Kapitel 8: All ihr verlorenen Seelen
Zunächst war da nur ein vernarbtes Gesicht, umrahmt von blonden Haaren. Rikhon starrte in die dunklen Augen. Dhunya, die neben ihm saß, hatte er für den Moment vollkommen vergessen.
„Ihr wollt es echt mit diesem Kerl aufnehmen?“ Nathans aufgesprungene Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mehr einer Grimasse glich. „Gebt dem Bestatter vorher eure Maße für die Särge!“
„Wir sollten ihm eher die Maße des anderen …“ Die Erwiderung brachte Rikhon nicht mehr zu Ende, denn in diesem Moment schwang die Tür auf und ein Kamel kam herein.
Er drehte sich um. „Hallo, Detlef.“
Mit einem brummenden Laut begrüßte dieser Rikhon, kam zum Wabawi und sabberte ihm liebevoll auf die Schulter.
Aus dem Sattel des Kamels beugte sich der verhüllte Elf herab und stieß Rikhon die von einem Handschuh geschützte Faust gegen die Schulter. „Komm schon, wir warten auf euch.“ Dann wendete Grafin das Kamel und ritt wieder aus der Spelunke.
Dhunya seufzte und trank ihr Qbak aus. Dann sprang sie vom Barhocker, der für sie etwas zu groß war.
Rikhon folgte der Zwergin und dem Reiter hinaus. An der Tür drehte er sich noch einmal zu Nathan um. Der Outlaw grinste und wandte sich ab. Mit einer Hand griff er nach hinten und zog die Kapuze des Umhangs über die Haare, welche mit einem Mal viel länger zu sein schienen.
Und lag es am Licht, oder waren Haar und Haut dunkler geworden? Rikhon blinzelte angestrengt, als Nathan in eine Tasche griff. Daraus zog er ein Buch hervor, einen schweren Almanach, in Ketten geschlagen.
Rikhon stöhnte auf. Wenn Hände dieses Buch aufschlugen, würde Chaos ausbrechen!
„Nein!“, rief er und wollte losrennen. Doch mit einem Mal war die Taverne eng, die Gäste zahlreich und dichtgedrängt. Er versuchte, sich durch die Menge zu wühlen. Irgendwo brüllte Dhunya ihm zu, dass er sich beeilen sollte.
Rikhon beachtete sie nicht. Er hielt den Blick auf den Fremden in der Kapuze gerichtet. Dunkle, schmale Finger wühlten erneut in der Tasche und förderten Feder und Tinte zutage.
Rote Tinte. Blutrot.
Sein Schicksal auf Papier gebannt.
Rikhon schrie.
⁂
Die Schreie hallten über die Lichtung.
„Was hat er denn?“ Giorgio strich sich gestresst durch das schüttere, blonde Haar.
„Egal, was es ist, wenn es so weiter geht, lockt er noch sämtliche Fluchwesen der Umgebung an!“ Asherah hielt ihren Säbel in der Hand. Ihr grimmiger Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie Rikhon zum Schweigen bringen würde. Notfalls mit Gewalt.
Der Wabawi wälzte sich noch immer schreiend auf der Erde und schlug um sich. Die vier, die mit ihm im Lager verblieben waren, waren von dem rauen Gebrüll aufgeschreckt worden.
Anilas stellte sich zwischen Asherah und den verwundeten Krieger. „Wir müssen ihn beruhigen.“
„Und zwar schnell.“ Jas wagte sich vor, fing die Arme des Menschen ab und kniete sich an seine Seite. Ächzend – weil er sich mit aller Kraft gegen den Wabawi stemmen musste – erklärte er: „Er ist nicht bei Bewusstsein. Ein Traum, vermute ich. Aber die Wunde ist wieder aufgerissen. Los, helft mir, ihn zu stabilisieren!“
Anilas warf sich auf die Stiefel, mit denen Rikhon wild in die Erde trat. Er zischte, als sich eine Stiefelspitze in seinen Magen grub. Asherah steckte den Säbel weg und drückte mit beiden Händen auf Rikhons Schultern.
Giorgio sah ihnen zu und wrang die Hände. „Vielleicht eine kräftigende Brühe …?“
„Der braucht sicher nicht noch mehr Kraft“, brachte Anilas hervor. Selbst zu dritt fiel es ihnen schwer, den Wabawi zu bändigen.
„Übernimm die Hände, Giorgio, na los!“, befahl Jas ungeduldig.
Der Koch kam zögerlich näher und ergriff schließlich die Handgelenke des Kriegers. Anilas umklammerte dessen Beine und Asherah versuchte, den Oberkörper still zu halten. Jas legte die Hände an beide Seiten des Kopfes, den Rikhon wild hin und her warf.
„Rikhon! Wach auf!“ Er seufzte. „Er ist glühend heiß.“
„Das sieht nicht gut aus“, murmelte Giorgio mit einem Blick auf die Wunde. „So viel Blut habe ich noch nie gesehen!“
„Das ist halb so wild“, widersprach Asherah. „So schnell verblutet man nicht, und er hat noch viel Kraft.“
„Kannst du ihn versorgen?“, fragte Jas, doch die Forscherin schüttelte den Kopf.
„Ich habe so etwas noch nie gesehen. Es ist kein Gift oder Fluch, den ich kenne.“
„Vermutlich einfach ein Fiebertraum“, murmelte Jas. Er versetzte Rikhon eine Ohrfeige, was dieser nicht bemerkte. „Die hohe Temperatur und der Schweiß passen. Die Wunde muss sich entzündet haben.“ Er sprang auf, lief zu ihren Taschen auf dem Karren und holte mehrere Seile. „Haltet noch einen Moment durch, wir binden ihn fest. Dann kann er sich wenigstens nicht unabsichtlich verletzen. Aber wenn ich recht habe, steht uns das Schlimmste erst noch bevor.“
⁂
„Das wird ja immer Schlimmer!“, brummte Shiak. Er sah in die Grube hinab, genau wie der Rest der Gruppe. „Wie sollen wir denn den Wolf da raus kriegen?“
„Ich hätte eine Idee“, meinte Dhunya und trat vor. Ehe irgendjemand sie aufhalten konnte, war sie bereits in die Grube gesprungen, die Axt gezückt.
„Dhunya! Was machst du denn da?“, rief Viya erschrocken. Zynon versuchte, trotz des verletzten Beins aufzustehen. Der Wolf dagegen knurrte, als die Zwergin auf ihn zukam.
„Nicht!“, rief Shiak. „Bleib stehen! Du machst ihm Angst!“
„Dhunya, hör auf!“
Die Zwergin schien sie nicht zu hören. Mit einem irren Grinsen marschierte sie auf den Wolf zu. „Na komm, Kleiner, komm her!“
Der Wolf knurrte sie mit gesträubtem Fell an. Sein glitzernder Blick hing an der Klinge. Dann, ohne jede Vorwarnung, machte er einen Satz nach vorne. Dhunya riss sofort die Axt vor sich, doch der Wolf war schneller. Er stieß sich vom Boden ab und katapultierte sich in die Gegenrichtung, stieß auf die Wand, drückte sich erneut ab und flog von der Seite auf Dhunya zu, genau dorthin, wo sie auf seine Finte hin ihre Deckung geöffnet hatte. Dhunya – sowie Zynon, Shiak und Viya – schrien auf, als der Wolf die Zähne in ihr Handgelenk schlug.
Dhunya ließ ihre Waffe fallen und der Wolf wich knurrend in die andere Ecke der Grube zurück. Während sie ihr Handgelenk umklammerte, fluchte sie wie ein Rohrspatz. „Verdammtes Tier! Thyrmal* sei dir gnädig, wenn ich dich erwische! Ich werde dich zähmen, oder ich ziehe dir den Pelz über die Ohren und mache mir daraus eine Tranktasche! Und deine Zähne werden sich bestens an meiner Kette machen!“
Shiak sah sich panisch um. Sie mussten alle so schnell wie möglich aus der Grube kriegen, bevor noch irgendjemand zu Schaden kam. Er bemerkte eine geeignete Liane in der Nähe und wollte loslaufen. Dabei wäre er beinahe mit Viya zusammengestoßen, die diesen Moment wählte, um schluchzend an den Grubenrand zu laufen. Sie warf sich flach auf den Bauch und streckte die Hand in die Grube.
„Schnell, ich ziehe euch rauf!“
Zynon kam humpelnd zu Dhunya und schob sie in Viyas Richtung. Die Zwergin presste die verletzte Hand an die Brust, hatte mit der linken aber ihre Axt wieder aufgenommen und funkelte den Wolf zornig an. Keiner von beiden machte Anstalten, sich von Viya heraufhelfen zu lassen.
„Dhunya, nah los!“, rief Shiak.
„Ihr wollt den Wolf doch hier rausholen!“
„Erst einmal Zynon. Um den Wolf kümmern wir uns in Ruhe.“
Der Jäger gab ihr nochmal einen Schubs und endlich ließ sich die Zwergin zum Grubenrand bugsieren. Viya streckte sich noch etwas mehr, um ihr die Hand zu reichen.
Shiak riss die Augen auf, als er die Katastrophe kommen sah. Er hechtete nach vorne und warf sich auf Viyas Füße, allerdings zu spät. Mit einem spitzen Schrei rutschte die Priesterin in die Grube.
Shiak landete im Schlamm und hörte Zynon genervt stöhnen. Dhunya ächzte, vermutlich war Viya auf ihr gelandet, und das Schluchzen der Priesterin wurde noch hysterischer.
„Bleibt, wo ihr seid, lasst den Wolf in Ruhe!“, brüllte der Jäger seine neuen Mitgefangenen an. „Bleibt einfach genau da sitzen! Shiak?“
Er rappelte sich auf. „Hier.“
„Du findest besser einen Weg, uns hier herauszubekommen!“
Zynon stand ein wenig schräg, um das verletzte Bein zu entlasten. Wie Shiak vermutet hatte, lag Dhunya am Boden der Grube. Viya kauerte auf ihr und schluchzte so hysterisch, dass sie kaum noch Luft bekam. Um sie zu beruhigen hatte Zynon sich zwischen ihr und dem immer noch knurrenden Wolf positioniert.
„Ich habe bereits einen Plan“, rief Shiak hinunter. „Haltet durch.“
Er kehrte zum ursprünglichen Plan und der Liane zurück, und zerrte daran. Er hatte allerdings unterschätzt, wie stabil die Ranke war.
„Shiak!“, kreischte Viya. „Schnell!“
„Bleibt ruhig!“, befahl Zynon. „Er wird euch nichts tun, er will uns nur Angst machen.“
„So, wie er Dhunya eben Angst gemacht hat?“
Shiak zerrte das Rasiermesser aus seiner Tasche. Beinahe wäre es ihm aus den Fingern geglitten. Für einen Moment fürchtete er gar, dass es fallen und im dichten Laub unter dem Baum verschwinden könnte, doch dann konnte er seinen Griff festigen und begann, an der Liane zu säbeln.
„Komm schon“, murmelte er angespannt.
„Shiaaak!“
„Ich mache das Viya!“ Das war Dhunyas Stimme.
„Dhunya, nein! Lass den Wolf in Frieden!“ Aus der Grube drangen die Geräusche eines Gerangels.
„Lass mich los! Ich hatte auf Wajbaq mit genug Raubtieren zu tun! Ich weiß, was ich tue!“
„Das weißt du offensichtlich nicht! Bleib bei Viya.“
Shiak steckte das Rasiermesser weg und brüllte: „Zynon? Hast du ein Messer?“
„Hier!“, antwortete Dhunya anstelle des Jägers. Dieser schrie nur noch: „Vorsicht, Shiak!“ Da flog auch schon eine zweite Axt über den Rand der Grube, kreiste mehrmals in der Luft und bohrte sich ins Erdreich. Es war die langstielige, mit Federn besetzte Boyas-Axt, die Dhunya mit sich herumschleppte. Ihre Schneide war etwas schmaler als die einer normalen Axt, doch sie war dennoch perfekt. Shiak ergriff den Stiel und kappte die Liane mit zwei gestielten Schlägen, die das dunkle Feuersteinblatt der Indianeraxt** tief in den Stamm des Salbaums trieben.
Er riss das Lianenstück an sich und rannte zur Grube zurück. Viyas Schluchzen war immer lauter geworden. Vor allem für sie beeilte er sich so. Die Priesterin atmete so schnell, dass sie vermutlich jeden Moment in Ohnmacht fallen könnte.
Seine Finger zitterten, doch irgendwie schaffte er es, ein Ende der Liane um mehrere Bretter zu binden, die neben der Grube lagen, von den verschiedenen Einstürzen abgesplittert und aufgeworfen. So beschwert konnte er die Liane über einen Ast werfen, der in einem guten Winkel gewachsen war, sodass das Seil nah am Grubenrand hinabhing.
Das andere Ende schlang Shiak um einen jüngeren Salbaum und dann um die eigenen Handgelenke. „Also gut, Viya zuerst!“
Er spürte das Gewicht am Seil, als die Priesterin auf den Ästen Platz nahm. Stumm betete er, dass die Liane halten möge. Er hatte ein besonders dickes Stück gewählt, das noch grün aussah. Vertrocknete Ranken wären sicherlich brüchiger.
Da die Liane zweimal umgeleitet wurde, war Viyas Gewicht für ihn gut zu tragen und er konnte sie über den Grubenrand heben, wo sie schluchzend auf die Erde krabbelte. Dort blieb sie zusammengerollt liegen, doch Shiak konnte ihr diese Pause nicht gönnen.
„Dhunya als nächstes!“, rief Zynon herauf.
„Viya, du musst mir helfen.“
Mit rotunterlaufenen Augen sah sie hoch. Wie unter großer Mühe stemmte sie sich nach oben. Sie taumelte an Shiaks Seite und ergriff das Ende des Seils.
Dhunya in voller Rüstung war schwerer als die Priesterin. Die Liane schnitt in Shiaks Haut. Viya wimmerte. Besorgt behielt er den Ast im Blick, der unter dem Gewicht knarzend bebte. Doch sie konnten Dhunya heraufhieven. Als sie auf die Erde sprang und das Gewicht verschwand, wären sie beinahe gestürzt.
Dhunya blieb neben der Grube stehen und sah zu, wie nun auch Zynon auf das schmale Brett aus Ästen kletterte. Als er oben war, half die Zwergin ihm auf die Erde und stützte den humpelnden Jäger. Viya ließ sich mit zitternden Beinen auf die Erde sinken und Shiak knotete die Liane an einen vorspringenden Ast.
„Was machst du da?“, fragte Zynon. „Der Wolf ist noch in der Grube.“
„Wir müssen euch erst mal in Sicherheit bringen“, murmelte Shiak mit einem Blick zu Dhunyas blutigem Handgelenk und Zynons Bein. „Wir sind in keiner Verfassung, um hier zu arbeiten, und der Wolf ist viel zu aufgebracht und verängstigt.“
„Wir können ihn nicht zurücklassen“, sagte Zynon ernst. „Ohne ihn hättet ihr mich nie gefunden.“
„Er ist gefährlich!“, flüsterte Viya mit weit aufgerissenen Augen. „Er hat euch beide verletzt!“
„Nur Dhunya. Mein Bein war der Schuppenbär“, erinnerte Zynon sie. „Und jetzt hat der Wolf nur Angst. Er ist in die Ecke gedrängt.“
„Er hat Dhunya gebissen!“
„Genau, er hat mich gebissen!“
Zynon fuhr sich stöhnend durch das Gesicht. „Shiak hat recht, ich bin zu müde für so was!“
„Wir kommen zurück und holen ihn“, versprach Shiak dem Jäger. „Mit allen zusammen finden wir einen Weg, den Wolf sicher da raus zu bekommen.“
„Sicher für uns, ja?“
„Sicher für alle, Viya.“ Er lächelte ihr zu. „Zynon verdankt diesem Wolf sein Leben, das müssen wir zurückzahlen. Deine Göttin sagt doch auch, dass jedes Leben wertvoll ist, oder nicht?“
Langsam nickte Viya. Ihre Finger zitterten noch immer und sie sah voller Angst zur Grube, aber sie schien vorerst überzeugt zu sein.
„Also.“ Shiak ging zum Baum, befreite die Boyas-Axt daraus und drückte sie ihrer Besitzerin in die Hand. „Gehen wir. Die anderen machen sich bestimmt schon Sorgen.“
⁂
Besorgt runzelte Jas die Stirn. „Das Fieber steigt immer noch.“
„Nichts, was ein bisschen Thymian und eine gute Mahlzeit nicht wieder hinbiegen könnten.“
Jas sah den Koch grimmig an. „Und wie willst du ihn zum Essen bringen? Er ist bewusstlos, wenn wir da nicht aufpassen, erstickt er uns.“
„Nun, der Duft einer guten Mahlzeit wird ihn sicherlich …“ Giorgios Stimme war kleinlaut geworden und ging nun völlig im nächsten Wimmern des Kriegers unter.
„Der Knebel wäre immer noch eine Option“, warf Asherah ein.
„Möchtest du Dhunya erklären, warum wir ihren Liebsten gefesselt und geknebelt haben, wenn sie zurückkommt?“
„Möchtest du ihr lieber erklären, dass ihr Liebster gefressen wurde?“
Jas seufzte, nicht zum ersten Mal. Aber er hatte die Rolle des Anführers von Anilas eingefordert, jetzt musste er mit den Konsequenzen leben und Entscheidungen treffen. Er kniff sich in die Nasenwurzel, dann nickte er. „Gut, aber mach es so, dass er noch gut atmen kann.“
Während Asherah sich um den Verletzten kümmerte und Giorgio neben dem Kochfeuer schmollte, weil sein Vorschlag abgelehnt worden war, trat Jas zu Anilas.
„Vielleicht kann ich dir doch keinen Vorwurf machen“, murmelte er so leise, dass die anderen es nicht hörten. „Du hast dich als Anführer gut geschlagen. Wir haben einfach zu viel Pech.“
„Geht es dir gut?“, fragte Anilas und musterte ihn prüfend.
„Ich komme schon klar. Aber … bei allen Göttern, es ist, als wäre der ganze Wald verflucht!“
⁂
„Verfluchte Dsud***, ihr seid es!“, rief Asherah aus. Sie tauchte zwischen den dichten Blättern eines Gummibaums auf und steckte ihren Säbel weg. „Ich hätte euch beinahe erschlagen! Habt ihr ihn gefunden?“
Zynon humpelte zwei Schritte vor und hob grüßend die Hand. Zu mehr fehlte ihm die Kraft. Sie waren die ganze Nacht hindurch gelaufen, wenn auch sehr langsam, und er war müde.
Asherah atmete auf. „Sehr gut. Dann scheinen ja doch alle zu überleben.“
Auf Dhunya gestützt folgte Zynon ihr zu dem kleinen Lager, das die Gruppe aufgeschlagen hatte. Dort erstarrte die Zwergin plötzlich und lief dann los, ohne sich um den verletzten Jäger zu scheren. Er strauchelte einen Schritt und konnte sich glücklicherweise an Anilas festhalten.
„Rikhon!“ Dhunya stürzte an die Seite des Wabawis. Dieser lag am Rand des Lagers und bot einen furchtbaren Anblick. Seine Kleidung war blutdurchtränkt, ebenso der Verband, den ihm jemand umgelegt hatte. „Was ist passiert? Wieso ist er gefesselt?“
„Er hatte eine Art Anfall oder so“, erklärte Jas, der blass neben den beiden stand. „Wir konnten ihn kaum beruhigen, also haben wir ihn verschnürt, damit er sich nicht weiter verletzt. Die Wunde ist wieder aufgerissen.“
Dhunya beugte sich über den Menschen und nahm dessen Gesicht in beide Hände. „Tu mir das nicht an, Rikhon, hörst du? Wenn du stirbst, bringe ich dich um!“
„Seit einer Stunde oder so scheint es ihm besser zu gehen“, fuhr Jas fort. Er wirkte müde und erschöpft, drehte sich aber zu Zynon um und brachte ein Lächeln hervor. „Wir konnten glücklicherweise den Knebel wieder entfernen, bevor Dhunya uns alle umbringt. Was ist mit dir? Ich bin froh, dass sie dich gefunden haben. Du bist ebenfalls verletzt?“
„Das Bein, ja.“ Er nickte und zog die Hose vorsichtig hoch. Der Stoff scheuerte an der Wunde. „Ich habe den Biss ausgewaschen, sobald ich konnte, aber das war nicht so früh, wie ich es mir gewünscht hätte. Wenn es sich entzündet, haben wir ein Problem, ansonsten ist es aber nicht besonders schlimm.“
„Nicht besonders schlimm?“ Ungläubig sah Asherah sein blutiges Bein an.
„Der Knochen ist intakt, die Muskeln ebenfalls.“ Zum Beweis bewegte Zynon den Fuß, auch wenn es wehtat. „Die Blutung hat aufgehört, giftig war der Biss des Schuppenbärs auch nicht. Mit einer Krücke kann ich laufen. Also ja, es hätte deutlich schlimmer sein können.“
„Komm, setzt dich mal.“ Jas wies ihn auf eine Kiste. Das meiste von ihrem Gepäck befand sich auf dem Karren. Wenn man von der Feuerstelle und den abgeschirrten Padai absah, könnten sie sofort wieder aufbrechen. Nur wenig von ihrem Gepäck war auf der Erde, doch immerhin konnte Zynon sitzen. Jas beugte sich über sein Bein.
„Giorgio, machst du bitte Wasser heiß?“
„Oh ja, ein paar Nudeln werden uns allen jetzt guttun!“
„Nein, nur Wasser! Ich will die Wunde noch einmal reinigen.“
Während der Koch sich grummelnd fügte, packte Jas einige Heilkräuter, Verbandszeug sowie Nadel und Faden aus. Beim Anblick von Letzterem zuckte Zynon leicht zusammen. Aber gut, da musste er vermutlich durch.
Er hatte darauf verzichtet, die Wunde abzudecken. Das war dumm, ja, aber er hatte sein eigenes Verbandset auf dem Wagen zurückgelassen und der einzige geeignete Stoff, den er besessen hatte, war das Kopftuch gewesen. Das hatte er von seiner Schwester, und es zu beschmutzen, wenn er nicht wusste, wann er es reinigen könnte – dazu war es ihm zu schade gewesen!
Während Jas seine Materialien ausbreitete, setzten sich Viya und Shiak zum Rest ihrer Gruppe.
„Wir müssen den Wolf retten“, sagte Zynon leise.
Jas sah ihn fragend an. „Welchen Wolf?“
„Da war so ein Wolf mit Zynon in der Grube“, antwortete Dhunya an seiner Stelle. Sie hatte sich vergewissert, dass Rikhon doch nicht so bald sterben würde, und kam zu ihnen. „So ein schwarzes Vieh. Es hat gejault wie die Hölle, deshalb haben wir ihn überhaupt gefunden.“
„Und er hat Dhunya gebissen“, warf Viya leise ein.
Alle Blicke richteten sich auf die Hand der Zwergin.
Jas seufzte. „Hast du das ausgewaschen?“
Dhunya funkelte ihn an.
„Ich habe sie dazu gebracht, ja“, sagte Zynon. „Aber zurück zum Wolf: Ich denke, ich verdanke ihm etwas. Ohne ihn säße ich jetzt noch dort fest.“
„Was war das für eine Grube?“, fragte Asherah, während sie Dhunya umrundete und sich die Hand der Zwergin schnappte, um den Biss zu begutachten. Den Protest ihrer unfreiwilligen Patientin ignorierte sie gekonnt.
Sie klärten sich gegenseitig darüber auf, was in ihrer jeweiligen Abwesenheit passiert war. Zynon musste berichten, wie es ihm nach dem Angriff des Schuppenbärs ergangen war.
„Nennt mich verrückt, aber ich glaube, der Bär war eigentlich ganz harmlos“, murmelte er. „Ich habe so viele Horrorgeschichten über die Kreaturen hier gehört, doch der Bär hat im Grunde nur sein Revier verteidigt. Dass er ein Mischwesen war, ist nicht seine Schuld. Davon abgesehen verhält er sich eben seiner Natur entsprechend.“
„Vielleicht sind sie ja nur missverstanden“, sagte Viya mit verträumter Stimme.
„Ja, klar, die ganzen Toten werden sicher einsehen, dass sie sich getäuscht haben“, schimpfte Dhunya. „Au!“ Asherah hatte begonnen, ihre Wunde mit einem feuchten Lappen abzutupfen, da das heiße Wasser inzwischen abgekühlt war. Zynon nahm Jas das Tuch ab und reinigte seine Wunde selbst.
„Jedenfalls wäre ich in dieser Grube gestorben, wenn der Wolf nicht gewesen wäre. Und er sitzt noch da fest. Wenn wir ihn nicht befreien, wird er verhungern.“
„Da bin ich ganz bei dir“, sagte Jas. „Vielleicht können wir ihm eine Rampe bauen oder so, dass er von alleine herauskommt.“
„Sollen wir ihn wirklich befreien?“ Viya klang unschlüssig. Sie hatte eindeutig Angst vor dem Wolf, aber sie war auch nicht wirklich dagegen, ihn zu retten. Statt eine Antwort von ihnen abzuwarten, zog sie eine gläserne Kugel heraus und zog sich an den Rand des Lagers zurück.
„Es wäre das Richtige“, murmelte Zynon. Er war sich zwar sicher, dass es sich um den gleichen Streuner handelte, der ihnen schon vorher Probleme bereitet hatte, aber vielleicht hatte der Wolf seine Lektion jetzt gelernt und würde sie in Frieden lassen.
„Wir sollen also nochmal zurück?“, fragte Anilas. „In das Revier des Schuppenbärs?“
„Er hat uns nicht gestört, als wir an der Grube waren. Vielleicht liegt sie außerhalb seines Reviers“, warf Shiak ein.
„Findet ihr überhaupt den Weg?“, fragte Giorgio.
Zynon nickte. „Auf jeden Fall!“
„Du bleibst hier“, widersprach Jas. „Du bist verletzt. Falls es Ärger gibt, kannst du nicht wegrennen.“
Zynon öffnete den Mund, um zu widersprechen. Dann klappte er ihn wieder zu. Jas hatte durchaus recht.
„Rikhon bleibt ebenfalls hier, und jemand kampffähiges, der die Verletzten im Notfall beschützen kann.“
„Das mache ich“, bot Dhunya sofort an. „Au, verdammt!“
„Halt still“, zischte Asherah. „Ich möchte mir diese Grube einmal ansehen. Es klingt, als wäre sie relativ neu, richtig?“
Sie sah Zynon fragend an und er nickte vorsichtig.
„Dann wurde die Grube vielleicht von irgendjemandem gebaut.“ Sie betrachtete Dhunyas Hand noch einmal und ließ dann zu, dass die Zwergin ihr ihre Finger entriss.
„Wenn ihr den Wolf einfangen könnt, bringt ihn mit“, sagte Dhunya begeistert. „Dann können wir ihn zähmen.“
„Das machen wir sicher nicht.“ Jas begann, Zynons Bein zu verbinden. „Wir suchen einen sicheren Weg, das Tier stressfrei da raus zu bekommen.“
„Dann kommst du auch mit?“ Shiak war aufgestanden, um sich aufbruchsbereit zu machen.
„Ich glaube, es wäre im Sinne meiner Göttin“, sagte Viya leise, die ihre Kristallkugel wieder weggesteckt hatte.
„Dann gehen wir vier. Der Rest bleibt mit den Verletzten hier“, entschied Jas. „Aber bevor wir aufbrechen …“ Er drehte sich um und sah Anilas auffordernd an. Fragend folgten Zynon und die anderen seinem Blick.
„Also gut.“ Ihr Expeditionsleiter atmete tief durch. „Shiak, Viya, bitte setzt euch noch einmal. Ich muss euch allen etwas erzählen.“
⁂
Die Nachricht hatte ihre Müdigkeit nach der durchwanderten Nacht effektiv vertrieben. Shiak konnte nicht fassen, dass Anilas gar kein ausgebildeter Leiter war. Diese waghalsige Expedition war noch viel gefährlicher gewesen, als er gedacht hatte. Mit diesem Wissen hätte er sich diesem Wahnsinn niemals angeschlossen, da war er sich sicher.
Während er dem Dschungelpfad folgte, kreisten seine Gedanken darum, ob er heimkehren sollte. Noch wäre es möglich. Und sicher stellten sich die anderen nun ebenfalls diese Frage.
„Hier müssen wir lang“, meinte Viya nach einer Weile. „Ich erinnere mich an den Baum.“
Ansonsten liefen sie schweigend, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Sie hatten herausgefunden, wie gefährlich dieser Wald war. Und dann hatten sie erfahren, dass Anilas überhaupt nicht geeignet war, um sie anzuführen.
Am Nachmittag erreichten sie die Grube ohne Probleme. Zynon hatte ihnen den Weg gut beschrieben, Viya und er selbst hatten sich aber auch an große Teile des Weges erinnert. Zum Teil konnten sie sogar ihrer eigenen Spur folgen!
Als sie die Lichtung betraten, erkannte Shiak seine provisorische Seilwinde, die noch immer an den Ast gebunden war. Die ‚Sitzfläche‘ aus den Stöcken schwebte tief über der Grube.
Langsam näherte er sich dem Rand, sowohl, um den Wolf nicht zu verschrecken, als auch, um nicht selbst noch einzubrechen.
Als er mit angehaltenem Atem in die Grube spähte, stutzte er.
Der Wolf war weg!
⁂
„Wir haben also einen weiteren Tag vergeudet“, fasste Dhunya zusammen.
Die Stimmung war an einem neuen Tiefpunkt angelangt, als die Wolfsrettungs-Truppe mit leeren Händen zurückgekehrt war. Jas war zwar erleichtert, dass der Wolf offenbar frei war, doch für ihre Expedition war es eine schlechte Bilanz. Wieder einmal hatten sie mehr oder weniger nur in ihrem Lager gesessen. Sie hatten nicht einmal Tiere gejagt, obwohl Zynon immerhin eine Falle aufgestellt hatte, die jedoch leer geblieben war. Sie hatten absolut nichts erreicht. Momentan zählten ihre ‚Erfolge‘ drei Verletzte und eine panische Flucht. Nach Anilas‘ Offenbarung war die Mission damit sicherlich vorbei. Aber das war der richtige Weg gewesen. Diese Leute mussten erfahren, worauf sie sich eingelassen hatten.
„Vergeudet würde ich nicht sagen“, ließ sich jedoch Asherah vernehmen. „Diese Falle war höchst aufschlussreich. Sie kann nur einige Wochen alt gewesen sein. Ich bezweifele, dass ein Tier sie gebaut hat. Die Stöcke wurden mit Pflanzenfasern zusammengebunden. Dafür braucht es jemand Intelligenten mit geschickten Fingern.“ Sie machte eine Pause. „Selbstverständlich können wir zu diesem Zeitpunkt nichts ausschließen, auch ein vernunftbegabtes, affenartiges Fluchwesen nicht. Aber es könnten auch Erdwesen sein. Überlebende.“
Jas spürte ein Kribbeln unter der Haut. Heiß jagte es durch seinen Nacken.
Überlebende? Das hieß, es gab noch Hoffnung. Unwillkürlich tastete er nach dem Amulett der Verbundenheit. Es war in letzter Zeit still geblieben, aber es hatte sich ja immer wieder gemeldet. „Lavinya“, hauchte er so leise, dass es niemand seiner Gefährten hörte.
Wenn es noch Erdwesen in diesem Teil des Dschungels gab, dann könnte sie unter ihnen sein!
„Wollen wir heute noch weiterziehen?“, fragte Anilas in die Runde.
Die Antworten kamen eher unbestimmt. Niemand war sich wirklich sicher, was sie tun sollten.
„Erst einmal müssen wir vielleicht klären, ob wir überhaupt weiterziehen“, brummte Dhunya feindselig. „Rikhon braucht einen Arzt. Einen richtigen Arzt.“
„Es geht schon“, murmelte der Wabawi mit schwacher Stimme. Am Vormittag war er das erste Mal längere Zeit wieder bei Bewusstsein gewesen. Nach einer weiteren Schlafphase am Mittag schien er sich endlich zu erholen. In der Hinsicht war die Ruhepause immerhin gut gewesen.
„Darüber sollten wir wohl sprechen, ja“, sagte Asherah und setzte sich ans Feuer. Giorgio rührte in einem großen Topf, der heute Waldrapp, Wurzelgemüse und eine dicke Honigsoße enthielt. Fleisch und Gemüse mussten nur noch über den Flammen gedünstet werden. Vorher hatte der Koch beides in getrennten Pfannen angeröstet, die sie bereits gespült hatten. Um ihre Stimmung zu heben, hatte er ihnen einiges über das Gericht erzählt, was kaum jemand beachtet hatte. Ein lirhajnisches Rezept, jedoch mit den Zutaten umgesetzt, die ihnen im Wald gegeben waren.
„Die Einheit aus Lirhajn und Dhubayaana, direkt für eure Teller!“, hatte er geschwärmt.
Es war noch früh für ein Abendessen, aber sie hatten eben keine Richtung, in die sie ziehen konnten.
„Wir sind ja alle aus einem bestimmten Grund hier“, sagte Viya. „Aithara hält ihre schützende Hand über uns. Wieso sollten wir umkehren? Sie hat sogar den Wolf befreit und uns so weit gebracht.“
Jas nickte langsam. Er wollte auf keinen Fall zurück, wenn eine Chance bestand, Lavinya zu finden! Allerdings wollte er seine Begeisterung auch nicht so offen zeigen. Das würde nur Fragen nach sich ziehen, die er nicht beantworten wollte.
Und war es wirklich der richtige Weg, nicht nur sich, sondern auch seine Gefährten in Gefahr zu bringen? Dass Viya beispielsweise noch größere Angst hatte, seitdem sie von der eigentlichen Lage wusste, war ihm ebenfalls nicht entgangen.
Niemand schien sich bereits endgültig entschieden zu haben. So tröpfelte die Diskussion dahin, bis das Essen fertig war und sie sich schweigend über ihre Portion hermachten.
Das Feuer brannte herab, doch der Himmel war immer noch hell, nur die Schatten etwas länger. Jas fühlte sich nach dem frühen Essen wie aus der Zeit gefallen. Während sie zusammensaßen und noch immer schwiegen, erklangen jedoch plötzlich Stimmen. Sie drehten die Köpfe, als das unverständliche Gemurmel hörbarer wurde. Eine Gruppe, die sich näherte.
„Hallo? Ist da wer?“ Es war ein Mann, der da so brüllte. Er klang nervös, aber nicht bedrohlich.
Sie schossen in die Höhe.
„Hallo?“, rief Viya, die Hände trichterförmig um den Mund gelegt.
Anilas riss ihre Arme herunter. „Nein! Sei still!“
„Wer ist da?“, rief der Mann nun. „Hallo?“
„Seid leise!“, zischte Anilas ihnen zu. „Keinen Mucks! Und löscht das Feuer!“
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Disclaimer: Der erste Absatz, Rikhons Vision, wurde größtenteils von dem entsprechenden Autor geschrieben. Ich habe nur ein paar Sachen verändert und ergänzt.
*Thyrmal: Monotheistische Gottheit des wichtigsten Glaubens von Lirhajn
**Disclaimer 2: „Indianer“ bezeichnet in der Eisenwelt die Ureinwohner des Kontinents Wajbaqwinat. Begriffe wie ‚Native Americans‘ wurden zu diesem Zeitpunkt der Historik noch nicht geprägt.
***Dsud: Yurvatischer Fluch. Die Dsud ist ein Oberbegriff für verschiedene Katastrophen in Yurvatis – Sandstürme (=goldene oder gelbe Dsud), besonders kalte Winter (weiße Dsud) und so weiter.