Kapitel 9: Fürchte die Stimmen
„Seid leise!“, wiederholte Anilas. „Los, versteckt euch.“ Er hielt Viya noch immer fest.
„Das ist ein Gesandter der Göttin!“, rief die junge Priesterin und versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. „Fürchtet euch nicht – Aithara sendet uns ihr Zeichen!“
Shiak sah zu den anderen. Noch hatte niemand Anstalten gemacht, Anilas‘ Befehl zu befolgen. Nur Jas hatte seinen Wanderstock wie einen Knüppel erhoben. „Habt eure Waffen bereit“, flüsterte er und sah dann Anilas an. „Was ist, kennst du die Person?“
Ihr Gruppenleiter kam nicht dazu, zu antworten, denn in diesem Moment trat Zynon vor. „Hallo?“, brüllte der Jäger in den Wald. „Wer seid Ihr? Bitte kommt hervor.“
„Nicht!“ Anilas schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Sobald er Viya losließ, lief diese bereits los.
„Hier sind wir!“ Sie winkte. „Bei Aitharas Güte, seid willkommen!“
„Noch mehr hungrige Mäuler“, murmelte Giorgio gestresst, der in Shiaks Rücken stand. „Das schaffe ich nicht.“
Dhunya hatte Anilas‘ Reaktion registriert und betrachtete Jas‘ Waffe, dann zückte sie ihre Axt. „Warte, Viya, das ist ein Feind!“ Sie klang nicht ängstlich, sondern vorfreudig. Mit gezückter Axt wollte sie der Priesterin folgen.
„Dhunya, nicht!“ Zynon schien damit gerechnet zu haben und sprang vor, um die Zwergin festzuhalten.
„Bevor du ihn umbringst, müssen wir ihn unbedingt fragen, wer er ist und wie er hier überleben konnte!“ Asherah lief auf Zynons anderer Seite vorbei, ehe der Jäger reagieren konnte. Zynon drehte überrascht den Kopf, was ausreichte, damit Dhunya sich losreißen konnte. Im nächsten Moment liefen alle drei in den Wald, die Priesterin, die Forscherin und die Abenteurerin.
„Wartet doch! Wir sollten ihn nicht verschrecken!“, rief Zynon ihnen nach.
„Wir müssen zusammenbleiben“, schimpfte Jas.
Shiak tastete nach seinem eigenen Katana, zückte es aber noch nicht. Anilas hatte immerhin nichts davon gesagt, dass sie sich bewaffnen sollten. Das war Jas‘ Befehl gewesen. Sollte er ihm gehorchen? Der Elf wirkte ebenso verwirrt wie alle anderen, und Anilas hatte ihnen gesagt, dass sie das Feuer löschen sollten – da Shiaks Klinge leuchtete, wäre es vielleicht keine gute Idee, sie zu ziehen.
„Oh, ihr Götter“, murmelte Anilas. „Sarasi, habe Gnade mit ihnen!“
„Was ist los, Anilas? Wer ist das?“
Erst jetzt bemerkte Shiak, wie blass ihr Anführer geworden war. Seine hellgrüne Haut war nun fast weiß, er zitterte sichtlich. „Nicht wer, sondern was“, murmelte er und sah wieder zum Wald. „Wir müssen sie aufhalten, oder sie werden sterben!“
„Sterben? Meine Dhunya?“
Shiak drehte den Kopf zu Rikhon. Der Wabawi versuchte mühsam, aufzustehen. Er hielt seinen Revolver in der Hand. Nachdem er wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatten sie die Fesseln entfernt, aber er war eindeutig noch zu geschwächt, um zu laufen. Trotzdem versuchte er es und stürzte auf die Erde neben seinem Lager.
„Dhunyaaa!“
Anilas drehte sich im Kreis und sah sich gehetzt um. Er wirkte auf Shiak völlig überfordert. Der Atem des Elfs ging schnell, sein Blick flackerte über den umliegenden Wald. Mal öffnete er den Mund, um zu rufen, dann schloss er ihn wieder, denn sie sollten ja keinen Lärm verursachen.
Dann richtete er sich mit einem Mal auf und sah Rikhon an. „Schieß!“
„Häh?“
„Schieß in die Luft. Mach Lärm. Wir müssen die Piribis auf uns ziehen. Nur so können wir die drei schützen. Und dann müssen wir rennen.“
„Piribis?“, fragte Rikhon verwirrt.
„Laufen? Er ist verletzt!“ Das war Zynon. Der Jäger musste sich selbst auf einen seiner Wurfspeere stützen, sein Bein war noch nicht geheilt.
„Tut es einfach!“, befahlt Jas barsch. „Shiak, Giorgio, ihr stützt Rikhon.“
Er tat, wie geheißen. Während Shiak den Wabawi zusammen mit dem Koch in die Höhe stemmte, richtete Rikhon die Pistole auf den Himmel. Der folgende Knall war wie eine Ohrfeige für ihn. Shiak zuckte zusammen und hätte den Menschen fast fallen gelassen.
„Los, los, los!“, drängte Anilas.
„Die Vorräte!“, rief Giorgio. „Irgendwer muss das Essen mitnehmen!“ Sie schleiften den Wabawi auf das Gebüsch zu. Zynon raffte rasch ein paar Beutel zusammen. Jas entließ die beiden Padai aus ihren Geschirren.
Die großen Katzenpferde rannten sofort los und tauchten fauchend in das Unterholz. So schnell, wie sie davonsprengten, hatte Shiak keine Zweifel, dass sie furchtbare Angst hatten. Aber ob das am Schuss lag, an der Panik, die sich in der Gruppe ausgebreitet hatte, oder an den merkwürdigen Piribis, konnte er nicht sagen.
Stolpernd eilten sie in das dichte, aber niedrige Unterholz.
⁂
„Rikhon? Was ist passiert?“ Dhunya kam ihnen keuchend entgegen. Sie stürmte sofort zu Rikhon und umfasste sein Gesicht mit beiden Händen (wofür sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste), ohne sich um Shiak oder Giorgio zu kümmern, die sie beinahe umrannte.
Hinter der Kriegerin war Viya glücklicherweise ebenfalls aufgetaucht. Zynon vermutete, dass die Priesterin ihr Gottesvertrauen eingebüßt hatte, sobald Dhunya umgekehrt war. Nun fehlte nur noch Asherah, und sie wären alle zusammen.
Giorgio ließ Rikhon los und marschierte zu Anilas. „Wir haben die Vorräte zurückgelassen! Die sind ohnehin schon knapp, wir können es uns nicht leisten …“
„Still!“, brüllte Anilas. „Runter!“
Ihr Gruppenanführer zog Giorgio in die Hocke, wo die dichten Pflanzen sie vor allen Blicken verbargen. Zynon ging mit hinunter, die wenigen Vorräte an sich gedrückt, die er hatte retten können. Sein Bein protestierte schmerzhaft.
Shiak ging in die Hocke, was auch Rikhon, der sich auf ihn stützte, und Dhunya mit hinunter zog. Jas legte seine Hand auf die Schulter der unschlüssig dastehenden Viya und drückte sie hinab.
Dann wurde es still. Zynon konnte seine Gefährten nicht sehen, doch er hörte abgehackten Atem links und rechts von sich. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht auf das gesunde Bein.
Wenig später hörte er die Stimme wieder. „Hallo? Ist da jemand? Zeigt euch!“
„Kommt heraus!“, fiel eine andere Stimme ein. Im ersten Moment glaubte er, es hätte sich schon wieder jemand gegen Anilas‘ Befehl gestellt, doch dann ging ihm auf, dass er auch diese Stimme nicht kannte.
„Hilfe!“, brüllte eine Frau. Es war näher.
Und dann wurden es immer mehr Stimmen: „Wir brauchen Hilfe!“, „Wo seid ihr?“, „Aryta, bist du das?“, „Zeigt euch endlich!“, „Das ist Bark, er lebt!“, „Hiiilfe!“
Frauen, Männer, sogar Kinder. Ihre Rufe wurden so zahlreich, dass sie zu einem einzigen Lärm verschmolzen, aus dem sich kaum noch einzelne Worte heraushören ließen. Immer näher und immer lauter wurden sie, eine Kakophonie aus Hilferufen und zornigen Aufforderungen, sich zu offenbaren.
Je näher die Stimmen kamen, desto lauter dröhnten sie in Zynons Ohren. Er presste sich die Hände auf die Ohren und spähte durch das Gebüsch. Wenn so viele Leute auf sie zukamen, würden sie die Versteckten doch einfach niedertrampeln.
Doch schließlich merkte er, dass der Lärm aus der Luft kam.
In dem Moment, indem er es realisierte und den Kopf hob, verdunkelte etwas den Himmel. Durch die Kronen der Salbäume war es nicht genau zu erkennen, Zynon sah nur den Schatten einer riesigen Wolke über das Grün der Blätter huschen. Für einen Moment war der Waldboden wie in tiefste Nacht gehüllt. Was immer es war, es bewegte sich schnell und gegen den Wind. Er hörte die Stimmen noch immer, als der Schatten vorbeigezogen war. Doch jetzt mischten sich schrille Schreie voller Schmerz und Panik in den Lärm. Sie blitzten auf, erhoben sich über die anderen Stimmen und verhallten.
Mit einem Schauer stellte er fest, dass einzelne Rufe sich wiederholten.
„Was ist das?“ Jas‘ Stimme bebte vor Terror. Zynon reckte den Kopf aus den Pflanzen und stellte fest, dass ringsum immer mehr Gesichter aus dem Bewuchs erschienen. Die anderen sahen sich verschreckt um, Laub und kleine Ästchen im Haar.
„Seid so leise wie nur möglich, um der Götter Willen“, schärfte Anilas ihnen ein.
Bevor er mehr sagen konnte, nahmen sie Schritte wahr und wirbelten herum. Doch es war nur Asherah, die aus der Richtung kam, aus der auch die Wolke gekommen war, und atemlos anhielt, als sie Gruppe in ihrem Versteck vorfand.
„Fliegende Erdwesen? Das ist mir neu“, murmelte sie. „Warum habt ihr geschossen?“
„Leise!“, zischte Zynon – genau wie Jas und Shiak. Verdutzt und empört sah Asherah sie an.
„Das sind keine Erdwesen“, zischte Anilas. „Das sind Papageien. Piribis.“
„Papageien?“ Asherah sah stirnrunzelnd in den Himmel. Immerhin hatte sie ihre Stimme gesenkt. „Das ist unmöglich. Sie können erdvölkische Sprache nicht so gut nachahmen.“
„Gewöhnliche Papageien können das nicht, das stimmt. Gewöhnliche Papageien essen aber auch kein Fleisch.“
Besorgt sah Anilas zum Lager. Die Stimmen waren etwas leiser geworden, aber noch immer zu hören. Zynon konnte sich bildlich vorstellen, wie die Vögel über ihrem Lagerplatz kreisten. Papageien waren höchst intelligent. Und da es sich hier vermutlich um Fluchwesen handelte, musste er von mehr Intelligenz ausgehen …
„Sie haben unser Lager gesehen. Jetzt wissen sie nicht nur, dass wir hier sind, sondern auch, wie viele wir sind.“ Anilas schüttelte langsam den Kopf. „Sie werden uns suchen.“
„Verstecken wir uns? Oder laufen wir weg?“, fragte Jas.
„Unsere ganze Ausrüstung ist noch dort“, protestierte Asherah schwach.
Anilas schüttelte den Kopf. „Das Zeug können wir später holen. Wir müssen warten, bis sie das Interesse verlieren. Und dazu bewegen wir uns am besten so wenig wie möglich. Bewegung macht uns sichtbar.“ Er wies auf die Büsche, in denen sie ohnehin schon hockten. „Legt euch hin. Bewegt euch nicht, macht keinen Mucks. Und egal, was ihr hört, bleibt liegen.“
⁂
Sie hatten eine etwas tiefere Kuhle gefunden, in der sie alle Platz fanden und die von dichtem Blattwerk überschattet wurde. Zwischen größeren Wurzeln, dunklem Schlamm und altem Laub harrten sie schweigend aus und verständigten sich höchstens über Handzeichen.
Die Stunden krochen dahin. Manchmal war es lange Zeit still, sodass man denken könnte, dass die Luft rein war. Aber dann erklang das schwache Rascheln eines Vogels im Flug über ihren Köpfen. Selbst als die Nacht endlich einzog, flogen die Vögel noch durch die Dämmerung.
Der Dschungel von Dhubayaana hatte zwei verschiedene Laubstockwerke. Das oberste waren die Kronen der Salbäume, über denen sich die Piribis wohl bevorzugt bewegten. Hätten sie es nicht getan, begriff Jas, hätte der Schwarm sie in ihrem Versteck vermutlich aufgespürt.
Nun jedoch flogen einzelne Späher unter den Kronen umher. Der einzige Schutz für ihre Gruppe war der niedrigere Bodenbelag, der zwischen Kronen und Buschwerk noch genug freien Luftraum ließ.
Manchmal musste einer der Vögel lange Zeit in der Nähe sitzen, denn sie hörten ihn gelegentlich unvermittelt rufen.
„Hallo? Ist da wer?“
Es klang jedes Mal so echt. Als wäre dort ein Mensch oder Elf, der verzweifelt nach jemandem suchte.
Dann war es wieder still, aber sie hörten den Vogel niemals fortfliegen und wussten, dass er ganz nah auf einem Ast sitzen musste und lauschte.
Nach mehreren Stunden wurde ihre kauernde Haltung unerträglich. Jas‘ Muskeln verkrampften sich. Seine Haut juckte, ständig kitzelte ihn etwas, schließlich konnte er sich nicht strecken und kratzen. Er hatte versucht, sich möglichst bequem hinzulegen, denn stundenlang zu kauern hätte er nicht ertragen. Aber so ziemlich jede Position wäre irgendwann unerträglich geworden.
Die anderen bewegten sich manchmal vorsichtig, um eingeschlafene Glieder zu strecken. Gelegentlich grummelte ein Magen. Manchmal kniffen sie sich in die Nasen, um nicht zu nießen. Es wurde eisig kalt, als die Nacht über sie zog. Selbst in der Dunkelheit flogen die Piribis weiter. Es musste sich eindeutig um Fluchwesen handeln.
Einmal krabbelte ein Skorpion in die Grube und Zynon beschwor sie alle mit Gesten und Blicken, sich bloß nicht zu bewegen. Sie mussten es aushalten, dass das Tier zwischen ihnen hindurchlief und sogar über Jas‘ Fuß huschte.
Viya weinte zu diesem Moment stumm, eng zusammengekauert und die Hände vor der Brust gefaltet. Sicher flehte sie ihre Göttin um Beistand an. Aber von ihnen allen regte sie sich auch am wenigsten. Sie lag da, wie sie in die Grubbe gerutscht war, und zuckte nicht einmal zusammen, wenn der verdammte Piribi in der Nähe seinen Ruf ausstieß.
Hoffentlich hatten Mineys und Acadhisa sich retten können. Die Padai hatten gute Instinkte und sie hatten die Gefahr hoffentlich begriffen. Und hoffentlich konnten einige Papageien, egal wie zahlreich, ihnen nichts anhaben.
Der Schwarm war hartnäckig. Stundenlang saßen sie in ihrem Versteck. Dann, sicher lange nach Mitternacht, atmete Zynon mit einem Mal hörbar aus.
„Sie sind weg!“
Alle schreckten auf, als der Jäger so laut sprach. In Anilas‘ Blick stand reine Panik. „Woher willst du das wissen?“
Lächelnd deutete Zynon gen Himmel. „Hört doch – die Vögel singen wieder.“
Tatsächlich erklang das Gezwitscher und die Rufe der verschiedenen Dschungelbewohner. Jas hörte auch ferne Affenschreie.
„Sie waren absolut still, als die Piribis in der Gegend waren“, erläuterte Zynon. „Jetzt wagen sie sich wieder hervor.“ Um seine Überzeugung zu demonstrieren, stand der Jäger auf und schüttelte seine Beine aus.
Nichts geschah. Nach und nach erhoben sie sich alle und atmeten schließlich auf.
Die Piribis waren tatsächlich weg.
„Das war knapp“, erklärte Anilas ihnen mit leiser Stimme. „Ich habe damals gesehen, was so ein Schwarm anrichten kann. Sie können ganze Dörfer auslöschen …“
„Wir haben ja Glück gehabt.“ Jas klopfte seinem alten Freund auf die Schultern und erschrak davor, wie stark Anilas noch immer zitterte. Seine Erlebnisse hier hatten den Elfen tiefgreifen traumatisiert. Ein weiterer Grund, warum er als Anführer eigentlich nicht geeignet war. Die Furcht trübte sein Urteilsvermögen. Hätte er nur ein wenig deutlicher gesagt, dass die Stimme zu einem Fluchwesen gehörte, wäre es gar nicht erst so knapp geworden. Aber er konnte Anilas auch keinen Vorwurf machen. Ihr ehemaliger Anführer hatte zu viel Angst gehabt, um klar denken zu können.
Es war nicht seine Schuld. Die Akademie hätte niemals eine so schlecht ausgerüstete Expedition losschicken dürfen. Es hätte mehr Gelder gebraucht, mehr Experten, mehr Kämpfer. Aber niemand dort draußen glaubte die Geschichten aus dem Gebiet um Tipanyaaris.
„Also gut. Zurück zum Lager“, murmelte Anilas.
„Ich hoffe, sie haben unsere Vorräte nicht angerührt“, grummelte Giorgio.
Sie setzten sich langsam und steif in Bewegung. Es dauerte etwas, bis sie sich sicher waren, in welche Richtung sie gehen mussten.
„Sollen wir jetzt umkehren?“, fragte Viya leise, während sie sich einen Weg durch den nächtlichen Dschungel suchten. Der Himmel hinter den Kronen war sogar bereits gräulich. Der Morgen konnte nicht allzu weit sein.
Jas spitzte die Ohren, doch niemand sprach sich sofort für eine Rückkehr aus.
„Wir sollten diese Kreaturen aufhalten“, meinte Shiak schließlich zögerlich. „Zum Schutz von ganz Dhubayaana. Irgendjemand muss diesen Wahnsinn beenden. Und das Wie lernen wir nur hier.“
„Ich bin auch dafür“, sagte Zynon. „Aber Rikhon braucht eine richtige Behandlung. Vielleicht sollten wir umkehren, und ihn in Sicherheit bringen. Und mit mehr Leuten wiederkommen.“
„Mir geht es gut!“ Im nächsten Moment ächzte der Wabawi laut auf, weil er in ein Erdloch getreten war. Shiak und Dhunya, die ihn stützten, mussten ihn erst wieder auf die Beine ziehen.
„Ich denke, wir sollten das alle zusammen entscheiden, wenn wir etwas ausgeruhter sind“, schlug Jas vor. Er wollte gerne bleiben und weiter nach Lavinya suchen, aber er konnte auch von niemandem verlangen, sein Leben weiterhin zu riskieren.
Im schwachen Licht sah er alle nicken.
⁂
Er lief ein Stück vor der Gruppe und versuchte, ihre Spuren zu lesen. Sie waren nicht besonders achtsam gelaufen, also war es für einen Jäger wie Zynon eigentlich kein Problem, zum Lager zurück zu finden, aber nun war es dunkel.
Als er schwachen Rauchgeruch wahrnahm, atmete er auf. Das Lagerfeuer, ohne Zweifel. Er blieb stehen und ließ den Rest aufschließen.
Da Rikhon sie ein wenig behinderte, war die Gruppe langsam. Der erste, der auftauchte, war Giorgio. Keuchend stützte sich der Koch auf die Knie, als er neben Zynon angekommen war.
„Was für ein Gewaltmarsch!“
„Giorgio?“ Zynon sah zurück. Die anderen waren noch nicht bei ihnen.
„Ja?“
„Als wir geflohen sind, hast du was zu den Vorräten gesagt.“
Er hörte den Atem des Kochs stocken. „Ich … weiß nicht, wovon du sprichst.“ Giorgios Stimme war verdächtig hoch.
„Irgendetwas davon, dass sie sowieso knapp wären?“, half Zynon ihm auf die Sprünge. Halb belustigt und halb streng.
Giorgio seufzte. „Ja. Wir haben nicht mehr viel Essen. Es reicht noch für ein paar Tage. Vielleicht drei.“
Zynon stöhnte halblaut. „Redest du von drei Tagen mit deinen riesigen Portionen?“ In dem Beutel, den er bei sich trug, befanden sich nur einige Brote. Das würde für einen Tag reichen, mit viel Glück.
„Was heißt riesig? Wir sind auf einer gefährlichen Mission, da brauchen wir Kalorien.“
„Wir müssen rationieren! Wir haben so viel mitgenommen …“ Er schüttelte den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein!“
„Bitte sag es den anderen nicht. Es würde ihnen nur Angst machen.“
Er betrachtete den Celyvari im Halbdunkel. Giorgio wrang die Hände, seine Stimme war kleinlaut.
„Erst mal müssen wir unsere Sachen zusammensuchen“, stimmte er zu. Im Moment waren sie alle müde, erschöpft und verängstigt. Sie brauchten jetzt nicht noch eine Hiobsbotschaft. „Aber wir müssen das klären!“
Giorgio nickte eifrig. „Natürlich, natürlich.“
Dann waren die anderen in Hörweite und Zynon ließ das Thema fallen. Vorerst.
Sie fanden ihr Lager vor, wie sie es verlassen hatten. Einige ihrer Decken waren umgedreht und im Wald verteilt, doch das könnte auch vom Wind stammen. Nichts deutete auf den Schwarm hin.
Das Feuer war inzwischen natürlich heruntergebrannt. Die Padai waren wieder aufgetaucht und wetzten ihre Krallen an einem nahen Baum. Als sie Jas erblickten, liefen die beiden großen Katzenpferde zu ihm und drückten schnurrend ihre Köpfe gegen seine Brust. In diesem Moment wirkten sie einfach wie große Versionen normaler Hauskatzen. Wenn man die Rüssel mal ignorierte.
„Alles noch da“, berichtete Asherah, die als erstes überprüft hatte, ob ihre Ausrüstung noch auf dem Karren war.
„Auch das Essen?“, fragte Giorgio.
„Auch das Essen.“
Zynon atmete auf. Es würde vielleicht doch noch alles gut werden …
„Piribis fressen nur lebende Beute“, informierte Anilas sie.
Zynon legte den Beutel mit Brot zurück auf den Wagen. Sie packten den Rest zusammen. Stillschweigend waren sie übereingekommen, dass sie das Lager abbrechen würden. Vermutlich würden die Piribis ja zurückkehren und sie suchen.
Obwohl sie alle müde waren, spannten sie die Padai ein.
„Hallo.“
Sie erstarrten. Zynon sah im ersten Licht des Morgens das Weiße in den Augen seiner Begleiter aufblitzen, als sie sich umsahen.
Kein Geräusch erklang. Nur das Flüstern des Winds in den Baumkronen.
Hatten sie sich getäuscht? Das Wort war so kurz nur erklungen, dass er sich schon gar nicht mehr genau daran erinnerte.
„Wenn sich hier jemand gerade besonders lustig …“, setzte Dhunya an, aber weiter kam sie nicht.
„Ist da wer?“
Die Stimme erklang im Baum hinter ihnen und es war eindeutig keiner von ihnen.
„Hallo!“, brüllte der Piribi noch lauter. „Wer ist da?“
„Könnt ihr mich hören?“, antwortete ihm eine andere Stimme.
„Lauft!“, schrie Anilas. „Lauf und seht nicht zurück!“
Jas sprang auf den Kutschbock. Zynon und der Rest hechteten zum Karren. Er eilte zu Shiak und Dhunya, die Rikhon hinaufhalfen, und drückte mit. Asherah ließ bereits die Peitsche knallen und der Karren setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Rikhon war auf der Ladefläche, Dhunya klammerte sich an den Karren, Viya streckte die Hand nach Zynon und Shiak aus, die dem Karren nachrannten.
„Hallo? Zeigt euch! Kommt heraus!“, riefen die verschiedenen Stimmen durcheinander. Mehr und mehr mischten sich ein. Sie kamen von weiter entfernt, wurden aber rasch lauter.
Viya fasste Shiaks Arm. Zynon schaffte einen Satz, unter dem sein verletztes Bein beinahe zusammenbrechen wollte, und warf sich zwischen die Kisten und Beutel.
Er prallte hart auf der Seite auf. Dhunya hielt ihn fest, bevor er wieder herunterrollen konnte. Neben ihnen zog Viya Shiak herauf.
Die Schreie der Piribis wurden lauter. Gegen den grauen Himmel konnte er die dunklen Schatten der Vögel sehen. Dutzende. Hunderte.
Die Piribis strömten zu einem großen Schwarm zusammen. Es waren bläuliche Vögel mit orangen Bäuchen. Ihr Schillern ließ ihn endlich erkennen, womit sie es wirklich zu tun hatten.
Es waren die Farben von Piranhas.
⁂
Jas peitschte die armen Padai vorwärts, doch die Piribis schlossen auf.
„Wir schaffen es nicht!“, kreischte Giorgio.
Rikhon entsicherte den Revolver und schoss in den Himmel. Der Knall klingelte in Shiaks Ohren. Für einen Moment konnte er die Rufe der anderen nicht verstehen, nur die folgenden Schüsse drangen zu ihm vor.
Tatsächlich fielen auch einzelne Piribis aus dem Himmel, doch es waren einfach zu viele, als dass diese Toten einen Unterschied gemacht hätten.
Der Schatten des Schwarms fiel über sie. Shiak klammerte sich an den Karrenrand. Der erste Papagei stieß herab und klappte den Schnabel auf, der eine Reihe spitzer Zähne offenbarte.
Anilas schlug das Tier mit einem Ast zur Seite. Dann schlug er Rikhon die Pistole aus der Hand.
„Seid still!“, brüllte er sie an. „Seid absolut still.“
Im nächsten Moment war der Mooself vom Karren gesprungen.
Shiak schnappte nach Luft, wie auch die anderen. Während der Karren fuhr, sahen sie, wie Anilas sich abrollte und auf die Füße kam. Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte in den Himmel hinauf. Mit dem Stock schlug er auf einen Baumstamm.
Shiak wollte etwas rufen, aber Anilas‘ Warnung hallte ihm noch in den Ohren und so blieb ihm jedes Wort im Hals stecken.
Der Schwarm schwenkte ab und stürzte sich in einer Kurve auf die Quelle des Lärms hinab. Anilas sah ihnen entgegen, und brüllte noch einmal lauter. Ein Schrei voller Wut. Blaurote Vögel verdeckten ihnen im nächsten Moment die Sicht, doch sie hörten, wie Anilas‘ Schrei schriller und schmerzerfüllter wurde.
Noch bevor Jas den Karren hätte bremsen können, flog der Schwarm auf. Shiak presste sich den Hand vor den Mund, als er an der Stelle, wo Anilas gestanden hatte, nur noch ein Skelett sah. Ein Knochengerüst mit einzelnen Resten Fleisch, das einen Moment dastand und dann in sich zusammenfiel, während einzelne Piribis die letzten roten Reste davon pickten.
Jas sandte die Padai in eine scharfe Kurve. Äste prügelten auf sie ein, etwas krachte und barst, dann hielten sie mit einem Ruck.
Shiak blinzelte. Sie befanden sich in einem weiteren Gebüsch, umringt von Ästen, Laub und Ranken. Eine Schlange auf einem höheren Ast zischte auf sie herab. Die Padai schnauften kaum hörbar. Alles verharrte und lauschte auf den fernen Flügelschlag.
„Hallo!“
„Ist da jemand?“
„Bist du das?“
Die Piribis kreischten triumphierend. Sie waren lauter als je zuvor, offenbar berauscht von der Beute. Dann mischte sich ein weiterer Ruf in die Menge.
„Hallo? Seid still. Seid still.“
Anilas‘ Stimme.