Kapitel 2: Tipanyaaris‘ Ruf (und jene, die ihm folgten)
Da sie alle gleichzeitig aus dem Teezelt traten, bildeten sie automatisch eine Gruppe. Einander musternd hielten die acht Abenteuerwilligen an, bevor sie in das Gedränge der Hauptstraße eintauchten. Sie würden in Zukunft viel Zeit zusammen verbringen, das war ihnen allen bewusst, also war es wohl geraten, einander kennenzulernen.
Viya zog ein mit Goldfäden durchsetztes Tuch um ihre schmalen, grünen Schultern. „Wo sollen wir uns denn jetzt ausrüsten?“
„Auf dem Markt, würde ich vorschlagen“, brummte Asherah spöttisch.
„Wo ist denn der Markt?“ Die Zwergin, Dhunya, sah sich um, während sie sich die Hände rieb. „Das da unten, beim Hafen?“
Von hier oben waren die niedrigen Stände gut zu erkennen, die sich wie bunte Holzklötzchen zwischen den eher terrakottafarbenen Häusern erstreckten, zu beiden Seiten des Flusses und dicht an der Bucht.
„Genau, da ist der Markt. Es sind gerade neue Schiffe eingetroffen, wir sollten also fündig werden, und die Preise sind auch niedrig.“ Alle Blicke richteten sich auf Zynon, der gesprochen hatte.
„Kennt Ihr Euch hier aus?“, fragte Dhunya ihn. „Wisst Ihr ein gutes Rasthaus?“
Der Waldmensch schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich, nee. Ich weiß nur, dass der Absatz um diese Zeit echt mies ist. Wild verkauft sich in der Regenzeit am besten, sonst liefere ich eigentlich nur Kräuter an die Teehäuser.“
„Mein Haus ist nicht weit vom Markt“, bot Akshiake an. „Dort könnt ihr übernachten, wenn ihr wollt.“
„Ihr wohnt hier?“ Giorgio musterte den Mooselfen neugierig.
Akshiake musste nicht einmal nicken. „Ich kann euch den Markt zeigen. Ich kenne ein paar der Händler.“
„Ich komme auch mit“, warf Jaswath ein. „Ich brauche noch frische Heilkräuter und vielleicht ein paar Ersatzschrauben für unseren Wagen.“
„Also, ich komme mit.“ Rikhon grinste in die Runde, während Dhunya sich bei dem Menschen unterhakte. Viya trat zu ihnen. Giorgio und Zynon und schließlich auch Asherah schlossen sich an, und so zogen sie rasch los, Akshiake voran.
Jaswath folgte ganz am Ende des Trupps und hatte das Gefühl, dass bei jedem Schritt Erinnerungen aus dem Boden aufstiegen.
⁂
Er war lange nicht mehr hier gewesen. Jaswath schluckte, als sich die Häuser vor ihm aus dem grauen Regenguss schälten.
Die Monsunzeit war eigentlich vorbei, doch ein später Sturm hatte ihm auf dem letzten Stück des Wegs überrascht. Dick, schwer und warm tropfte es aus den Blättern über ihm. Jas zog den Kopf zwischen die Schultern, während der Karren über die ersten Steine der gepflasterten Straße holperte. Die großen Holzräder waren mit rötlichem Matsch verschmiert, da die Straßen im Dschungel nicht befestigt waren und aus gefegter Erde bestanden. Erst zwischen den Hütten von Yamayini hatte man sich die Mühe gemacht, Steine zu verlegen.
Die beiden Padai* stemmten sich mit angelegten Ohren in die Riemen und bissen gereizt in ihre Geschirre. Sie konnten den Regen nicht leiden, der ihr kurzen, gelbliches Fell durchtränkte, und hassten die unebene Straße. Passanten machten dem Gespann aus Katzenpferden eilig Platz, obwohl Jas ihnen wie vorgegeben Maulkörbe umgelegt hatte, die die kräftigen Hauer der Padai bedeckten.
Nach einer Weile, die sich die gepunkteten Tiere mit peitschenden Schwänzen bergauf arbeiteten, wurde der Weg leichter. Die Straßensteine waren hier nicht einfach in die Erde gestampft, sondern zurechtgehauen und fast nahtlos aneinandergereiht worden. Die Steigung wurde sanfter und die Häuser feiner gearbeitet und bunter. Es sollte ihn freuen, dass gutes Essen, saubere Betten und ein trockener Raum nicht mehr weit entfernt waren, doch stattdessen sank seine Laune. Die verregnete Wildnis wäre ihm lieber gewesen.
Er musste eine Weile suchen, bis er einen Stall fand, der noch Platz für einen Karren und zwei Padai hatte, wenngleich Mineys in einem zugigen Verschlag stehen musste, in dem normalerweise Arbeitsgerät aufbewahrt wurde, und Acadhisa sich ihren Stall mit drei anderen Padai teilte. Aber so war das eben nach der Regenzeit. Jas erinnerte sich, wie aufregend er das früher gefunden hatte. Nach den vier Monaten nahezu unablässigen Starkregens wagten sich wieder Handelsschiffe aus fernen Ländern in den Hafen, pünktlich zum Uluburui, dem Monat des Trickstergottes Dajapaik. Auch heute waren wieder Kinder mit Affenmasken unterwegs und offenbar viele Fremde angereist, um das Dajadajoo-Fest zu erleben. Selbst entlang der Straßen standen überall Händler, die buntgefärbtes Pulver verkauften.
Nachdem er für die Unterkunft der Katzenpferde bezahlt hatte, schlenderte Jaswath durch das bunte Treiben, lauschte dem Gelächter und betrachtete die bunten Fahnen. Hier und da wusch der Regen grünen, blauen oder gelben Matsch von der Straße, wo offenbar ein übermütiges Kind – oder ein unvorsichtiger Erwachsener – einen Farbsandtopf geleert hatte. Erinnerungen an eine einfachere Zeit überfluteten ihn. Vor Tipanyaaris. Vor dem Fluch. Und bevor er verstanden hatte, warum Dämonenmagie so gefürchtet war und er den Kontakt zu seinem Vater abgebrochen hatte.
Noch immer war sich Jas nicht sicher in seiner Entscheidung. Wie immer, wenn ihm Zweifel kamen, umfasste er das Medaillon, das unter seinem Hemd hing, und fragte Lavinya stumm um Rat. ‚Sag mir, wo du bist‘, bat er stumm. ‚Sag mir, wie ich dich finden kann.‘
Heute blieb das Amulett der Verbundenheit kalt.
‚Soll ich ihn wirklich bitten, dich zu suchen?‘
Manchmal spürte er die Vibration der Magie, einen Funken Wärme und ein Kribbeln, doch diesmal kam keine Bestätigung. Jas, dessen Füße ihn bereits dem fernen, grünbewachsenen Hügel zugetragen hatten, wo sein Vater wie die anderen Hexer fern der Hafenstadt lebte, verlangsamte seine Schritte. Die Finger noch immer um das Amulett geschlungen wandte er sich spontan zu Seite und folgte einer Holztreppe, die sich um den Hügel wand und näher zu den Slums am Flussufer führte. Während er sich einredete, nach einem Gastgeschenk zu suchen, um der Höflichkeit Genüge zu tun, ging er zum Markt. Immerhin würde er nach mehreren Jahrzehnten ohne Ankündigung auf der Schwelle seines Vaters stehen. Da war eine kleine Gabe vielleicht angebracht.
Es war kein Handelstag, aber immer noch genug los. Jas schlenderte zwischen den bunten Ständen umher, auf der Suche nach irgendetwas, das den tiefen Graben zwischen dem Heiler und dem Hexer, die langen Jahre des Streits überwinden könnte.
‚Ich will ja eigentlich nur eine Dienstleistung. Ich bezahle ihn für seine Mühen. Aber er ist trotzdem mein Vater.‘
Stoffe, Gewürze, exotische Blumen, Nippes, Spielzeuge, Haushaltswaren … Nichts davon erschien ihm passend. Schließlich blieb sein schweifender Blick an einem Mast hängen, an dem ein deutlich sichtbarer Aushang angebracht worden war. Eine Ecke war abgerissen, doch weiter war die mutwillige Zerstörung noch nicht fortgeschritten. Es war offensichtlich, dass jemand versucht hatte, den Zettel zu entfernen, denn in großen Buchstaben mehrerer Schriftsysteme stand dort gut lesbar ein Wort, das sich in Jas‘ Erinnerung gegraben hatte.
Tipanyaaris.
Er trat näher heran und las von einer Expedition, einem Treffen im Teehaus und entdeckte schließlich einen Namen, der ihn endgültig überzeugte.
„Anilas“, murmelte er. „Anilas von der Burkhadooi-Akademie.“ Das musste er sein – es wäre sonst ein zu großer Zufall.
Jas prägte sich die Lagebeschreibung des Teehauses ein. Der Zettel konnte noch nicht lange hängen, sonst hätte ihn jemand vollständig abgerissen. Vielleicht war Anilas noch im Teehaus. Er könnte ja hingehen und sehen, ob es sich wirklich um seinen alten Freund handelte. Herausfinden, ob es sich bei dieser Expedition um einen Scherz handelte oder nicht.
Denn wenn es kein Scherz war, dann war es ein Wink des Schicksals. Ein Fingerzeig von Sarasi oder wenigstens eine Botschaft von Lavinya.
‚Vielleicht ist es wirklich Anilas und er geht zur Akademie‘, erzählte er seinem Amulett in Gedanken. ‚Dann werde ich dich finden. Dich und unsere Dathina. Ich werde euch retten.‘
⁂
„Wir sind wohl alle ziemlich verrückt. Was ist mit dir, Jaswath?“
Jas schreckte aus seinen Gedanken auf, als Rikhon ihn ansprach. Der Wabawi schien zu erkennen, dass Jas dem Gespräch nicht gefolgt war, und ergänzte: „Warum willst du unbedingt in Tipanyaaris sterben?“
Offenbar erzählten die anderen von ihren Gründen, sich der Expedition anzuschließen. Jaswath fand es fast schade, dass er die meisten verpasst hatte. Bei Rikhon und Dhunya konnte er es sich allerdings denken.
Er zog das Medaillon hervor. „Deswegen.“
„Ein Amulett der Verbundenheit!“, rief Dhunya entzückt aus. „Ich habe auch eines. Es verbindet mich mit Rikhon.“
Der Wabawi lächelte und hauchte der Zwergin einen Kuss auf die Stirn.
„Dieses hier gehört meiner Frau. Wir haben in Tipan Dheeristos gewohnt, als es passierte“, berichtete Jas leise. „Ich war gerade in einem Forschungsaustrag unterwegs, als der Fluch ausbrach. Als ich zurückkehrte, fand ich nur meine jüngere Tochter, aber ich konnte sie nicht retten. Andere Flüchtlinge sagten mir, dass niemand überlebt haben konnte. Aber manchmal rührt sich das Amulett.“
„Das kann aber auch an einer Fehlfunktion der Magie liegen“, warf Asherah ein. „Magie ist unzuverlässig.“
„Ich weiß“, murmelte Jas und steckte das Medaillon wieder weg. „Aber wenn nicht … Wenn sie dort seit zehn Jahren lebt …“
„Es besteht noch Hoffnung“, versicherte ihm Viya mit einem sanften Lächeln. „Vielleicht wurde ihr Amulett auch beschädigt. Und wenn sie einen Schrein gefunden haben, der sie vor dem Fluch beschützt, ist es durchaus möglich, dass dort noch jemand lebt.“
Jas nickte der jungen Mooselfe dankbar zu.
„Willst du deshalb mit? Um einen Schrein zu errichten?“, fragte Akshiake neugierig.
Die Priesterin nickte. „Ich hatte eine Vision. Mit der Macht von Aithara könnte ich den Frieden zurückbringen und den Dschungel von diesem Unheil reinigen. Meine Göttin hat mich auserwählt, das zu tun. Ihr Licht scheint schützend über der Expedition, und deshalb habe ich keine Zweifel, dass wir Jaswaths Frau finden und die Akademie reinigen werden.“
„Wäre Rha Ffa Miin bei der Suche nach verlorenen Menschen nicht sinnvoller?“, warf Asherah bissig ein.
„Keineswegs. Er ist nur der Gott der verlorenen Dinge“, antwortete Viya, ohne den Spott in Asherahs Stimme wahrzunehmen. „Aithara in ihrer endlosen Güte wird uns dagegen den richtigen Weg weisen, um die Verlorenen zu retten.“
Asherah hob die Augenbrauen und sagte nichts mehr. Der Rest sah nach vorne, wo der Lärm des Marktes allmählich anschwoll. Sie waren fast am Ziel.
Jas versuchte, das entstandene Schweigen zu brechen, und wandte sich an Zynon: „Warum bist du eigentlich dabei?“
„Damit wieder Friede herrscht“, brummte der Waldmensch wortkarg.
⁂
Die Regenzeit war mal wieder viel zu lang gewesen. Ausgerechnet in diesen vier ungemütlichen Monaten hatten die Jäger jedoch den besten Absatz. Es kamen nur wenige Schiffe im Hafen an, also war die Nachfrage nach ihren Waren groß. So verkauften sie nicht nur die Teekräuter, die allein Jäger in den Tiefen der Dschungel aufspüren konnten, sondern auch Pilze, Fleisch und Felle.
Leider mochten die Tiere den triefenden Regen ebenso wenig wie jedes Erdvolk und sie waren schwerer aufzuspüren als während der Trockenzeit. Dafür gediehen die Kräuter wie verrückt. Also sammelte Zynon in der Regenzeit vor allem für den Sommer und verkaufte während des Monsuns das getrocknete oder geräucherte Fleisch des restlichen Jahres.
Er hatte eine weitere Fuhre aus einem seiner Unterschlupfe geholt und war gemeinsam mit anderen Waldmenschen nach Yamayini gezogen. Sie klapperten die Handelswege oft gemeinsam ab, wegen des Risikos von Tigerangriffen oder lauernden Krokodilen in den Flüssen.
Zaston, der junge Gehilfe von Krithas Teehaus, begutachtete die Waren kritisch.
„Nur die besten Teekräuter“, pries Zynon seine Waren an.
„Die getrockneten gefallen mir irgendwie nicht so“, murmelte der Mooself.
„Getrocknet entfalten sie ihr Aroma aber viel …“
„Ich weiß. Und Kritha meinte auch, ich soll getrocknete Blätter holen.“ Zaston seufzte. „Aber die haben viele dunkle Stellen, die schmecken den meisten Stammgästen zu bitter.“
„Ich hätte auch frisches Zeug.“ Zynon klappte einen weiteren Korb auf. „Die könnt ihr selbst trocknen.“
Er mochte Zaston, obwohl er ein Spitzohr war, aber der Bursche konnte unendlich pingelig sein. Pingeliger als Kritha, der das Teehaus immerhin gehörte.
Prüfend ließ Zaston die Finger durch die Blätter gleiten und zerrieb eines unter der Nase. „Gib mal den Beutel.“ Nach und nach, mit einer Geduld, die wohl nur Elfen hatten, wählte Zaston die Blätter aus.
„Und? Was macht die Wildnis?“, fragte er Zynon.
„Ist immer noch wild“, brummte der Mensch zur Antwort. „Ein paar meiner besseren Sammelgründe sind jetzt nicht mehr zugänglich. Die waren oben bei Tipanyaaris, aber der Fluch breitet sich anscheinend aus. Und überall in den Dörfern hocken Flüchtlinge. Ich habe teilweise das doppelte verkauft, aber viel Geld bringt das nicht. Die haben ja alle nichts.“
„Tipanyaaris‘ Fluch ist ein echtes Problem. Aber da könnte sich bald was dran ändern.“
„Wie?“ Zynon wurde hellhörig.
„Letztens war so ein Kerl im Teehaus, ein Elf von der Burkhadooi. Er will eine Expedition leiten, die den Fluch untersucht und hoffentlich eindämmt.“
„Wie bitte?“ Zynon prustete los. „Das ist Selbstmord.“
„Ich hätte ihm gesagt, dass er verrückt ist, und ihn rausgeworfen, aber Kritha will ihn unterstützen. Hat Aushänge gemacht und alles. Der Typ hat sogar schon einen, der mitkommt.“ Zaston schüttelte entgeistert den Kopf, bevor er weiter Kräuter in den Beutel füllte. „Leute gibt’s …“
„Wer würde denn da mitkommen?“
„Der zweite Kerl ist offenbar auch von der Akademie. Wissenschaftler sind wohl so, schätze ich.“
Zynon schnaubte. „Irre.“
Zaston hatte den Beutel prallgefüllt und wirkte zufrieden. Er wählte auch noch einen Sack getrockneter Kräuter, jedoch eher widerstrebend. „Kritha zieht mir die Ohren noch länger, wenn ich ihr nur frisches Zeug mitbringe. Unser Lager ist fast leer.“
Zynon beschwerte sich nicht. Die Bezahlung war wie immer gut. Deshalb gehörte Kritha auch zu seinen Stammkunden in Yamayini.
Er winkte Zaston zum Abschied. „Grüß sie von mir.“
Auf dem Rückweg vom Markt, mit deutlich leichterem Wagen, ging ihm Zastons Geschichte wieder durch den Kopf. Eine Expedition zur Akademie Tipanyaaris. Lächerlich! Da würde doch niemand mitmachen. Er schüttelte den Kopf.
Schön wäre es trotzdem. Sein Heimatdorf war von Flüchtlingen aus Tipan Dheeristos überrannt worden. Und da viele davon Elfen waren, hielten sie sich für was besseres und spielten sich auf. Es wäre besser für alle Beteiligten, wenn sie dorthin zurückgingen, woher sie kamen.
Auf dem Weg aus der Stadt heraus kam er an einer Traube Elfen vorbei, die sich um einen Aushang versammelt hatten. Was darauf stand, wusste er nicht, doch er hörte, dass über Tipanyaaris gesprochen wurde. Zögerlich blieb er stehen. Nur, um sich wie die Elfen darüber lustig zu machen, sagte er sich.
„Das meint der doch nicht ernst, oder?“, fragte einer von ihnen.
„Wir können am 6. Uluburui ja mal in dem Teezelt vorbeigucken, ob da jemand ist.“
Zynon merkte sich den Tag, ehe er wieder in die Dschungel hinauszog.
⁂
Der Markt war überwältigend, selbst für Akshiake und Jaswath, die den Trubel eigentlich kannten. Die Fremden waren von dem Chaos heillos überfordert und hielten sich dicht an Akshiake, um ihn im Gedränge nicht zu verlieren.
„Dort unten geht es zu den Handwerkern, aber wenn ihr Stoffe sucht, empfehle ich euch, lieber dort hinten hinzugehen, wo die gelben Häuser stehen. Dort ist der Sitz der Webergilde. Bessere Stoffe findet ihr nirgendwo.“
„Wo gibt es denn Verbände?“, fragte Zynon.
Ehe Akshiake antworten konnte, sagte Jas: „Dort will ich auch noch hin. Die Heiler sind da oben.“ Er deutete auf einen grün überwucherten Kalkfelsen, der sich in der Mitte des Marktes erhob und von Seevögeln umschwärmt wurde.
„Können wir zuerst dort hin?“, bat Zynon. „Dann brauche ich nur noch Vorräte.“
„Ich schlage vor, unsere Vorräte holen wir gemeinsam“, sagte Akshiake. „Hier war doch jemand, der die lokalen Spezialitäten ausprobieren wollte.“
Dhunya hob die Hand und der Rest wirkte auch nicht abgeneigt, eine Reisplatte zu speisen.
„Da kenne ich ein gutes Gasthaus, das auch preiswert ist.“
Jas erklärte ihnen, wo der Expeditionswagen untergebracht war. Sie verabredeten, ihre Vorräte dorthin zu bringen und sich dort dann zu treffen, um gemeinsam essen zu gehen. Anschließend verteilten sich alle auf dem Markt. Zynon und Dhunya schlossen sich Jas auf dem Weg zu den Händlern an, wo Jas und Zynon einige Verbände erwarben. Dhunya studierte verzückt die Auslagen der Alchemisten und Giftmischer. Jas begann, sich wegen der Zwergin etwas zu sorgen.
Danach wollte sie noch ein neues Messer kaufen, und da er ohnehin Ersatzschrauben für den Wagen wollte, begleitete er sie zu den Handwerkern. Hier trafen sie Asherah, die die Auslagen eines Schreibwarenhändlers begutachtete und sich einen der filigranen Zirkel vorführen ließ, die ein anderer Handwerker gefertigt hatte.
Akshiakes Weg zu den Webern führte die anderen in der Zwischenzeit quer über den Markt, wo ihnen Giorgio an einem Gewürzstand abhanden kam. Wie ein kleines Kind sah sich der Koch alles an und probierte, wo immer dies möglich war. Mit dhubyanischem K’mba, wajbaqischem Chili, lamarischer Frostminze, celyvarischem Balsilikum und sogar castrischem Kaffee kam er schließlich an einen Stand, der Reisebesteck verkaufte, und erwarb für jeden seiner Mitreisenden ein Set sowie zwei überzählige Teller, Messer, Gabeln, Löffel und Becher – nur zur Sicherheit.
„Ich nehme übrigens mein eigenes Besteck“, informierte ihn Asherah, die mit einem neuen Notizbuch und einem teuren Zirkel in der Tasche vorbeirauschte, auf der Suche nach einer Dose Fett zur Waffenpflege.
Bei den Lederwaren einen Stand neben dem Schwertschleifer entdeckte Rikhon einen verzierten Waffengürtel, in den sich der Wabawi sofort verliebte und für den er viel zu viel bezahlte. Stolz trug er die große Gürtelschnalle zur Schau, als Dhunya ihn bei den Webern traf.
„Schick, oder?“
„Wenigstens ist dafür keine Schlange gestorben“, murmelte Dhunya, etwas enttäuscht. Sie hatte den Gürtel ebenfalls gesehen und überlegte schon eine Weile, Rikhon ein Geschenk zu holen. Damit fiel eine weitere Option weg.
„Was hältst du von diesen Tüchern? Damit kannst du meine Kleidung flicken, wenn mal was kaputt geht.“ Der Abenteurer strich über die farbenfrohe Auswahl.
„Das kannst du schön selbst nähen!“, brummte Dhunya.
Rikhon wurde abgelenkt, als er auf der Suche nach ein oder zwei neuen Hemden Viya traf, die eine hübsche, bestickte Decke und Schmuck auswählte. Dhunya nutzte die Gelegenheit, um zwischen den Marktbesuchern abzutauchen. Wieder mitten auf dem Hafenplatz entdeckte sie einen Stand mit verzierten, kupfernen Wasserpfeifen. Ob Rikhon darin auch seinen grässlichen Kautabak nutzen konnte? Jedenfalls wäre das sicherlich was, das ihm gefallen konnte. Also ließ sich Dhunya von dem eifrigen Händler eine hübsche, handliche Reise-Shisha und drei Beutel mit fruchtigem Tabak andrehen.
Noch in Hörweite der Verkäuferin, die Dhunyas neues Schmuckstück als Geschenk verpackte, konnte ein Brauer sein Glück kaum fassen, als zunächst ein dicker, blonder Celyvarer und dann ein abgebrühter Wabawi seinen Stand entdeckten und jeweils ein Fass seines besten Qbaks kauften.
Jas hatte noch eine Runde über den Markt gedreht, falls irgendjemand der Teilnehmer orientierungslos herumirrte, und traf auf Viya, die sich tatsächlich verlaufen hatte und den Tränen nah war, bis sie ihn entdeckte. Als letzte erreichten sie den Stall, oben auf einem der grünbewachsenen Berge. Zynon hockte auf einer niedrigen Mauer am Abgrund und schnitzte an Wurfspeeren. Drei hatte er bereits fertig, der vierte war in Arbeit. Dhunya untersuchte die Waffen neugierig, erklärte aber gleichzeitig die Vorzüge ihrer Äxte. Eine davon war eine Boyas-Axt, die von den Indianern Wajbaqs stammten. Rikhon lehnte neben ihr an der Stallmauer und spielte mit einem neuerworbenen Feuerstein herum. Asherah ignorierte die Abenteuer und kritzelte in ihr Notizbuch. Giorgio sortierte seine Gewürze liebevoll und bereits zum dritten Mal. Akshiake lächelte, als er Jaswath und Viya erblickte.
„Wir haben uns schon Sorgen gemacht.“
„Alles in Ordnung. Wir hatten eben einen weiten Weg“, nahm Jas Viya in Schutz. „Wollen wir dann essen gehen?“
„Ich dachte, wir nehmen zusammen eine Penmui-Platte.“ Akshiake übernahm sofort die Führung. „Ritogh kann ich euch ebenfalls empfehlen, das sind Fladenbrot-Taschen mit Salat, Ziegenkäse oder Fleisch. Und Pamanaga, Krabbenchips! Am besten mit scharfer Soße.“
Er schlug den Weg zu einem größeren Gasthaus ein, das innen reichlich mit Teppichen ausgelegt war. Als Sitzplätze gab es Kissen auf dem Boden, rings um niedrige, verzierte Kupfertischchen. Auf zwei großen Tellern stellten sie sich ein Penmui zusammen. Dazu wurde der Teller mit dünnen Sauerteigfladen, Roogi, ausgelegt und darauf kamen verschiedene Reisgerichte, die man aus vielen großen, duftenden Schüsseln auswählen konnte. Sie stellten die Teller nebeneinander und bedienten sich, die Roogifladen als Schaufeln nutzend. Die acht unterhielten sich leise, wohlwissend, dass sie die nächsten Wochen miteinander auskommen müssten. Giorgio versuchte, die verschiedenen Bestandteile der K’mba-Gewürze zu erraten, und fachsimpelte über die Wirkung der Früchte in diesem Reisgericht oder die Zusammensetzung von jenem Geschnetzelten. Zynon behauptete, dass das Fleisch von einem Jäger-Bekannten geliefert worden wäre. Viya versuchte, Rikhon von den Vorzügen der Göttin Aithara zu überzeugen und Dhunya fütterte eine kleine Schlange, die sie der Gruppe als Faiba vorstellte.
„Sag mal, Akshiake, hast du eigentlich einen Spitznamen?“, fragte sie ihn dann.
„Ähm …“
„Was hältst du von Shiak?“
Er zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Meinetwegen.“
⁂
Er wusste schon lange nicht mehr, wer er war. Seit jenem Vorfall ließ er sich eigentlich nur noch treiben, verzweifelt auf der Suche nach einem Sinn im Leben.
Seitdem er Tipanyaaris verlassen hatte, kämpfte Akshiake gegen die Sinnlosigkeit seines Lebens an. Ein Mooself, der kein Magier war, wurde überall misstrauisch beäugt. Auch wenn es niemand aussprach, die Frage schien sofort im Raum zu stehen, wenn er erwähnte, dass er nicht zaubern konnte: ‚Was stimmt nicht mit dem? Ist er vielleicht ein Mischling? Ein Bastard?‘
Er war nichts dergleichen. Und nun war er einsam.
Tipanyaaris war seit einigen Jahren in aller Munde. Es hatte ein Unglück dort gegeben, und wie ein Schreckgespenst seiner Vergangenheit folgte ihm die Akademie nun auch nach Yamayini, wo er sich sicher gefühlt hatte. Die verdammte Akademie. Die verdammten Magier. Die verdammte Magie.
Wann immer er konnte, mischte Shiak sich unter das Volk. Er liebte das Marktgeschehen, das die Stadt mit Leben füllte. Wie andere junge Elfen auch zog er durch die Bars oder stöberte bei den Händlern, während er davon träumte, sich alles leisten zu können, was ihn interessierte. Nur eines unterschied ihn von den anderen Elfen: Er war fast immer allein unterwegs, nicht in großen, schwatzenden, lachenden Gruppen.
Er hatte nach Tipanyaaris nie wieder in die Gesellschaft zurückgefunden, streunte nun an ihrem Rand umher wie ein verletzter Tiger am Rand eines Dorfes, dessen Schafe leichte Beute waren. So oft wie möglich suchte er die Teehäuser auf, ohne sich jemals völlig mit Rauch zu betäuben. Zu groß war seine Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst war vielleicht alles, was ihn vor einem noch dunkleren Schicksal abhielt.
An diesem Tag entdeckte Shiak einen neuen Stand auf dem Markt, der Schmuck anbot.
„Ah, der Herr! Vielleicht eine Kette für die Geliebte?“ Wie ein castrischer Aasgeier stürzte sich der Händler auf das zögerliche Interesse in Shiaks Blick.
Er hatte keine Freundin. Aber das spielte keine Rolle, er wollte ohnehin nichts kaufen. „Sie ist sehr wählerisch. Was habt Ihr denn?“
„Feinste Kupferwaren aus Casta. Zum Beispiel diesen traditionellen Kopfschmuck.“ Stolz zeigte der Händler ein Tuch vor, das mit feinen Ketten behängt war, die sich, wenn es richtig getragen wurde, mit dem Haar verweben würden. Kleine Bronzeplatten waren mit blauen Schmucksteinen besetzt. Eine herrliche Arbeit, ohne Frage.
„Ich befürchte, das Geklimper würde sie aufregen.“ Shiak lächelte dünn. „Ich habe mal wieder unser Jubiläum vergessen, wisst Ihr?“
„Oh, oh, oh, das ist eine böse Sache!“, bemerkte der Händler mitfühlend und zeigte Shiak eine perlmuttene Bürste. „Wie wäre es mit dieser Kostbarkeit, um die Wogen des Zorns zu besänftigen?“
Nun kamen sie den teureren Waren schon näher. Prüfend wog Shiak die Bürste in der Hand, strich andächtig über die glatte Oberfläche und bewunderte die dünnen Zinken. Da hatte ein Handwerker genau gewusst, was er tat.
„Wunderschön. Sie hat jedoch einen Kamm aus vinpallischem Walbein. Ich fürchte, dies könnte die falschen Signale senden.“ Er genoss das Geplänkel. Vielleicht sogar zu sehr. „Wirklich ausgezeichnete Arbeit jedoch.“
„Hm, wie wäre es hiermit?“ Als nächstes zog der Händler einen handtellergroßen, silbernen Spiegel hervor. Als Shiak den annahm, um vorzugeben, ihn zu bewerten, erhaschte er einen Blick auf sein eigenes Gesicht. Grün, wie bei allen Mooselfen, umrahmt von kurzem, dunkelgrünem Haar und einer frechen, grelllila Strähne. Ein schmales Gesicht mit schattigen Augenringen und einer kaum sichtbaren Narbe, einem Wulst hinter dem linken Ohr. Unwillkürlich berührte Shiak die erhöhte Haut dort.
‚Was machst du hier?‘ Seine Innere Stimme war so laut, dass er für einen Moment glaubte, jemand habe es ihm ins Ohr gebrüllt. Seine Finger bebten. Eilig legte er den Spiegel ab.
„Mein Herr?“ Dem Händler war seine Reaktion nicht entgangen.
„Vie… vielleicht kaufe ich lieber Blumen“, stammelte er und wankte davon.
In seinem Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander.
‚Blumen für eine imaginäre Freundin? Was mache ich hier? Was mache ich auf diesem Markt?‘
Schwer atmend konnte sich Shiak in eine Lücke zwischen den Ständen retten. Er versuchte, seinen bebenden Atem zu beruhigen. Seine Brust schmerzte heftig, war eingeengt, abgeschnürt. Er presste die Hand darauf, fühlte sein bebendes Herz.
‚Ja, was mache ich hier? Ich renne immer noch weg, selbst nach all den Jahren. Ich habe immer noch Angst. Wie soll ich jemals wieder leben?‘
Er sah auf. Und da, wie als Antwort auf seine Frage, erblickte er einen Aushang. Darauf prangte der verhasste, verfluchte Name.
Tipanyaaris.
Shiak begriff. Er musste sich seiner Angst stellen. Nur so konnte er hoffen, wieder er selbst sein zu können.
⁂
„Wo kann ich denn meine Wurfspeere unterbringen?“, fragte Zynon.
„Leg sie einfach auf den Wagen. Steht im Stall nebenan.“ Jas sah nicht auf. Er war damit beschäftigt, Mineys und Acadhisa die Maulkörbe anzulegen. Die Padai warfen die Köpfe herum und er musste aufpassen, wenn er nicht riskieren wollte, dass sie ihm einen Arm abbissen oder ihm mit ihren Vorderklauen den Brustkorb aufrissen.
Die anderen Teilnehmer waren nach und nach eingetrudelt und beobachteten ihn nun.
„Was sind das für Bestien?“, fragte Asherah entgeistert. „Müssen wir die wirklich mitnehmen?“
„Katzenpferde sind im Dschungel höchst nützlich“, erklärte Jas ihr. „Sie sind stark genug, um den Karren zu ziehen, und im Gegensatz zu Pferden oder Kamelen können sie klettern und selbst durch dichtes Unterholz kriechen.“
„Es sieht aber ziemlich riskant aus …“
„Sind sie auch“, brummte Zynon. Er schob den Ärmel hoch und zeigte eine alte, tiefe Narbe vor. „Das war ein Paidokolos, schon vor Jahren. Das letzte Mal, dass ich mit den Viechern gehandelt habe.“
„Sie sind gefährlich, das stimmt. Aber sobald sie im Geschirr sind, machen sie uns keine Schwierigkeiten mehr, und ich arbeite schon lange mit Padai.“
Die yurvatische Wissenschaftlerin gab sich mit der Erklärung zufrieden. Währenddessen trat Viya allerdings immer weiter vor.
„Nicht streicheln“, warnte Jas die Priesterin. Endlich bekam er das zweite Geschirr über Adadhisas Kopf und schnallte es fest.
Zynon stand noch immer neben ihm. „Es ist echt wenig Platz auf dem Karren.“
„Unsinn.“ Jas runzelte die Stirn. „Der war doch fast leer.“ Er reichte Rikhon den Führstrick von Mineys. „Als Wabawi kennst du dich mit bockigen Reittieren aus, oder? Komm mit.“
Sie führten die Padai vor den Stall. In einem überdachten Nebengebäude stand der Karren. Jas fielen fast die Augen aus dem Kopf, als er ihn erblickte.
„Was sind das für Fässer? Wo kommen die her?“
„Das ist feinstes Qbak“, erklärte Rikhon ihm selbstbewusst. Mithilfe von Dhunya schnallte er Mineys vor den Karren. Die beiden hatten Ahnung von Kutschen und Gespannen, das ließ sich nicht leugnen.
„Das mag ja sein, aber wir brauchen doch keine zwei Fässer davon!“
„Wann willst du das alles trinken?“, pflichtete Dhunya Jas bei.
„Ich habe nur ein Fass geholt“, sagte Rikhon störrisch. „Das zweite ist nicht von mir.“
Jas hätte sich am liebsten die Haare gerauft. Anilas würde jeden Moment auftauchen, damit sie aufbrechen konnten – und ihr Karren war voller Bierfässern!
„Ich habe gehört, dass es das beste Bier ist, und ich brauche das beste für meine Bratensoße“, ließ sich Giorgio vernehmen. „Das Qbak kommt auf jeden Fall mit.“
Jas schüttelte fassungslos den Kopf. „Der Flößer wird uns am Ufer stehen lassen!“, hauchte er entgeistert. „Oder wir sinken.“
„Ich bin mir sicher, dass das schon irgendwie klappt“, sagte Viya zuversichtlich.
Wie erwartet kam Anilas wenig später auf den Platz vor dem Stall marschiert. Inzwischen waren hier längst nicht mehr alle Boxen besetzt und niemand war da, um ihren Aufbruch zu beobachten. Das bedeutete auch, dass kein weiterer Teilnehmer zum zweiten Treffen erschienen war.
„Alle da? Können wir loslegen?“, fragte Anilas.
„Ja“, sagte Jaswath mit einem gequälten Lächeln. „Alles bereit.“
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*Padai (Einzahl: Paidokolos), auch „Katzenpferde“, sind ein Mischwesen aus Katze und Wildschwein. Sie sind pferdegroß, haben den Körperbau einer Großkatze mit Streifen und Flecken, eine Mähne, Rüssel und ein kräftiges Gebiss mit vorspringenden Hauern. Sie sind Allesfresser, ähneln vom Temperament her Katzen.
Hier könnt ihr eine Zeichnung von der lieben Ifrit van Nox bewundern: https://bit.ly/3vcO7wZ