Kapitel 11: Die Qual der Wahl
„Ich denke, die Göttin Aithara ist am ehesten geeignet, uns zu führen. Ihr Licht wird uns den Weg durch die Finsternis dieses Dschungels weisen und uns sicher an unser Ziel geleiten!“* Viya hielt ihre Kristallkugel in der Hand, als benötige sie diesen Halt. Von dem festen Griff ihrer schmalen Finger abgesehen sprach sie jedoch selbstbewusst und hielt sich aufrecht. „Als ihre Priesterin bin ich bereit, mich als Sprachrohr für sie zur Verfügung zu stellen.“ Sie versicherte der Gruppe noch, dass sie als Anführerin ohne egoistische Motive vorgehen würde, doch Jas‘ Aufmerksamkeit schweifte zum Rest ihrer Gruppe, gespannt, wie sie reagieren würden.
Asherah rollte sichtbar mit den Augen. Dhunya und Rikhon hörten Viya gar nicht zu, sondern steckten murmelnd die Köpfe zusammen. Insgesamt schienen jedoch alle die Wahl immerhin ernst zu nehmen.
Jas wusste, dass er aufgrund seiner Freundschaft zu Anilas und der vorübergehenden Gruppenführung der offensichtlichste Kandidat war. Doch er wünschte sich, dass die Wahl möglichst fair wäre. Dazu hatte er seine Gefährten aufgerufen, sich ebenfalls mit einem Plädoyer zur Wahl zu stellen.
Nach Viya trat Shiak vor. „Wir sollten ehrlich miteinander sein. Die Situation ist gerade sehr schwierig. Daher sollten wir jemanden wählen, der sich mit Expeditionen auskennt, der sich im Dschungel auskennt und die Gefahren hier kennt.“ Der Mooself hielt einen Moment inne. „Ich kenne mich leider nicht wirklich aus, und ich trage auch die ein oder andere Bürde mit mir herum. Aber ich bin bereit, etwas zu ändern. Daher appelliere ich an euch alle, ehrlich zu sein und die Wahl nicht zu manipulieren. Wir haben genug andere Sorgen, aber ein gemeinsames Ziel.“
Damit sprach er etwas an, das auch Jas beschäftigte. Sie hatten die Boxen, in denen sie die Abstimmung durchführen wollten, auf eine abgelegene Lichtung gestellt. Es waren Vorratskisten, die inzwischen leer waren, mit Markierungen für jeden der Reisenden versehen, die sie alle lesen konnten. Jeder hatte drei Pfeile erhalten, um sie unter die Kisten zu legen und damit abzustimmen.
Doch es gab einen entscheidenden Makel: Sie hatten keine Wache aufgestellt, die die Kisten im Blick behielt. Nach einigem Hin und Her hatten sie sich entschieden, die Wahl lieber geheim als sicher haben zu wollen. Viele hatten gesagt, dass sie nicht abstimmen wollten, wenn ihnen jemand zusah, der sie dazu befragen könnte. Ähnlich wie Shiak befürchtete Jas, dass die Expeditionsteilnehmer nun betrügen wollten und deshalb auf einer geheimen Wahl bestanden hatten.
Doch er hatte sich der Abstimmung gebeugt, wie er sich auch dem Ergebnis der Wahl beugen würde. Er konnte nur hoffen, dass jeder in ihrer Gruppe vernünftig sein würde. Immerhin hing ihr Überleben davon ab, dass sie sich auf einen geeigneten Anführer einigten.
„Ihr wollt doch nicht wirklich diese religiöse Närrin haben? Die erschießt sich ja noch mit ihrem eigenen Bogen!“, rief Dhunya. Die Zwergin war aufgesprungen – womit sie immer noch nicht viel größer als die Sitzenden war – und schwenkte ihre Axt. „Wie Shiak bereits sagte: Ihr braucht jemanden mit Erfahrung, Kampfgeist und einem kühlen Kopf in Gefahren. Sprich, Rikhon und mich! Bei uns gibt es Qbak im Überfloss, die besten Reichtümer, die spannendsten Abenteuer und die fähigsten Kämpfer.“ Dann grinste sie breit. „Jeder, der meine Stimme will, muss gegen mich kämpfen, denn nur so finden wir den besten Anführer heraus!“
„Also, das eine Abenteuer reicht mir erst einmal“, widersprach Zynon. „Und wo willst du bessere Kämpfer herbekommen?“
„Mit viel Übung und Training. Ich und Rikhon können eine Menge Tricks!“
„Training hört sich auf jeden Fall gut an …“, murmelte der Jäger nachdenklich. „Ich bin aber dennoch der Meinung, dass unser Abenteuer spannend genug ist. Und an mehr Reichtum bin ich auch nicht interessiert.“
„Deine Beute wird sicherlich auch anderweitig gerne verwendet.“ Dhunya grinste in die Runde.
„Ich sage nur: Wer Chaos will, wählt uns. Neue Spitzen schießen gut!“
„Hatten wir bisher nicht genug Chaos?“, warf Shiak ein.
„Denke ich auch.“
„Wir hatten schlichtweg das falsche Chaos“, behauptete Dhunya.
Asherah murmelte etwas, von dem Jas nur die Worte ‚verrückte Idioten‘ verstand.
„Mein Ziel ist es eigentlich, den Fluch zu brechen“, sagte Zynon streng.
„Dann finden wir eben Reichtum, der den Fluch beendet!“, bot Dhunya großzügig an.
„Dhunya und ich werden das Team mit Verstand, Mut und einem klaren Geist wohlbehalten an unser Ziel führen.“
„Und auf den klaren Geist trinken wir erst einmal einen Qbak!“ Dhunya und Rikhon stießen an.
„Chaos für Tipanyaaris!“, rief der Wabawi stolz.
„Mehr und besseres Chaos für Tipanyaaris!“
Während das ungleiche Paar in einem Kuss versank, drückte sich Jas von der Erde hoch und trat auf die Stelle vor ihnen, wo Shiak und Viya ihre Ansprachen gehalten hatten. Die Abenteurer hatten darauf verzichtet, förmlich nach vorne zu treten.
Jas wartete, bis seine Gefährten ihm ihre Aufmerksamkeit schenkten.
„Die Gruppenleitung ist keine Ehre, nach der ich strebe. Aber wenn ihr mich für geeignet haltet, werde ich mich der Entscheidung der Gruppe beugen. Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit nicht immer die richtige Wahl getroffen habe, aber ich hatte stets versucht, das Beste für unsere Gruppe zu tun. Und das ist es auch, was ich euch versprechen kann: Das Wohl der Gruppe zu suchen und mein Bestes zu geben, die Expedition zum Ziel zu führen.“
Er sah zu seinen Begleitern. Der Wabawi und die Zwergin klebten immer noch aneinander. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass er nur Worte hatte, um die Gemeinschaft zur richtigen Wahl zu überzeugen.
„Ich bin kein Mann der großen Reden, aber ich hoffe, meine Taten auch in Zukunft sprechen zu lassen.“ Mit einer Verneigung trat er zurück und nahm seinen Platz wieder ein. Er wartete, ob noch jemand vortrat, doch offenbar hatten alle gesprochen, die sich als Anführer geeignet sahen – oder, in Shiaks Fall, nicht unbedingt Anführer, aber erhört werden wollten.
„Oh, höret alle!“, sagte Viya, als sich niemand mehr meldete. „Die gütige Göttin Aithara hat sich mir in ihrer Weisheit und Liebe offenbart und gezeigt, dass nur das Licht die Finsternis, die uns umgibt, besiegen kann! Lasset uns daher vereint im Licht stehen, um uns der Finsternis zu erwehren!“
⁂
Der nächtliche Dschungel war erfüllt von merkwürdigen Geräuschen. Etwas zirpte, andere Kreaturen kreischten, gurrten oder röhrten. Er erkannte die Rufe der Frösche, das Gebrüll ferner Raubkatzen und das hohe Pfeifen kleiner Nager, doch selbst nachdem er sein gesamtes Leben in dieser Welt verbracht hatte, konnte er nicht alle Geräusche einem Tier zuordnen.
Er fröstelte leicht im kühlen Wind, der die Blätter ringsum rascheln ließ. Es klang, als wäre dort etwas Großes unterwegs. Das mochten Raubkatzen oder Fluchwesen sein, oder eben doch nur der Wind.
Die Abstimmung lief die ganze Nacht über. Das gab ihnen noch etwas weniger Kontrolle darüber, wer abstimmte. Man wusste nie, ob jemand nur pinkeln oder zu den Kisten ging, welche im Mondlicht als dunkle Schemen erkennbar waren. Jeder hatte als Markierung, welche Kiste zu ihm gehörte, etwas darauf abgelegt. In Dhunyas Fall war das ihre zweite Axt, Zynon hatte ein Seil platziert und Giorgio hatte sich, nachdem sein Teller mit ‚Häppchen‘ vielstimmig abgelehnt worden war, für einen leeren Topf entschieden. So konnte man auch in der Finsternis ertasten, für wen man stimmte.
Shiak hatte seinen Binder gewechselt und sich danach in Ruhe zur Lichtung begeben. Zwei Stimmen hatte er bereits vorher abgegeben, doch er überlegte hin und her, was er mit seiner letzten Stimme anfangen sollte.
Bisher hatte er sich für Viya und Zynon entschieden. Die Priesterin hatte sich nach Anilas Tod sehr verändert. Zum Positiven, wie Shiak fand. Sie könnte durchaus eine gute Anführerin werden. Außerdem vermutete er, dass sie jede Form göttlichen Beistands gebrauchen könnten.
Zynons Erfahrung als Jäger machte ihn ebenfalls zu einem guten Kandidaten. Shiak hatte nicht vergessen, dass Zynon den Angriff des Schuppenbärs überlebt hatte, weil er sich so gut mit Tierverhalten auskannte. Er würde sicherlich auch andere Fluchwesen erkennen!
Nun war jedoch die Frage, ob er seine letzte Stimme ebenfalls einem der beiden geben sollte, oder ob es noch einen dritten Kandidaten gab, der für ihn in Frage kam.
Rikhon und Dhunya waren definitiv zu risikobereit. Sie hatten alle schon genug durchgemacht, da brauchten sie niemanden, der sie in jedes neue ‚Abenteuer‘ stürzte.
Jas dagegen hatte selbst gesagt, dass er kein Mann der großen Worte sei. Shiak vertraute ihm, doch ein Anführer musste redegewandt sein. Sonst würde er nicht lange Anführer bleiben …
Dann gäbe es noch Giorgio. Der Koch konnte kommandieren, das hatte er oft genug bewiesen, und wusste auch, wie man einen großen Haufen wie ihre Gruppe organisierte. Er hatte, vielleicht aus der Arbeit in großen Küchen, einen guten Überblick und die nötige Entschlossenheit, die Führung zu übernehmen. Nur bezweifelte Shiak, dass Giorgio außerhalb der Küche die richtigen Entscheidungen fällen konnte.
Asherah war ebenfalls noch ein Mitglied, das sich gar nicht erst zur Wahl gestellt hatte. Shiak wusste ihre Kenntnisse sehr zu schätzen, aber sie wirkte wie eine Gelehrte, der die praktische Erfahrung fehlte. Etwas, das er sich für ihren Anführer wünschen würde.
Nachdenklich wog er seinen letzten Pfeil in der Hand. Er könnte auch für sich selbst abstimmen. Gerne würde er sich endlich beweisen, vor seinen Gefährten ebenso wie vor sich selbst, doch er wollte diese Wahl überlegt und sachlich angehen. Seine eigenen Fehler waren ihm allzu gut bewusst. Überwogen die Makel der anderen Optionen? Oder war er schlichtweg ungeeignet?
Er sah sich um. Von dem nahen Lager her hörte er Dhunyas lautes Schnarchen. Der Wind machte es unmöglich, zu sagen, ob er wirklich allein war. Das Rauschen würde das leise Rascheln eines Beobachters im Gebüsch überdecken. Doch als er losgegangen war, hatte Shiak sie alle schlafen gesehen.
Er zögerte noch einen Moment, dann gab er sich einen Ruck und trat an die Kisten. Er hatte schon am Abend gesehen, dass die Kisten verrückt worden waren, und zwar alle, obwohl noch niemand für alle Kandidaten abgestimmt haben konnte.
Wenn die anderen sich das Ergebnis vorher ansahen, konnte er das auch tun. Er fühlte sich schlecht deswegen, schließlich hatte er vor Kurzem noch an die Ehrlichkeit seiner Mitreisenden appelliert.
Er hob die Kisten an und stocherte zuerst mit einem Stock darunter, ehe er die Pfeile zu ertasten versuchte. Im Urwald konnte man nie wissen, was die umgedrehten Kisten als Versteck aufsuchen könnte. Doch viele der Schlangen und Skorpione, die durch die Lücken der Griffe passen würde, waren eh nachtaktiv und würden sich jetzt auf der Jagd befinden. Somit hatte Shiak keinen tierischen Zwischenfall, während er alle Kisten absuchte.
Dhunya, Rikhon und Jas hatten jeweils drei Stimmen. Da Dhunya und Rikhon ihre Stimmen zusammennehmen würde, juckte es Shiak ernsthaft in den Fingern, ihnen Pfeile wegzunehmen. Doch das würde zu weit gehen, eindeutig. Außerdem hatten die beiden vermutlich jeder mit allen Stimmen für sich gestimmt, sodass sie es merken würden, wenn etwas fehlte.
Viya hatte zwei Pfeile in ihrer Kiste, Zynon einen. Und Shiak hatte sogar eine Stimme in seiner eigenen Kiste gefunden. Dass ihn jemand für geeignet hielt, die Gruppe zu leiten, schmeichelte ihm, selbst wenn es nur ein Drittel des Vertrauens war. Aber das verstärkte sein schlechtes Gewissen nur. Er war für Ehrlichkeit angetreten, und was tat er hier nun?
Er seufzte und wählte Viya für seine letzte Stimme. Es könnte nicht schaden, den Abenteurern Konkurrenz zu machen, vor allem war Viya in ihrer Überzeugung aber auch weniger wankelmütig als Shiak selbst. Ihr neugefundener Mut imponierte ihm. Und angesichts der Gefahr, in der sie schwebten, konnten sie alle Aitharas Schutz gebrauchen.
⁂
Die Unruhe beim Lager der Zweibeiner zog sich durch die ganze Nacht. Der Wolf wagte es nicht, sich den Vorräten zu nähern, die er deutlich riechen konnte. Die verlockenden Düfte schienen ihn zu verhöhnen.
Was er am letzten Abend gestohlen hatte, hatte immerhin den gröbsten Hunger gestillt. Somit entschied er sich nach einigen Stunden, dem Lager den Rücken zuzukehren.
Er wollte nicht entdeckt werden. Erst recht nicht von dem kleinen Zweibeiner-Weibchen, das so wütend kreischen konnte. Also war der Dschungel vielleicht die bessere Option.
Thuli strich durch das Unterholz. Farne, Elefantenohr und Hibiskus hatten den Waldboden zwischen den Stämmen erobert. Der Wolf spitzte die Ohren und lauschte auf das feine Rascheln kleineren Getiers. Die Nager in diesem Teil des Waldes waren ungewöhnlich wachsam. Lange, bevor er ihr Fiepen genau lokalisiert hatte, schreckte der schrille Pfiff irgendeines Wächters sie auf und alles huschte in Erdhöhlen und Bauten.
Er kam nicht einmal dazu, sich anzupirschen. Ungeduldig zuckte er mit dem Rückenfell, wo ihn ein Zweig kitzelte.
Ein lauteres Rascheln ließ auf ein Kaninchen schließen. Thuli ließ den Bauch zur Erde sinken und spannte alle Muskeln an. Er machte sich keine großen Hoffnungen. Der Wind stand ungünstig. Doch das Tier hatte ihn nah herankommen lassen. Vielleicht war es alt und damit leichte Beute …
Er schob die Schnauze zwischen roten Blüten vor. Blätter strichen über seine Schultern. Schon konnte er einen Schatten ausmachen, der vor ihm auf der roten Erde kauerte.
Dann schreckte der Hase zusammen. Thuli wetzte los, doch seine Beute war flinker als erwartet. Das Tier schlug Haken, sprang über einen Graben und huschte unter den Baumstamm, der direkt hinter diesem lag. Thuli musste zur Seite ausweichen und genug Anlauf nehmen, um auf den Stamm springen zu können. Seine Krallen durchschlugen das morsche Holz, er brach beinahe ein, doch mit etwas Mühe schaffte er es auf die andere Seite.
Die Spur des Hasens endete wenige Sprünge hinter dem Stamm im Nichts. Thuli schnupperte, die Nase dicht am Boden, bis er wieder bei der Lücke unter dem Baumstamm war, dann suchte er die Umgebung ab.
Gereizt peitschte er mit der Rute. Der verdammte Hase saß irgendwo in den Schatten und hielt still. Thuli knurrte frustriert, als er nach einigen Minuten der Suche immer noch nichts gefunden hatte, und gab auf. Der Hunger war im Moment immerhin nicht allzu schlimm. Und er hatte von Anfang an schlechte Voraussetzungen für die Jagd gehabt.
Dieses Gebiet, in das er dem Hasen gefolgt war, war ein wenig anders. Die Mäuse waren nicht mehr ganz so wachsam, sodass Thuli sich an einige anpirschte und versuchte, sie zu fangen. Er erwischte nur eine, da er nicht mit dem ganzen Herzen dabei war. Während er auf dem Tier herumkaute, ließ er den Blick durch den nächtlichen Wald schweifen. Der Wind blies noch immer aus der Richtung, aus der er gekommen war, doch er nahm einige neue Gerüche vor sich wahr.
Neugierig schlich er näher. Vielleicht gab es dort vorne Nahrung, die weniger schwierig zu erjagen war.
Irgendwann öffnete sich das Gebüsch vor ihm zu weiten, offenen Flächen. Er roch diverse Pflanzen, die er hier nicht erwartet hatte, doch er kümmerte sich nicht groß darum.
Er konnte getrocknetes Fleisch riechen. Doch es gab auch die Duftmarken von Wölfen und den verlockenden Geruch lebenden Geflügels. Irritiert hielt er inne. Irgendwo vor ihm begann ein Revier. Er versuchte, die genaue Zahl der Tiere zu ermitteln, doch dafür war er noch zu weit entfernt.
Unsicher duckte er sich in den Schatten einer Palme. Ob er sich diesem Rudel nähern könnte? Sie dürften ihn nicht als Bedrohung wahrnehmen, also würden sie ihn höchstens vertreiben. Aber vielleicht wären sie freundlich. Alles hing davon ab, wie viel Beute sie hier schlugen.
⁂
„Wilder Pfeffer!“, erklärte Giorgio dem Rest verzückt. „Oh, damit kann ich wunderbare Spaghetti machen! Es geht nichts über frischen Pfeffer im Parmesan!“
Zynon versuchte, den Blick des Kochs einzufangen. Es war zwar schmeichelhaft, dass er sich so über die Pflanzen freute, die Zynon am Morgen mitgebracht hatte, doch Giorgio sollte besser nicht vergessen, dass ihre Vorräte schwindend gering waren.
Seine Gefährten betrachteten die grünen Bohnen am Zweig, dessen dunkle, schmale Blätter die Pflanze verrieten. Die Körner sahen noch mehr wie Erbsen aus, doch sie würden bereits sehr würzig sein. Leider war Pfeffer nicht gerade eine vollwertige Mahlzeit.
„Können wir den nicht in den Brei tun?“, schlug Dhunya vor. Die Zwergin betrachtete die Schale mit aufgeweichten Haferflocken missmutig. Ihr heutiges Frühstück bestand aus heißem Brei mit einigen wenigen Beeren, die noch unreif und sauer waren.
„Pfeffer im Brei? Sakrileg!“, schimpfte der Koch.
„Dann würde es wenigstens nach etwas schmecken!“
Giorgio rang die Hände. „Pfefferbrei! Unerhört!“
„Ich finde es sehr lecker“, warf Viya mit sanftem Lächeln ein. „Im Tempel haben wir auch nicht viel anders gegessen.“
„Wir sind immerhin auch auf einer Expedition“, erinnerte Zynon seine Gefährten. „Da muss man manchmal sparsam mit dem Essen sein.“ Er warf Giorgio einen weiteren strengen Blick zu. Er hatte sich noch nicht entschlossen, Giorgios Fehler offenkundig zu machen, doch der Celyvari sollte besser nicht vergessen, dass Zynon alles wusste.
Allerdings ignorierte ihn der Koch vollkommen. Zynon verbiss sich ein Seufzen. Irgendwann würde er mit Giorgio sprechen müssen.
„Hat denn jeder abgestimmt, der dies wollte?“, fragte Jas. Der Elf hatte bis eben an Dhunyas Seite gesessen und ihre Wunde versorgt. Der Biss war zum Glück nicht zu tief gewesen, doch es würde ihr eine Weile schwerfallen, den Arm einzusetzen. Zwerge waren hart im Nehmen, ganz anders als Elfen, sodass sie diesen Biss aushalten konnte. Erst recht mit magischer Heilung.
In Rikhons Fall würde die Heilung noch etwas dauern, doch er konnte immerhin schon wieder langsam laufen.
Niemand erhob die Stimme, worauf Jas nickte. „Gut. Dann esst, ehe wir uns gemeinsam die Ergebnisse ansehen.“
Zynon konnte sehen, wie sich alle anspannten. Das Ergebnis der Abstimmung würde über ihre Schicksale entscheiden. Rikhon und Dhunya hatten bereits angekündigt, dass sie ihre Stimmen zusammenlegen würden. Hoffentlich hatte jemand Vernünftiges mehr Pfeile als beide zusammen!
Der Brei schmeckte nun selbst Zynon fad, die Anspannung hatte ihm den Appetit ruiniert. Er wusste, dass der falsche Anführer sie alle das Leben kosten würde. Giorgio zum Beispiel! Der Koch beherrschte seine Küche, doch er neigte dazu, ernste Probleme einfach zu ignorieren. Das war schon gefährlich, wenn er nur für sie kochte!
Sie leerten ihre Schüsseln hastig und schweigend. Schließlich traten sie auf den kleinen Platz, wo die Kisten aufgestellt waren.
Jas trat vor. „Da ich die Wahl angestoßen habe, würde ich gerne die Präsentation übernehmen.“ Er zeigte die leeren Hände vor. „Ich habe nichts bei mir, auch nicht versteckt.“ Zum Beweis schüttelte er sein Gewand aus.
„Ja, ja, lass uns endlich loslegen!“, rief Dhunya. „Wird Zeit, dass wir eine ordentliche Doppelspitze bekommen!“
Rikhon legte den Arm um sie. „Geduld, Giftzwerg. Wir haben nichts zu befürchten.“
Jas nickte ihnen zu und trat zur ersten Kiste. „Asherah hat …“ Er hob die Box an. „Keine Stimme.“
Verstohlen sah Zynon zu der Forscherin. Doch falls die Yurvatin sich ärgerte, sah man ihr nichts an. Gleichmütig erwartete sie das nächste Ergebnis.
Sie hatte sich schließlich auch nicht zur Wahl gestellt.
„Dhunya.“ Jas ging zur nächsten Kiste und hob diese an. „Vier Stimmen.“
Zynon riss die Augen auf. Vier Stimmen? Das bedeutete, mindestens zwei Personen mussten für die Zwergin abgestimmt haben. Vielleicht waren es ja sie und Rikhon gewesen …
„Giorgio.“ Jas hob die Kiste an, auf der ein Topf gestanden hatte. „Keine Stimmen.“
Der Koch schnappte hörbar nach Luft und stieß diese dann langsam und brausend aus. „Verstehe. Ja, doch, ich verstehe, was ihr mir sagen wollt.“
„Meine Kiste …“
„Vollstes Verständnis! Seht ihr? Ich akzeptiere eure Wahl.“
„Giorgio!“, wies Jas ihn zurecht.
Der Koch verstummte, bis auf leises, zorniges Gemurmel.
„Meine Kiste.“ Angespannt hob Jas sie hoch. „Fünf Stimmen. Ich … danke euch.“
„Pffft“, machte Giorgio.
„Fünf?“, fragte Rikhon hörbar entgeistert.
Jas ging weiter und drehte die nächste Kiste um. „Rikhon. Vier Stimmen.“
„Ja!“, sagte Dhunya mit breitem Grinsen. „Das sind schon acht zusammen!“
Rikhon kaute sichtlich auf seiner Lippe. „Reicht das denn?“
Zynon versuchte, einen Überblick zu behalten. Bei acht Leuten mit je drei Stimmen waren jetzt noch elf Pfeile unter den restlichen Kisten verborgen – falls jeder abgestimmt hatte. Hoffentlich hatten sie eine gute Wahl getroffen.
„Shiak.“ Jas machte unbeirrt weiter. „Zwei Stimmen.“
Shiak nahm das Ergebnis nickend hin, doch Zynon spürte seine Nervosität wachsen. Es gab nur noch zwei Kisten …
„Viya. Drei Stimmen.“
„Aithara dankt euch.“
„Zynon. Drei Stimmen.“
Jubelschreie von Dhunya und Rikhon drangen durch den Nebel, der sich kalt auf Zynons Sinne zu legen schien. Sein Blut rauschte in seinen Ohren. Die Tatsache, dass jemand für ihn gestimmt hatte, obwohl er sich nicht um diese Ehre beworben hatte, schmeichelte ihm, doch im gleichen Moment wurde ihm klar, dass die Chaoten nun die Führung übernehmen wollten.
„Jas hat aber mehr Stimmen“, hörte er sich sagen. „Er hat fünf Stimmen.“
„Wir legen zusammen“, erinnerte Dhunya ihn.
„Aber …“ Er konnte nichts sagen. Die beiden Abenteurer grinsten ihn breit an. Dhunya legte die Arme um Rikhon, hob ihn an, soweit es mit ihrer geringen Größe ging, und wirbelte den Menschen im Kreis. Rikhon hielt seinen Hut fest, lachte abwechselnd und jammerte über die Verletzung.
Er tauschte Blicke mit den anderen. Sah ganz so aus, als würden sie nun von Dhunya und Rikhon angeführt werden.
⁂
Er war bereit, sich dem Ergebnis zu beugen. Doch nach Zynons Einspruch hatte Jas tatsächlich Zweifel. Theoretisch hätte er die Wahl gewonnen, was ihn darin bestärkte, dass er nicht alles falsch gemacht hatte. Viele hatten sich ihn als Anführer gewünscht – mindestens zwei Leute. Und anders als Rikhon und Dhunya hatte er nicht für sich gestimmt. Er hatte sich enthalten, damit die Wahl fair blieb.
Der Rest hatte vollständig abgestimmt, und mindestens zwei hielten ihn für einen geeigneten Anführer. Vielleicht sogar mehr, die für verschiedene Kandidaten abgestimmt hatten.
Theoretisch hatte er also mehr Stimmen als Dhunya und Rikhon. Bei den beiden rechnete er damit, dass sie mit allen drei Stimmen füreinander gestimmt hatten – also nur jeweils eine Stimme von jemand anderem hatten.
War es fair, dass sie sich ihre Stimmen teilten? Er hasste sich selbst dafür, dass er diese Zweifel hegte, nachdem er eine faire Wahl versprochen hatte. Doch während Dhunya und Rikhon ihnen befahlen, alles für den Aufbruch bereit zu machen, konnte er die Gedanken nicht abstellen. Er versuchte, sich auf die Padai zu konzentrieren, die sich eher widerstrebend in ihre Geschirre spannen ließen. Sogar die Katzenpferde schienen mit der Wahl nicht einverstanden zu sein – vermutlich sehnten sie sich allerdings einfach nach der Ruhe in ihren Ställen. Sie waren schon lange unterwegs, Acadhisa und Mineys hatten oft rennen müssen. Kein Wunder, dass sie sich weigern wollten.
Immerhin war der Karren nun leichter – obwohl auch das niemanden optimistisch stimmte.
„Was machen wir jetzt?“, fragte er die beiden frischgebackenen Anführer, als alles bereit war.
Dhunya und Rikhon sahen ihn verdutzt an, beinahe empört, dass er es wagte, sie mit Fragen zu belästigen.
„Wie, was machen wir jetzt?“
„Na, wohin sollen wir gehen? Was ist der Plan?“ Er hatte eine gewisse Freude daran, Rikhon mit der Nase auf diese Lücke zu stoßen. Der Wabawi war kein bisschen vorbereitet. Aber natürlich ging es Jas auch darum, die neuen Anführer zu beraten. Er neigte nicht zur Eifersucht. Die Abenteurer daran zu erinnern, was ihre Pflichten als Anführer wären, war jedoch sicher eine gute Idee.
„Wir suchen die Fluchwesen“, entschied Dhunya. „Wenn wir den Fluch beenden müssen, sollten wir sie erforschen.“
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Asherah bei diesen Worten das Gesicht verzog. „Was immer ihr vorhabt ist vermutlich eine Beleidigung für jede vernünftige Forschung.“
„Keine Sorge. Wir werden herausfinden, wie dieser Fluch funktioniert, und dann werden wir ihn brechen.“ Die Zwergin grinste breit. „Und zwar ohne noch jemanden zu verlieren!“
Jas nickte demonstrativ. „Das ist ein guter Plan.“ Er ignorierte Asherahs Augenrollen.
„Also! Auf, Leute.“ Dhunya scheuchte sie zum Karren. „Wir haben keine Zeit zu verlieren! Asherah, du machst dir weiter schlaue Notizen. Zynon, ich würde dir gerne mehr Zeit zum Jagen verschaffen, lieber mittags oder abends? Und was ist mit diesem dummen Wolf, kriegst du den tot? Viya, steck die Kugel weg, du machst dich lächerlich! Giorgio, wenn du uns noch einmal solchen Papp-Brei vorsetzt, lassen wir dich zurück.“
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*Die Plädoyer der einzelnen Charaktere wurden mit leichten Änderungen aus der Entscheidungsrunde übernommen. Dies betrifft die Dialoge des ersten Absatzes, bis zum Sternchen.