine Ohren zuckten nervös und sein Blick huschte im Raum hin und her.
„Was geschieht jetzt?“, fragte er, als nach einiger Zeit immer noch nichts passiert war.
Padhi fasste den Jadestein fester und ließ dessen Energie durch ihre Hand fließen. Ein schwaches Bild erschien vor ihr wie bunter Nebel.
Aionas wich an die äußere Zellenwand zurück, doch das Bild verharrte über dem Tisch und spiegelte wenig später den Raum zweifach wieder. Beide Male sah man einen kleinen Aionas Manri in der Zelle und eine kleine Padhi am Tisch sitzen. Auf der einen Seite blieb das Bild genau so, aber auf der anderen Seite setzte sich Aionas‘ Abbild in Bewegung, kam an den Tisch und Padhis Abbild beugte sich wie zum Gespräch zu ihm vor. In diesem Moment stand die Padhi aus dem anderen Bild auf und ging.
„Du bist die Tochter des Leiters“, murmelte Aionas. „Du kannst nicht sprechen.“
Padhi ließ die Bilder verblassen und nickte.
„Dann … es steht mir frei, mit dir zu reden oder nicht? Und wenn ich hierbleibe, wirst du gehen?“
Padhi nickte, dann zögerte sie und wiegte den Kopf von einer Seite auf die andere.
„Du wirst nicht gehen!“, sagte Aionas mit einem leisen Stöhnen. „Du gibst nicht auf, jedenfalls nicht so schnell. Aber lass mich dir eines sagen, Padhi Upadhy! – und mehr wirst du von mir heute nicht hören – Ich hänge an meinem Leben. Und ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass Tiermenschen hier nichts wert sind! Aber wenn ich rede, bin ich tot.“
Bestürzt starrte Padhi den Hasenmenschen an und fragte sich unwillkürlich, wer Aionas Manri sein Auge genommen hatte.
Der Hasenjunge zog trotzig die Nase hoch und setzte sich mit verschränkten Armen auf seine Matratze.
Padhis Gedanken rasten. Was passierte hier? Was hatte Aionas gesehen?