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Die Blätter der Salbäume trieben im Wind. Sie blieben auf den sonst so ordentlich gepflegten, roten Wegen liegen. Es war Regenzeit, und die ersten Pflanzen trieben bereits Wurzeln auf den Pfaden rings um die Akademie von Dhubaayana. Niemand pflegte die Wege mehr.
Auch das kleine Dorf am Rand des Campusgeländes war verlassen. Dort wuchsen die ersten Triebe auf den Dächern.
Über den grünen Baumwipfeln war eine schwache Staubwolke zu erkennen, die sich langsam in Richtung Akijama bewegte.
Dieser Staub, von schlurfenden Füßen aufgewirbelt, zeigte den Fußmarsch unzähliger Elfen, sowie einiger anderer Wesen, die in den Bergen auf eine neue Heimat hofften. Die Dschungel waren nicht länger sicher. Unheimliche Wesen stießen des Nachts klagendes Heulen aus, und wer allein in das Dickicht ging, kehrte meist nicht wieder zurück.
Eine Woche war vergangen. Eine Woche, in der die verbliebenen Wächter unter Shymrons Befehl versucht hatten, den Upadhykreaturen Fallen zu stellen. Einige hatten sie töten können, doch sie hatten einsehen müssen, dass das Leben in der Nähe der Akademie einfach zu gefährlich geworden war.
Denn die toten Kreaturen hatten sich auf rätselhafte Weise von allen Verletzungen erholt. Welche Magie auch immer Namin Upadhy gewirkt hatte, sie hatte noch einen weiteren Effekt, der wohl nicht einmal dem Schöpfer selbst bewusst gewesen war. Oder vielleicht auch von Anfang an sein Ziel gewesen war.
Unsterblichkeit.
Es hatte keinen Zweck. Diese Schlacht konnten die Elfen nicht gewinnen, und so überließen sie das Feld den Kreaturen.
Die Bauern hatten ihre Habseligkeiten gepackt, die Hirten die wenigen noch nicht gerissenen Tiere ihrer Herden zusammengetrieben. Und die Studenten, deren Zahl ebenfalls geschrumpft war, hatten ihre Bücher und Schriftrollen liegen gelassen.
„Kennt ihr eigentlich die Geschichte der drei Schwestern von Akijama?“, fragte Itoko. „Da gab es mal drei Elfen, die -“
Mit harten Bewegungen schnitt Padhi ihm das Wort ab. Kenne ich.
Itoko seufzte. „Die drei Schwestern. Der Name hätte Mantis bestimmt gefallen.“
Padhi ließ den Kopf sinken.
„Tut mir leid“, murmelte Itoko. „Ich muss nur ständig an sie denken. Sie hätte das hier für ein großes Abenteuer gehalten.“
Padhi drehte sich um und ließ den Blick über die unzähligen Elfen gleiten, die ihnen folgten und bereitwillig den Staub schluckten, den der Waldelefant aufwirbelte, auf dessen Rücken Padhi und Itoko saßen.
Das war alles andere als ein Abenteuer. Es war ein Gewaltmarsch auf wunden Füßen, mit der ständigen Angst im Nacken, dass die Kreaturen aus dem Keller der Akademie ihnen folgten, wie sie es in ihren zahllosen Alpträumen bereits taten.
Als die Nacht hereinbrach, bildeten die Reisenden einen großen Haufen. Sie entzündeten unzählige Feuer am Rand ihres Lagers und Shymron teilte die Wachen ein.
General Rashadhi, der vorherige Anführer der Wachen, war im Gemetzel in der großen Höhle ums Leben gekommen. Shymron hatte die verbliebenen Wächter zusammengetrommelt, um die Studenten zu evakuieren. Worauf die Wächter ihn festgenommen hatten, immerhin war er ein gesuchter Gefangener. Es brauchte den Angriff einiger giftgrüner Kreuzungen zwischen Ratte und Giftschlange, damit sie ihm glaubten.
Die Akademie war von Kreaturen überrannt worden. Die Riegel zur verborgenen Höhle waren gesplittert, doch immerhin hatte das Verriegeln ihnen Zeit verschafft. Ein Großteil der Studenten konnte entkommen.
Danach war Shymron ohne irgendjemandes Zutun zu demjenigen geworden, auf dessen Befehle geachtet wurde. Er teilte Wachen für jeden Abend ein, die in der Nacht den Rand des Lagers beschützten, und er bestellte Reiter und schnelle Läufer ab, die während des Tages an den Seiten der Wandernden auf und ab liefen. Shymrons Befehle waren eindeutig: Niemand durfte auch nur alleine auf die Toilette. Man blieb mindestens zu zweit, wenn nicht sogar in größeren Gruppen, und es war immer ein Bewaffneter in der Gruppe.
Außerdem trug jeder eine Flöte wie die, die Padhi besaß. Bei dem geringsten Anzeichen von Gefahr sollten sie hineinblasen.
Aus diesem Grund schreckte Shymron sofort aus dem Schlaf, als das schrille Pfeifen ertönte. Er eilte zum Rand des Lagers und hörte Schreie, Knurren und Fauchen. Er war noch nicht richtig wach und es war zu dunkel, um viel zu erkennen. Trotzdem stürmte er, den Drachenstab in der Hand, mitten ins Getümmel.
Eine Upadhy-Kreatur hatte angegriffen. Es war ein massiges Wesen mit zottigem Fell und gehörntem Raubtierkopf. Ihr Schwanz endete in einen starken Fischleib.
Shymron bliebt stehen. Das hier war doch nichts weiter als ein sehr großer Fischparder – der Tigerkoi.
Wie sollte er alleine gegen es ankommen? Er hob den Stab und spürte den Blick der funkelnden Augen auf sich.
Dann sprang der Tigerkoi.
Shymron ließ sich zu Boden fallen und spürte die Krallen über seinen Rücken kratzen. Er wollte aufspringen, doch der Tigerkoi war schneller, wendete und schlug nach ihm. Shymron rollte sich zur Seite.
Er stieß gegen einen Baumstamm. Der Tigerkoi holte zum zweiten Schlag aus – und erstarrte. Etwas hatte ihn am Kopf getroffen. Knurrend sah er sich um.
„Genau! Hier drüben, du hässlicher Mistkerl!“
Shymron blickte auf. Es war Itoko. Als der Tigerkoi sprang, verschwand das Mädchen einfach und huschte als Fuchs davon. Knurrend jagte der Tigerkoi hinterher. Itoko lockte die rasende Bestie fort vom Lager.
Shymron sprang auf und eilte hinterher. Im Rennen pfiff er und sah einen moosgrünen Schatten aus den Baumwipfeln huschen.
„Mibbi!“, rief er. „Greif den Nacken an!“
Der Drache keckerte und stürzte sich dann auf den Tigerkoi, ohne in die Reichweite der mächtigen Pranken zu geraten. Das Mischwesen brüllte auf und die langsamere Itoko entkam.
Dann war Padhi plötzlich an Shymrons Seite, leise wie ein Schatten. Sie warf ihm einen Blick zu und zeigte auf den Rücken des Tiers.
Shymron, Padhi und Itoko – nun wieder in Jungengestalt – stellten sich rings um den Tigerkoi auf, der wütend nach dem flatternden Mibbi schnappte. Padhi streckte eine Hand zu dem riesenhaften Monster aus.
Das Untier erstarrte und sah Itoko bebend an. Sein Knurren ging den dreien durch Mark und Bein. Selbst kauernd war der Tigerkoi fast doppelt so groß wie sie.
Er machte eine Bewegung auf Padhi zu und schnappte nach ihrer Hand, die das stumme Mädchen an die Brust riss. Sie schüttelte den Kopf.
Shymron schleuderte den Stock und die Drachenkopfspitze bohrte sich in den Hals des Tigerkois. Er röhrte auf und schlug um sich. Mibbi flatterte außer Reichweite. Blut sprudelte aus der Wunde der Bestie.
„Perfekter Treffer!“, jubelte Itoko. Die drei Freunde wichen von dem Todeskampf der Bestie zurück. Die Kräfte des Wesens erlahmten schnell und es brach zusammen.
Shymron beugte sich vor und band die Pranken zusammen. Padhi lief davon und kam in Begleitung ihres Elefanten wieder. Schnell war das tote Tier mit einem Seil an den Elefanten gebunden und wurde hinter diesem her geschleift, als Padhi, Itoko und Shymron in den Sattel stiegen.
Bald blieben die Lichter des Lagers hinter ihnen zurück. Der Dschungel umhüllte sie mit seinen vertrauten und weniger vertrauten Geräuschen.
„Wie kannst du jetzt essen?“, fragte Shymron entgeistert, als er Itoko hinter sich laut schmatzen hörte.
„Ich muss Mantis würdig vertreten“, meinte der Silberfuchs.
„Dann lerne lieber mal ihre Kampftechnik!“, brummte Shymron. „Dann wärst du wenigstens nützlich.“
„Ja, ja, ich könnte das Lager im Alleingang verteidigen und du müsstest dir nicht ständig Sorgen machen wie eine Glucke mit einhundert Küken.“ Itoko lachte dreckig, dann klopfte sie Shymron auf die Schultern. „Nimm‘s nicht so schwer, Wächter. Sie werden eine halbe Stunde ohne uns überleben.“
„Hoffentlich“, brummte Shymron.
Sie brachten den Tigerkoi fort vom Lager, und ließen ihn abseits des Weges liegen. Auf dem Rückweg führte Padhi den widerstrebenden Elefanten durch einen flachen Fluss, damit der Tiger ihre Spur verlieren würde.
Töten konnten sie das Monstrum nicht. Sie mussten es davon abhalten, ihnen weiter zu folgen.
„Wisst ihr, ich habe nachgedacht“, sagte Itoko, als sich der Elefant in etwas schnellerem Tempo auf dem Rückweg zum Lager befand.
Padhi warf einen fragenden Blick nach hinten.
„Wir können uns ja nicht länger die ‚Silbersträhnen‘ nennen“, begann Itoko. „Eher Grauhaar, Schwarzhaar und Grünhaar.“
Shymron starrte Padhi an. „Wovon spricht sie?“
Padhi bewegte die Hände, langsam und deutlich, weil Shymron die Gebärdensprache noch kaum beherrschte. Ein alter Witz. Mantis gab uns immer Teamnamen.
Itoko übersetzte die Gesten leise in Worte. Shymron nickte. „Teamnamen?“
„Wie eine Gruppe von Wettkämpfern oder berühmten Entdeckern“, sagte Itoko grinsend. „Aber wie nennt man nun ein stummes Genexperiment, einen Mooselfen-Wächter und einen Silberfuchs?“
Padhi rollte mit den Augen. Wie?
„Die Jadekrieger!“, rief Itoko stolz aus. „Oder: Kinder der Jade. Oder auch Bestienringer!“
Padhi rieb sich die Augen und gestikulierte dann: Das musst du noch üben.
„Jadekrieger gefällt mir“, sagte Shymron mit einem schwachen Lächeln, in das sich Wehmut schlich.
„Dann sind wir die Jadekrieger“, verkündete Itoko. „Jedenfalls so lange, bis mir etwas Besseres einfällt.“
Es ist gut, gab Padhi widerstrebend zu. Die Lichter des Lagers tauchten vor ihnen auf. Alles schien ruhig – und der Weg in die Berge von Akijama lag vor ihnen. Bald hätten sie die Dschungel von Dhubaayana verlassen.
~ ⁂ ~
ENDE
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Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!