Kapitel 10: Die glücklichen Überlebenden
Vögel kreisten überall um sie herum. Die Piribis hatten sie im Gebüsch noch nicht entdeckt, doch das war nur eine Frage der Zeit.
Während der Rest noch wie erstarrt auf dem Karren saß, hatte Dhunya die Axt gezückt und sich aufgerichtet. Suchend sah die Zwergin sich um, ein gefährliches Funkeln in den Augen, das Shiak unter anderen Umständen Sorgen gemacht hatte. Jetzt musste er die Kriegerin dafür bewundern, dass sie sich zusammenriss und jeden Vogel tötete, der sie aufspürte. Drei oder vier hatte sie auf diese Weise bereits aus der Luft geschlagen, ehe die Piribis Alarm schlagen konnten. Doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr einer der Papageien entgehen würde.
Shiaks Hände zitterten. Die Luft erzitterte von der Übelkeit erregenden Präsenz der Magie. Genau wie an jenem Tag, den er am liebsten für immer vergessen würde. Und wie damals hatte er niemanden retten können. Anilas war tot. Nur seine Stimme war geblieben, welche die aufgeregten Vögel immer und immer wiederholten.
Er ballte die Hände zu Fäusten. Weder das Grauen noch die Erinnerungen sollten über ihn siegen. „Wir brauchen einen Plan“, flüsterte er. „Wir brauchen einen Plan, damit wir nicht wie Anilas enden.“
„Möge Thyrmal seiner Seele gnädig sein“, sagte Dhunya. Sie beugte sich herab. „Rikhon, ich finde, das verlangt nach einem Toast. Reich mal das Qbak.“
Rikhon allerdings rührte sich nicht. Er saß zwischen ihrem Gepäck wie eine Statue.
Dafür ergriff Asherah das Wort. Hastig und flüsternd sagte sie: „Lasst uns zusammentragen, was wir wissen. Die Piribis reagieren auf Lärm, ja? Das können wir vielleicht nutzen. Sie scheinen vornehmlich Papageien zu sein, die insbesondere von Greifvögeln bedroht werden …“
„Also eine Ablenkung“, murmelte Jas. Auch er hatte sich jetzt zusammengerissen, obwohl er verstört aussah. Seine Augen waren zu weit aufgerissen, sein Atem ging schnell, doch seine Worte waren bedacht. „Wenn wir schnell handeln, können wir hoffentlich davonschleichen.“
„Eine Geräuschquelle“, sagte Zynon. „Rikhon, kannst du deinen Revolver irgendwie manuell einstellen?“
Der Wabawi gab keine Antwort.
Zynon zuckte mit den Schultern und begann, in den Taschen zu wühlen, wo er schließlich Töpfe und Geschirr zum Vorschein brachte.
„Was willst du denn damit?“, fragte Giorgio, dem das Geschirr gehörte. Niemand beachtete den Koch.
Zynon umwickelte die Enden von einigen großen Löffeln und Pfannen mit Seilen. Shiak nickte – das könnten sie gut in einen Baum hängen. Der Wind würde das Geschirr bewegen und klirren lassen.
„Die Abwechslung selbst hilft vielleicht bereits“, sagte er leise zu seinen Gefährten. „Aber können wir die Piribis gleich … töten?“
„Wir haben keine Greifvögel, die wir auf sie hetzen können“, widersprach Asherah sofort.
„Keine lebenden jedenfalls“, sagte Jas. „Aber es gäbe die Möglichkeit … nun, welche zu beschwören.“
„Dämonenmagie?“ Das kam von Viya und die Priesterin presste sich im nächsten Moment die Hände auf den Mund, weil sie laut geworden war. Gleich erschienen einige Piribis, doch Dhunyas Axt pflückte sie aus der Luft, bevor die Vögel etwas rufen konnten.
Das Geräusch des Schwarms um sie herum war lauter geworden und das Lächeln in Dhunyas Gesicht verblasst.
Leiser fuhr Viya fort: „Du schlägst doch nicht wirklich vor, Dämonen zu beschwören?“
„Mein Vater ist ein Hexer“, sagte Jas angespannt. „Ich heiße das nicht gut, aber von ihm weiß ich, worauf es ankommt. Es gibt alle möglichen Dämonen. Sie könnten die Piribis für uns töten.“
Shiak schluckte schwer. Magie. Dämonen. „Was ist, wenn wir Feuer nutzen?“, warf er ein.
Die anderen überlegten. Asherah war die erste, die nickte. „Feuer ist immer eine Option. Es hat eine reinigende Wirkung. Aber wir starten wir es?“
„Das ist einfach“, sagte Zynon. „Es ist schwieriger, darauf zu achten, dass ein Lagerfeuer keinen Waldbrand auslöst. Ich habe Feuerstein, wir können also einige Funken schlagen …“ Der Jäger sah ernst auf. „Aber wir könnten den halben Wald abbrennen!“
„Langsam erscheint mir das wie die beste Option für alle Beteiligten“, brummte Dhunya, ohne Viyas und Asherah entgeisterte Blicke zu beachten.
„Wir werden im Feuer sterben“, flüsterte Giorgio mehr zu sich als zu ihnen. „Wir werden alle sterben …“
Abgesehen von dem Koch und Rikhon, die beide kaum ansprechbar waren, machte sich der Rest daran, mehr und mehr der Lärmfallen herzustellen. Dann packte Zynon das zusammengebundene Metall entschlossen und sprang vom Wagen. „Wenn irgendetwas passiert und sie mich angreifen, fahrt einfach los“, sagte der Jäger. Er hielt in jeder Hand zwei der Fallen, und zwar so, dass das Metall nicht zusammenschlagen konnte. Doch ja, wenn er gesichtet wurde oder stolperte oder eine Falle anbrachte und nicht schnell genug davon käme, wäre er verloren.
Shiak tastete nach den Feuersteinen, die noch auf dem Wagen lagen, und bewegte sich wie in Trance. „Ich komme mit.“
Zynon furchte die Stirn einen Moment, dann nickte er. „Leise!“
Geduckt schlich Shiak ihm hinterher. Sie hielten sich im Gebüsch, wo der Jäger seinen Weg problemlos fand, bis sie ein Stück vom Wagen fort waren und Zynon begann, die Fallen in die Zweige zu binden. Noch hielt er die Löffel zusammen, damit sie nicht klapperten. Shiak schlug die Feuersteine zusammen und schreckte auf. Der Knall klang so scharf und laut, ganz anders als an jedem Abend, wenn sie das Lager bereiteten. Dieser Lärm musste die Piribis anlocken, daran bestand kein Zweifel.
Trotzdem schlug er wieder zu. Jeder Schlag, jeder Funke, erschien ihm wie ein Kampf gegen die Dämonen, die sie sonst rufen müssten. Jeder Schlag war eine Befreiung. Neue Hoffnung.
Zynon warf das letzte Seil über einen Ast. Funken sprangen in das trockene Laub am Fuß eines Salbaums und fassten Fuß. Als Shiak pustete, erhoben sich Flammen.
„Bereit?“ Zynon hielt die Windspiele noch fest.
Shiak kehrte etwas mehr Laub zu den wachsenden Flammen, dann nickte er.
„Los!“ Zynon duckte sich und lief los. Shiak folgte ihm. Hinter ihnen erklang das Klängeln und Läuten des Metalls.
Es war noch lauter als der Feuerstein. Vermutlich war er zu empfindlich gewesen. Vor Angst konnte er nicht richtig denken. Jeder Schritt, jedes Rascheln im Laub war wie ein Schrei. Seine Haut prickelte, als würden die Flammen darüber tanzen, und ihm war ebenso heiß. Der Rückweg wollte nicht enden. Ständig war nur neues Laub vor ihm. War er bereits an den Wagen vorbei? Wo war Zynon überhaupt? Shiaks Atem ging jetzt schnell und zu laut, als dass er etwas anderes hören könnte.
Dann legte sich eine Hand auf seinen Arm. Er fuhr zusammen, doch es war nur der Jäger, der direkt neben ihm hockte. „Ruhig atmen“, flüsterte Zynon. Shiak stellte fest, dass er ihn problemlos verstehen konnte.
Der Mensch führte ihn ein Stück zur Seite, wo Shiak auch schon den Wagen erkannte. Leise kletterten sie auf die Sitzfläche.
Piribis kreisten über ihnen. Ihre aufgeregten Rufe nahmen zu, dann stürzte der Schwarm herab – direkt in die Falle.
Jas schnalzte. Die Padai lehnten sich in ihre Geschirre, der Wagen fuhr ruckelnd los.
Erst nach einer geraumen Weile wagten sie es, aufzuatmen. Der Lärm blieb hinter ihnen zurück. Sie waren entkommen.
⁂
Niemand wusste, wie weit sich der Schwarm bewegen würde. Also fuhren sie einfach immer weiter, so lange die Padai noch rennen konnten. Nur wenige Sonnenfinger fielen durch die Blätter der Salbäume. Einen Weg gab es schon lange nicht mehr zu finden. Sie hatten das Glück, dass Jas‘ Padai sich in unwegsamem Gelände bestens zurechtfanden und der Karren wendig genug für die Wurzeln und Steigungen war.
Zynon hatte diese Gebiete oft genug zu Fuß durchstreift. Er war die Wildnis abseits der gepflegten Wege gewohnt, die überwucherten, grünen Dickichte, die oft gar nicht so weit außerhalb der Siedlungen begannen. Oft brauchte es nur drei Schritte vom Haus am Rand eines Dorfes aus, um sich in undurchdringlicher Wildnis wiederzufinden. Der Wald wuchs schnell und dicht. Wenn man ihn nicht mit Feuer und Axt zurückschlug, rückte er gnadenlos vor.
Dhubyanische Kinder lernten schnell, dass sie die Wege besser nicht verlassen sollten. Es war leicht, sich zu verirren. Schon nach wenigen Schritten ins Grün konnte man nicht mehr sehen, woher man gekommen war.
Sie sprachen kein Wort, während sie fuhren. Die Luft war warm und schwül, wie ein Tuch legte sie sich auf ihre Gesichter. Zynon roch Moos, Rinde und feuchte Erde. Etwas zirpte, woanders riefen Vögel und Frösche. Es war absolut windstill, aber die Luft war erfüllt von Sirren und Zwitschern. Sie sahen dichtes Moos auf den Bäumen, dichte Teppiche aus riesigen Blättern, Lianen und Pilzen. Das Licht war fleckig und unstet.
Dies war der Wald, wie Zynon ihn kannte. Die Wildnis, in der zurechtzufinden er gelernt hatte. Er sah, dass einige seiner Gefährten zusammenzuckten, wenn das dröhnende Geschrei eines Brüllaffen hallte oder wenn Geckos durch das Unterholz huschten. Doch all das waren die gewöhnlichen Geräusche dieser Welt, ohne eine Spur von Flüchen oder Gefahr.
Es schien so friedlich zu sein, dass man nicht glauben konnte, was noch vor wenigen Stunden geschehen war. Nun war Anilas tot. Wieder und wieder musste Zynon an den Moment zurückdenken. Der Elf hatte närrisch gehandelt. Aber seinen Mut musste Zynon bewundern. Das hätte er von niemandem seiner Gefährten erwartet, erst recht nicht von so einem langlebigen Spitzohr. Elfen hielten sich doch alle für etwas Besseres – niemals hätte er gedacht, dass sich einer für einen Haufen Menschen und Zwerge opfern würde. Auf seine Weise war Anilas gar kein übler Kerl gewesen. Zynon hatte nicht erwartet, dass ihr Gruppenleiter so entschlossen handeln könnte. Die meiste Zeit über hatte er in dem Elfen nur einen Versager gesehen, der sie noch dazu angelogen hatte.
Nun stellte er fest, dass er sich für diese Gedanken schämte. Er hätte von Anfang an auf ihn hören sollen, dann hätten die Piribis sie sicherlich nicht bemerkt. Die Erkenntnis kam freilich zu spät.
Viya weinte leise, doch ausgerechnet Jas, der Anilas doch am längsten gekannt hatte, ließ keine Spur von Trauer erkennen. Stattdessen führte er die Padai hochkonzentriert durch den Wald. Was auch immer er über den Tod seines Freundes fühlte, schien er zur Seite geschoben zu haben.
Dhunya hatte eines der Qbakfässer geöffnet und füllte sich und Rikhon ständig neue Becher. Die beiden tranken schweigend und prosteten dem Himmel zu. Vermutlich war das ihre Art, den Toten Respekt zu zollen. Der Rest lehnte mit einem Kopfschütteln ab, wenn ihnen von dem Milchbier angeboten wurde.
Schließlich wurden die Padai langsamer und Jas zügelte sie. Es musste Mittag oder sogar bereits etwas später sein. Jas spannte die Katzenpferde aus, ließ ihnen aber die Geschirre, und rieb über ihr Fell. Der Rest stand eine Weile nur schweigend herum, bis Giorgio begann, das verbliebene Kochgeschirr herauszusuchen. Von dieser Geschäftigkeit angesteckt kümmerte sich der Rest um eine Feuerstelle. Giorgios Kommandoton in den vergangenen Tagen hatte sich ausgezahlt, denn jeder wusste, was er zu tun hatte, ohne dass auch nur ein Wort gesprochen wurde. Während Giorgio den Topf über das Feuer hängte, trat Zynon jedoch zu ihm.
„Mach nicht zu viel, hörst du?“
„Ich mache so viel Essen, wie ich will“, brummte Giorgio.
„Vergiss nicht, dass wir sparsam sein müssen.“
Der Celyvari rollte mit den Augen. „Ja, ja, ja!“
„Ernsthaft, Giorgio. Was machen wir, wenn uns das Essen ausgeht? Wir müssen aufpassen. Du kannst nicht immer so große Portionen machen. Wir müssen ja auch darauf achten, dass wir noch rennen können. Du hast gesehen, was hier los ist, mit vollem Magen …“
Ärgerlich schlug Giorgio den Lappen auf die Erde, den er eigentlich nutzte, um den heißen Topfrand zu fassen. „Sag du mir nicht, was ich tun soll!“, zischte er Zynon an. „Wenn überhaupt, ist es deine Schuld, dass wir zu wenig Essen haben!“
„Meine?!“
„Jawohl! Wer ist denn hier der Jäger und bringt kein Fleisch heran?“
Entgeistert schnappte Zynon nach Luft. Er hatte die Sache mit Giorgio allein klären wollen, um den Rest der Gruppe nicht weiter zu beunruhigen – und das war die Antwort? Er ballte die Hände zu Fäusten und setzte zu einer Erwiderung an, doch ihm war selbst klar, dass jetzt nur etwas Unüberlegtes folgen würde. Also schnaubte er stattdessen, drehte auf dem Absatz um und setzte sich an den Rand der kleinen Lichtung, auf der sie lagerten.
Er würde sich beruhigen müssen, bevor er entschied, was er tun würde.
⁂
Er stellte sicher, dass keine Piribis in der Nähe waren, dass alle anderen gesund und unverletzt waren, und dass Giorgio sie versorgen würde, bevor Jas sich schließlich gestattete, etwas zu fühlen.
Anilas war sein Freund gewesen. Die entscheidenden Momente prasselten wieder auf ihn ein, nachdem er die Erinnerungen gewaltsam von sich fortgeschoben hatte. Er hätte ihm vertrauen sollen, als die Piribis aufgetaucht waren, besser darauf achten, dass alle gehorchten und still blieben. Dann wären die Vögel niemals aus sie aufmerksam geworden und Anilas noch am Leben.
Er hätte diesen dummen Kerl von seinem Opfer abhalten sollen. Was hatte Anilas damit bezwecken wollen? Es hätte doch sicherlich einen anderen Weg gegeben … oder?
Jas hatte sich ein Stück von den anderen entfernt und vergrub den Kopf in den Händen. Seine Finger strichen durch sein Haar und er fühlte sich elend, aber seine Augen blieben trocken. Während der Flucht hatte er die Tränen wegblinzeln müssen, nun weigerten sie sich, zu fließen.
Wäre es anders gekommen, wenn er Anilas nicht bloßgestellt hätte? Er hätte ihn nicht drängen müssen, der Gruppe die Wahrheit zu sagen. Vielleicht hätten sie Anilas dann alle eher gehorcht.
Die Vorstellung, dass er den Tod seines Freundes indirekt verantwortet haben könne, drehte ihm den Magen um. Er hatte es für eine gute Idee gehalten, ehrlich zu sein. Aber die Lage war noch viel gefährlicher, als sie erwartet hatten.
Unsicherheit konnte in diesem Dschungel den Tod bedeuten. Mit einem Ruck stand Jas auf. Er musste dafür sorgen, dass sich etwas Ähnliches nicht erneut zutrug!
Entschlossen marschierte er zurück zum Lager. Giorgio kochte noch immer, der Rest war jedoch mit allen Vorbereitungen fertig und saß zusammengesunken auf der Erde. Jas wollte direkt das Wort ergreifen, aber Viya kam ihm zuvor.
„Hat jemand von euch eine Waffe übrig?“, fragte die Priesterin mit leiser Stimme.
Die Gruppe sah sie überrasch an.
„Was willst du mit einer Waffe?“, fragte Dhunya.
„Ich … ich will niemanden verletzen, aber … manchmal muss man Aitharas Schutz etwas nachhelfen, wenn ihr versteht. Ich … ich möchte kämpfen.“
Aus dem Mund der jungen Priesterin klang es so verzweifelt, dass Rikhon tatsächlich nachgab. Der Wabawi stand auf und reichte Viya den Bogen, den er sonst über der Schulter trug, samt einigen Pfeilen. „Hier. Ich nehme sowieso lieber mein Schießeisen, also brauche ich ihn nicht.“
„Ich danke dir, Rikhon.“ Viya nahm den Bogen entgegen, als handelte es sich um eine zerbrechliche Vase. Andächtig strich sie über das Holz, dann sah sie in die Runde. „Ich nenne ihn … Anilas‘ Segen. Er soll uns helfen, nicht das gleiche Schicksal zu erleiden.“
Jas musste schlucken, um den Kloß aus seinem Hals loszuwerden. Es tat gut, Viya so wohlwollend von Anilas sprechen zu hören.
„Wollen wir gemeinsam beten? Für Anilas‘ Seele und darum, dass Aithara uns schützen möge?“
Jas wusste nicht, warum niemand widersprach. Vielleicht lag es daran, dass die Priesterin jetzt einen ganz anderen Eindruck machte. Sie hielt sich aufrecht und stolz, allein den Bogen zu halten gab ihr etwas Verwegenes, und ihre Gewänder, so dreckig sie auch sein mochten, strahlten ein ruhiges Licht aus.
Nur Giorgio winkte ab, da er auf den Topf achten musste, in dem eine Radieschensuppe brodelte. Jas setzte sich mit den anderen vor Viya. Er war nicht besonders religiös, aber er fand die Vorstellung tröstlich, wenigstens für ein paar Momente an Götter zu glauben, die sie beschützen würden.
Viya legte den Boden zur Seite und faltete die Hände. „Gütige Aithara, wir bitten dich, erhöre uns.“
Jas senkte den Kopf. Zum Gebet musste man sich auf die Erde knien und den Rücken beugen, die gefalteten Hände lagen vor den Lippen. Er schloss die Augen.
„Deine Kinder irren durch diesen gefährlichen Dschungel“, fuhr Viya fort, „und sie erflehen deinen Schutz. Gütige Aithara, erhöre uns.“
„Gütige Aithara, erhöre uns“, sprach er mit, ebenso Shiak und Zynon.
„Sie suchen ein Heilmittel für den Fluch, um die Unschuldigen zu schützen. Gütige Aithara, erhöre uns.“
„Gütige Aithara, erhöre uns.“
„Wir beten für die Seelen der Toten, die dieser Fluch gefordert hat. Bewerte ihr Dotama gütig und schicke sie bald zur Elefantenmutter, damit sie ihnen neue Körper schafft. Gütige Aithara, erhöre uns.“
„Gütige Aithara, erhöre uns.“ Diesmal stimmten auch einige der nicht-dhubyanischen Mitglieder der Expedition ein. So ging es weiter, zunächst unter der Führung von Viyas sanfter Stimme, dann folgte ein stummes Gebet, bei dem jeder seine eigene Zwiesprache mit der Göttin hielt, während Viya einen goldenen Teller auf die Erde stellte und Kerzen entzündete. Asherah hielt zwar eher Zwiesprache mit ihrem Notizbuch, wo sie wieder irgendetwas eintrug, doch Jas ignorierte sie.
Er dachte an Lavinya und Dathina und bat Aithara wortlos, dass sie ihn zurück zu seiner Frau und seiner verbliebenen Tochter führen möge. ‚Bitte, ich möchte sie noch in diesem Leben wiedersehen. Bewahre sie vor Torobari.‘
„Um unsere Bitten zu verstärken“, sagte Viya schließlich, „müssen wir Aithara Opfer erbringen. Am liebsten hat sie goldene Dinge.“ Viya holte einige Bernsteine, gelbe Federn und bunt angemalte Sonnen aus Holz hervor, die sie auf den Teller legte. „Auch Lebensmittel sind angebracht“, erklärte sie den unerfahrenen Mitgliedern der Expedition.
„Wie gut, das passt doch.“ Giorgio balancierte eine erste Holzschale zu ihnen. „Die Suppe ist fertig.“
Sie kippten ein wenig der Suppe über die Opfergaben auf einem goldenen Teller, welchen Viya mit Kerzen umringt hatte. Während sie aßen, stellte Viya den Teller an die Seite. Die Götter würden diese Speisen verzehren, die im Urwald zurückbleiben würden. Nach dem Essen löschte die Priesterin die Kerzen und legte alle Lebensmittel ordentlich zusammen, ehe sie den Teller wusch und einsteckte. Das war zwar nicht üblich, doch sie würden an diesen Ort nicht mehr zurückkehren, also mussten sie den Teller mitnehmen.
„Ich möchte mit euch über etwas reden“, ergriff Jas das Wort. „Ich will, dass wir eine ordentliche Abstimmung machen, um zu entscheiden, wer uns anführen soll. Jetzt, da Anilas nicht mehr da ist, sollten wir diese Frage eindeutig klären. Wir wählen einen Anführer oder eine Gruppe aus Anführern. Wenn wir noch einmal in Gefahr geraten, müssen wir jemandem haben, dem jeder ohne Fragen zu stellen gehorcht. Ich möchte, dass wir einen Entscheider wählen, dem wir in so einem Fall folgen werden. Wir haben nicht auf Anilas gehört und jetzt ist er tot. So etwas darf nicht noch einmal passieren.“
Der Rest nickte.
„Also gut, wer ist für Jas?“, fragte Dhunya. „Hand heben!“
„Nein, wartet!“, stoppte Jas sie, ehe jemand reagieren konnte. „Ich möchte das vernünftig tun. Die Wahl soll überlegt getroffen werden. Und sie sollte geheim sein. Ich würde sagen … wir nehmen vielleicht einige von Viyas Pfeilen oder so. Jeder kriegt drei Stück, drei Stimmen, und kann von allen aus der Expedition denjenigen wählen, den er für geeignet hält, uns alle sicher durch den Wald zu kriegen. Ihr könnt alle drei Stimmen für eine Person verwenden oder bis zu drei Leuten auswählen.“
„Warum muss es so kompliziert sein?“, fragte die Zwergin.
„Nein, ich denke, das ist vernünftig“, warf Asherah ein. „Nicht umsonst entwickeln sich die meisten Kulturen früher oder später zu so einem System. Wenn die Wahl nicht auf diese Weise abgesichert wird, werden sich die Wähler möglicherweise beschweren. Natürlich gerade dann, wenn die Dinge schwieriger werden. Wenn ihnen nicht gefällt, was sie tun müssen, werden sie behaupten, dass die Wahl nicht gut gelaufen ist und den Gehorsam verweigern. Wir sind vielleicht kein politisches Land, sondern nur eine Reisegruppe, aber der Wald ist so gefährlich, dass wir uns keine Unstimmigkeiten leisten können. Die Wahl, wenn sie einmal getroffen ist, muss unanfechtbar sein.“
Jas nickte. „Ich habe mir bereits etwas überlegt. Wir führen die Wahl ein Stück entfernt aus und stellen Kisten auf, eine für jeden von uns. Dann geht jeder nacheinander dorthin und legt seine Pfeile in die Kisten der Personen, die er für geeignet hält. Am Ende zählen wir, wer die meisten Stimmen erhält, vorher bleibt die Wahl geheim.“
Der Rest stimmte zu, also machten sie sich nach dem Essen an die Umsetzung. Jas schärfte den Expeditionsmitgliedern noch einmal ein, dass sie ihre Wahl genauestens überdenken sollten.
„Außerdem finde ich, wir sollten bis zum Abend weiterreisen. Wir wissen nicht, wie groß das Gebiet der Piribis ist. Heute Abend wählen wir, und dann, ab morgen, haben wir die Verhältnisse geklärt.“
Ein paar waren wohl durchaus der Meinung, dass er es übertrieb, doch Asherah bestärkte ihn darin, dass die Wahl so offiziell wie möglich sein sollten.
Als sie loszogen, sah er ein letztes Mal zurück zu ihren Gaben am Rand des Lagers. Hoffentlich würden diese Aithara erreichen. Sie konnten jeden Beistand gebrauchen. Dann schnalzte er mit den Zügeln und die Padai zogen los.
⁂
Sie waren noch nicht lange fort, als das Gebüsch in der Nähe des verlassenen Lagers raschelte. Die Kreatur hielt sich im Schatten unter den dichten Blättern. Sie wusste, in wessen Revier sie hier war, welche Gefahr drohte. Also hielt sie sich aus dem Licht heraus.
Zielstrebig kroch das Wesen dorthin, wo die Gaben an Aithara lagen. Das Schmatzen und Knurren, mit dem Essen, Federn und Dreck heruntergeschlungen wurden, dauerte nicht lange an.
Dann richtete sich der glühende Blick auf den Pfad, den der Karren genommen hatte. Der Geruch nach verschiedenen Erdwesen und zwei Padai war für die richtigen Sinne deutlich wahrzunehmen.
Und Hunger war immer geeignet, die Sinne zu schärfen.
Blätter strichen über dunkles Fell. Gebleckte Zähne glänzten in der Sonne.
Leise schlich der Jäger los, um der Gruppe zu folgen. Nur ein weiterer Blick aus glühenden Augen, der in den Reisenden Nahrung sah.
⁂
Sie machten früh Rast. Die Piribis hatten sie schon lange nicht mehr gesichtet, also hatten sie den Schwarm wohl endgültig abgehängt. Mehr Sorgen machte Zynon das Feuer. Doch die Rauchsäule ihrer Falle, die sie während des ersten Teils der Flucht gesichtet hatten, war ziemlich dünn geblieben. Vermutlich waren die Pflanzen vom nächtlichen Tau so feucht gewesen, dass sie sich nicht entzündet hatten.
Er wollte den Wald nicht abbrennen. Dafür schätzte er diese Wildnis zu sehr. Ihnen war keine Wahl geblieben, als ein Feuer zu nutzen, aber er hatte sich trotzdem Sorgen gemacht. Zum Glück schien sich das Feuer nicht ausgebreitet zu haben.
In der Zeit, in der er die Fallen rings um das Lager verteilte, machte Jas auf einer separaten Lichtung die Wahlboxen fertig. Zynon ließ sich etwas mehr Zeit damit, die Fallen auszurichten, während er darüber nachdachte, wer von ihnen die beste Wahl als Anführer wäre.
Jas schien die offensichtliche Option zu sein. Er war ebenfalls von der Akademie und wusste genau, worauf es bei so einer Mission ankam. Jas hatte die Führung bei ihrer Flucht wie selbstverständlich übernommen.
Aber er war ein Elf, und Elfen hatten manchmal eine merkwürdige Einstellung zum Wert von kurzlebigen Völkern. Zynon war auch nicht entgangen, dass Jas durchaus seine eigenen Dämonen hatte, die sein Urteilsvermögen trüben könnten. Mit Rikhon und Dhunya hatte ihre Gruppe Alternativen, die ebenfalls wussten, wie man im Notfall einen kühlen Kopf bewahrte. Giorgio war, so sehr Zynon ihm die Vorwürfe noch immer nachtrug, jemand, der gut kommandieren konnte und die Gruppe zusammenhielt. Seine persönliche Meinung vom Koch sollte Zynons Wahl vielleicht nicht beeinflussen.
Ganz wie Jas es verlangt hatte, nahm er die Wahl ernst. Und damit Giorgio keinen Grund hätte, sich wieder zu beschweren, stellte er mehr Fallen auf als sonst.
Schließlich kam er gerade rechtzeitig zum Abendessen zurück. Diesmal hatte Giorgio nur einige Brote gemacht. Vielleicht hatte er sich Zynons Warnung doch zu Herzen genommen.
Nach dem Essen begannen sie damit, nach und nach auf die separate Lichtung zu gehen, um die Wahl abzuhalten. Als Zynon an der Reihe war, war es bereits dunkel geworden. Die Kisten und die jeweiligen Symbole davor konnte man jedoch noch erkennen. Viya hatte einige ihrer Kerzen aufgestellt, um Licht zu spenden. Jeder hatte etwas abgelegt, woran man ihn erkennen konnte. Vor dem Kasten für Zynons Stimmen lag beispielsweise eine seiner Fallen. Dhunya hatte eine Axt in die Erde getrieben, Asherah ein Notizbuch abgelegt – natürlich mit einem Tuch vor Feuchtigkeit geschützt – und Rikhon seinen Revolver niedergelegt.
Zynon betrachtete die drei Pfeile in seiner Hand. Diese enthielten nun das Schicksal ihrer Gruppe. Wen sollte er wählen? Er kannte seine Begleiter noch nicht lange genug, um sie letztendlich einschätzen zu können. Wie Viya könnten einige von ihnen unerwartet ihren Mut finden oder andere positive Eigenschaften offenbaren, und wie Anilas könnten manche von ihnen düstere Geheimnisse hegen. Zynon hatte in letzter Zeit ein paar Überraschungen zu viel erlebt.
Während er noch grübelte, erklang ein zorniger Schrei von der Lichtung.
Sofort sprintete er zurück. Auf der Lichtung herrschte Chaos. Alle rannten wild durcheinander.
„Was ist los?“
„Wolf! Oder … irgendetwas.“ Rikhon stürmte vorbei und warf die Arme hoch. „Wo ist mein Revolver?!“
„Wahlkästen.“ Zynon deutete über die Schulter, während er versuchte, einen Überblick zu bekommen. Er sah Dhunya auf der Erde liegen, die Zwergin umklammerte ihren Arm. Viya hatte sich neben ihr aufgebaut und fuchtelte mit dem Bogen herum. Sie hatte noch nicht einmal die Sehne aufgespannt – dafür war vielleicht auch keine Zeit geblieben – und schwang ihre neue Waffe wie ein Schwert.
Dann erkannte Zynon, dass die Vorräte fehlten. In der Dunkelheit konnte er gerade noch einen Schatten ausmachen, der die Säcke ins Unterholz zerrte. Das Lagerfeuer spiegelte sich für einen Moment in glitzernden Augen.
Offenbar hatte Dhunya den Dieb bemerkt und dieser sich gewehrt. Die Zwergin hatte nicht verhindern können, dass das unbekannte Tier etwas stahl. Und zwar ausgerechnet ihre Lebensmittel, die ohnehin knapp waren!