Die Sonne schien an diesem Tag und das Leben war gut. Aikoldhi tobte mit den anderen Kindern um den heiligen Platz am Rand des Dorfes. Die Opferschale vor dem Schrein war gefüllt mit Früchten der reichen Ernte, die die Regenzeit ihnen geschenkt hatte. Die Salbäume bildeten eine Kuppel über dem Platz, dessen rote Erde genau wie alle Wege jeden Morgen saubergefegt wurde, damit die geflügelten Samen hier keine Wurzeln schlugen und die Pfade im dichten Dschungel begehbar blieben.
Aikoldhi sprang durch den Wassergraben, dessen Pegel bereits täglich sank. "Raaaaahhh! Raaaaahhh!", rief er und sprang, beide Hände mit zu Klauen gekrümmten Fingern erhoben, hinauf.
Lachend und kreischend rannten die anderen weg. "Der Tigerkoi! Der Tigerkoi greift an!"
"Und er ist hungrig!", krähte Aikoldhi. "Raaaahhh!"
Die Sonne schien warm, aber noch nicht unerträglich heiß. Die Blätter der Salbäume raschelten im schwachen Wind. Westlich des Dorfes, bei dem die Hirtenkinder spielten, lag die großartige Akademie von Tipanyaaris, eine von nur drei Lehrinstituten im Dschungel, wo die großen Denker und Magier der Elfen lernten und lehrten. Die jungen Menschenkinder würden das prächtige Gebäude niemals von innen sehen, und doch sicherte der Bedarf der Akademiker an Nahrung die Zukunft der Bauern und Ziegenhirten des Dorfes.
Ein wenig atemlos rannte Aikoldhi seinen Spielgefährten nach. Ein junges Mädchen hatte er fast erreicht. Er streckte die Hand nach ihr aus ... "Hab dich!"
"Nein, hast du nicht! Du musst zurück in den Bach!", schimpfte sie. "Der Tigerkoi ist zur Hälfte Fisch, er braucht Wasser!"
"Aber er kann auch raus!", beharrte Aikoldhi.
"Aber nicht so lange!"
"Ein Fischparder kann ja auch länger aus dem Wasser!"
"Gar nicht!"
"Wohl!"
Die anderen Kinder versammelten sich um die Streitenden.
"Der Fischparder letztens konnte auch eine Ziege reißen, bis er wieder ins Wasser musste", warf ein Junge ein.
"Aikoldhi hat dich erwischt, jetzt bist du der Tigerkoi", sagte ein Mädchen.
Die Gefangene verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte auf. "Ich will nicht mehr spielen! Das ist doof!" Sie marschierte zum Dorf.
"Komm schon!", rief Aikoldhi ihr nach. "Dann bin ich eben weiter der Tigerkoi."
Das Kind zögerte, dann nickte es und kam zurück. Bald spielten die Kinder wieder, rannten lachend im Kreis. Sorglos, denn der Tigerkoi war für sie nichts weiter als eine Gruselgeschichte. Vor ein paar Tagen hatte das Dorf Angst gehabt, weil eine Raubkatze eine Ziege gerissen hatte. Doch wie sich herausgestellt hatte, war es nur ein Fischparder-Weibchen gewesen, das zu spät noch einen Wurf Jungtiere bekommen hatte und verzweifelt Beute suchte. Die mutigen Wächter von der Akademie hatten die tierische Familie in einer großen Wasserwanne mitgenommen und den Kindern dabei versichert, dass es tatsächlich keinen Tigerkoi gab, nur echte Tiger und Fischparder und Leoparden, aber auch die nicht so nah beim Dorf, und wenn doch, so griffen sie niemals Erdvölker an.
Und so spielte Aikoldhi mit seinen Freunden, nicht ahnend, dass das gestreifte Katzentier mit dem flammend roten Fischschwanz längst nicht mehr nur in den unheimlichen Geschichten am abendlichen Feuer lebendig war.
Und ein Jahr später war die Welt vollkommen anders. Das Dorf lag verwaist da. Kein Erdwesen und keine Ziege war geblieben. Wilde Setzlinge wucherten auf den ungepflegten Pfaden, der Dschungel eroberte die Felder rasch und gierig. Papageien kreischen in den Wipfeln und um die hohlen Türme der verlassenen Akademie. Aus den Kellergewölben und den dunklen Schatten unter den Bäumen drangen merkwürdige Rufe und schrille Schreie verletzter Lebensformen.
Die Schale vor dem Schrein war leer bis auf einige Blätter, die der Wind in die schlammige Pfütze darin geweht hatte. In dem Graben, in dem Aikoldhi herumgesprungen war, lag der dicke Schwanz einer ausgeweideten Schlange, jedoch bewachsen mit dichtem, rötlichem Haar.
Die gequälten Schreie brachen ab, einer nach dem anderen. Stille senkte sich über die Wälder, während auch die Sonne unterging. Nur noch vereinzelt hallte ein schauriges Knurren über die Wipfel, das triumphierende Grollen des alleinigen Herrschers.
Als die Sonne sank, schlossen sich die Wunden am schuppigen Leib im Graben plötzlich und der zerrissene Leib kroch davon, zielstrebig zu seiner unbekannten Bestimmung. Der Tod war aus dem einst steifen Leib verschwunden. Rascheln erklang in dem mondlichtgespenkelten Wald und die über den Tag erstorbenen Rufe erhoben sich erneut.
Denn der Fluch von Tipanyaaris war unsterblich.