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Padhi hörte, wie ein Befehl gebrüllt wurde. Dann erklang ein seltsames Pfeifen oder Sirren.
„Pfeile!“, schrie Shymron entsetzt.
Sie hörten ein Gurgeln. Satte, fleischige Töne, als die Pfeile auf Widerstand trafen. Kreaturen kreischten.
Padhi stolperte nach vorne und der magische Nebel löste sich auf. Das vielstimmige Kreischen wurde so laut, bis es sich in ihrem Kopf zu einer betäubenden Stille steigerte, durch die kein Ton mehr drang. Sie sah Mantis zwischen den Käfigen knien. Unzählige schwarze Schafte steckten in ihren Bauch und Brustkorb. Andere hatte sie abwehren können oder sie waren von der Rüstung abgeprallt und hatten Dellen darin hinterlassen. Auch viele der Kreaturen in den Käfigen waren durchbohrt worden, doch der Beschuss hatte sich auf den Bereich vor dem Eingang des Tempels konzentriert.
„Sie haben … einfach … blindlings … einen Pfeilhagel abgeschossen!“, stammelte Shymron.
Padhi presste die Hände auf den Mund.
Mantis stöhnte. Es war in der gesamten Höhle zu hören. Dann kippte sie langsam auf die Seite.
„Nein!“, schrie Itoko.
„Tötet sie alle“, befahl Namin Upadhy.
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Geschockt taumelten die beiden Mädchen nach hinten. Shymron packte die Waffe fester. Pfeile prasselten auf das Dach des Tempels. Nach draußen zu gehen, käme einem Selbstmord gleich. Er wich zu Padhi und Itoko zurück. Seine Gedanken rasten. Was sollten sie jetzt tun? Mantis, die sich immer als erste hatte fangen können, war fort – was blieb dann noch übrig?
Er atmete tief durch. Er war übrig. Ein Wächter der Akademie. Er durfte sich nicht von dem Schock besiegen lassen.
„Reißt euch zusammen!“, zischte er Itoko und Padhi an. „Wenn wir das hier überleben wollen, brauchen wir einen Plan.“
„Überleben?“ Itoko sah ihn mit ausdruckslosen Augen an.
Er packte sie am Kragen. „Oder wollt ihr dieses Schwein Namin gewinnen lassen?“
Itoko schüttelte grimmig den Kopf. Padhi bewegte die Hände.
„Was sagt -“ Shymron musste die Frage nicht einmal beenden.
„Sie sagt, dass sie beliebig viele und große Illusionen erschaffen kann, aber mehr auch nicht“, berichtete Itoko.
Shymron dachte kurz nach. „Du kannst zu einer Geisterforelle werden, oder, Itoko?“
Sie nickte. Shymron lächelte grimmig.
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Kurz darauf hob sich erneut Nebel aus dem Boden der gewaltigen Höhle. Pfeile prasselten unentwegt auf das Dach des Tempels, und auch andere Mächte zerrten nun daran. Magier, die Namin mitgebracht hatte. Sie kämpften, wie die Soldaten, mit vor Panik und Entsetzen weit aufgerissenen Augen.
Der Nebel war allerdings nicht so stark wie beim letzten Mal. Einige der Bogenschützen sahen zwei geduckte Personen aus dem Eingang rennen. Sofort schossen sie auf die beiden, doch diese wichen aus.
„Da vorne!“, rief einer der Wächter.
Sämtliche Schützen feuerten. Wie eine schwarze Wolke senkten sich die Geschosse auf die Laufenden.
Und sie liefen dennoch weiter.
„Eine Illusion!“, brüllte Namin. „Das war nur eine Illusion.“
Wieder schossen die Wächter auf den kleinen Tempel, der inmitten der Käfige voller elendig brüllender Kreaturen stand.
Einen winzigen Moment war das Gebäude unbeobachtet gewesen. War etwas entkommen? Doch die Verteidiger konnten nichts sehen.
Sie schossen weiter, Pfeil um Pfeil, während ihre Magier eine Barriere um den Tempel legten, und diese immer weiter zusammenschrumpfen ließen. Das Gestein bröckelte.
„Ich spüre Lebewesen im Tempel“, vermeldete einer der Magier. „Sie sind noch da drin.“
„Lasst sie nicht heraus“, knurrte Namin. „Vernichtet den Tempel, wenn es nicht anders geht.“
Seine Arbeit, die damit zugrunde gehen würde, war ihm egal. Das alles konnte er sich erneut aufbauen.
Er trat zurück und näherte sich der großen Pforte. Während die Wächter abgelenkt waren, würde er die Tore schließen. Es war egal, wie der Kampf ausging. Kein lebendes Wesen würde aus dieser Höhle entkommen, und sein Geheimnis würde wieder sicher sein.
Er streckte die Hand nach der Tür aus, als er Schreie hörte.
„Nein, es sind nur Illusionen!“, beruhigte ein General seine Männer. Namin drehte sich um. Riesige Schatten bewegten sich durch den Nebel, irrsinnig schnell.
Namin lächelte. Padhi war klug. Sie ließ es aussehen, als wären die unzähligen Geschöpfe aus ihren Käfigen geflohen, was die Wächter zuverlässig in Terror versetzte. Doch er wusste, dass die Käfige nur von einem Punkt aus geöffnet werden konnten: Der zentrale Hebel direkt neben der Tür.
Jemand trat Namin in die Seite. Er wirbelte herum, während er auf den Boden fiel, und sah jemanden vor sich in die Höhe ragen.
Es war der Silberfuchs, mit dem sich seine Tochter angefreundet hatte.
„Du? Aber … wie?“
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Itoko lächelte grimmig. „Wohin willst du denn, alter Mann? Kennst du die Etikette nicht? Ein Kapitän geht immer zusammen mit seinem Schiff unter.“
Schreie erklangen. Gellende Schreie. Eine vermeintliche Illusion hatte den vordersten Soldaten erreicht, und das Wesen – eine Mischung aus Schlange, Affe und Krokodil – bohrte die giftigen Zähne in seine Seite.
„Was hast du getan?“, hauchte Namin. Er wurde blass.
„Och, nur die Kräfte gerecht verteilt“, sagte das Mädchen breit grinsend.
„Gerecht?!“, japste Namin. „Diese Kreaturen stehen auf keiner Seite. Sie werden uns alle töten!“
„Ich kenne ein paar“, sagte Itoko gelassen. „Den Tigerkoi! Der ist eine wahre Berühmtheit. Und offenbar doch kein Märchen. Oder der Tintenfisch, der Giftpfeile abschießen kann. Oder dieses riesige Elefanten-Drachen-Raubtier-Vieh.“
„Der Gapallogas“, flüsterte Namin. Sein Blick glitt zur Tür. Itoko glaubte zuerst, er dächte an die Flucht, doch als sie sich umdrehte, sah sie einige kleine Wesen zur Tür hinaus huschen.
„Das sind doch diese Rattenvögel, oder?“
„Sie entkommen“, flüsterte Namin. „Kannst du dir vorstellen, was sie anrichten werden?“
Er sprang auf und griff an. Itoko konnte nicht schnell genug reagieren, und plötzlich kniete er über ihr und presste die Finger um ihre Kehle zusammen. „Was hast du getan?“, brüllte er, während er ihren Kopf auf den Stein schlug.
Itoko hämmerte auf seine Arme und suchte mit den Beinen nach Halt. Vor ihren Augen drehte sich alles. Ihr Kopf schmerzte und sie bekam keine Luft mehr.
Dann bohrte sie die Fingernägel in Namins Arme und spuckte ihm ins Gesicht. Für eine winzige Sekunde lockerte sich sein Griff. Itoko schrumpfte zur Gestalt des Fuchses zusammen, schlüpfte unter dem Elfen hervor, sprang auf seinen Rücken und schnappte nach seiner Kehle.
Sie schmeckte Blut. Namin schrie.
Das ist für Mantis, dachte der Silberfuchs wütend und biss fester zu, obwohl Namin an ihm zerrte und ihn abschütteln wollte.
Dann fühlte er einen Stoß. Namin flog durch die Luft und Itoko verlor den Halt. Als der Fuchs landete, sah er ein massiges, rot-schwarz gestreiftes Wesen, das den Universitätsleiter gepackt hatte und nach draußen schleifte, als wöge er nichts. Eine breite Blutspur blieb hinter ihm zurück.
Panisch sah der Fuchs sich um. Padhi und Shymron! Sie waren noch im Tempel.
Ringsherum tobte Chaos. Der Nebel war verschwunden, und so sah Itoko, wie unzählige Wächter von den absurdesten Wesen zerfetzt wurden. Ein feiner Blutregen ersetzte den Nebel.
Es war ein alptraumhaftes Gemetzel. Namins Kreaturen flogen, rannten oder robbten, manche ergriffen die Flucht, doch jene, die angriffen, waren effektiv und grausam.
Wie sollten es Padhi und Shymron durch dieses Chaos schaffen?
Itoko nahm die Gestalt der Forelle an und glitt durch die Luft. So war er zwar immer noch verwundbar, aber weniger als in Fuchs- oder Menschengestalt. Schwerelos jagte er durch die Höhle und suchte seine Freunde.
Es dauerte nicht lange, bis Itoko Padhi und Shymron entdeckte. Sie waren in einen leeren Käfig gekrochen und warteten in dem relativen Schutz auf eine sichere Passage im Kampf.
Itoko sauste zu ihnen, so schnell sie konnte, und umkreiste Padhi.
In diesem Moment stieß Shymron einen Schrei aus und zerrte Padhi hinter sich. Itoko wirbelte herum.
Ein geflecktes Wesen hatte sie entdeckt.
Es hatte kräftige, lange Arme wie ein Affe, und kurze Hauer, die aus den Seiten des Mauls ragten und von denen Geifer troff. Der Hinterleib glich dem eines Jaguars.
Er knurrte und duckte sich zum Sprung. Shymron riss die Waffe hoch, als Padhi sich plötzlich aufrichtete und die Hand ausstreckte.
Das Mischwesen starrte das stumme Mädchen an. Dann entspannte es sich plötzlich und richtete sich auf. Auge in Auge mit Padhi stand es da.
Es weitete die schrägen Nasenlöcher. Dann blinzelte es und trottete davon.
„Was war das denn?“, fragte Shymron entgeistert.
Padhi bückte sich und ergriff seine Hand. Sie zog ihn auf die Beine.
Itoko folgte ihr ebenso verdutzt wie Shymron.
Mit einem Mal war der Weg frei. Die Wächter waren zum großen Teil tot, und die Kreaturen hatten die Höhle verlassen oder fraßen. Den drei leise Schleichenden schenkten sie keine Beachtung. Und wenn doch, so witterten die Wesen, blinzelten und senkten die Köpfe wieder.
„Padhi … sie ist eine von ihnen“, flüsterte Itoko.
Padhi nickte und formte: Wir sind die Kinder der weißen Jade.
Itoko sah zurück zum Tempel. „Dein Vater hat euch mittels Magie erschaffen … und diese Magie teilt ihr bis heute.“
Padhi nickte.
Sie erreichten die Tore. Im Vorraum lagen geborstene Ketten in dem Mosaik, das einst die Yakshi beherbergt hatte. Sie war fort, nach dem Tod ihres Meisters entlassen.
Sie lehnten sich gegen die Türen, um sie zu schließen.
„Sind … sind diese ganzen Wesen entkommen?“, fragte Shymron.
„Eine ganze Menge jedenfalls.“ Itoko schob den Riegel vor. „Aber die blutrünstigsten sind hier eingesperrt. Ähm … die meisten von ihnen.“
Ein Ruck ging durch Shymron. „Wir müssen die Universität evakuieren! Jetzt!“