Kapitel 3: Die Reise auf der blauen Straße
Der Karren setzte sich rumpelnd in Bewegung, als sich die Padai in ihre Geschirre stemmten. Die Expeditionsteilnehmer folgten ihm. Shiak sah ein letztes Mal zurück, als sich die gepflasterte Straße unter seinen Schritten in den staubigen Lehm des Dschungels verwandelte.
Yamayini lag bunt und einladend unter der Sonne. Nach der Regenzeit schlug das Herz der Stadt umso lauter. Während die Stille des Waldes sie umfing, wurde ihm bewusst, was er hier tat.
Welcher Wahnsinn trieb ihn nur nach Tipanyaaris? Er war kein Abenteurer! Einen Moment lang wollte er zurück in das Gewirr der Häuser und Gassen laufen, untertauchen und im Lärm seinen eigenen Gedanken entkommen.
„Hier jetzt runter. Jas, schafft der Wagen das?“ Anilas hatte die Führung übernommen und wies sie fort vom breiten Weg. Hier führte ein erdiger Pfad in eine Senke, das Rauschen eines Flusses klang herauf.
„Keine Sorge“, antwortete Jas mit einem Lächeln und ruckte an den Zügeln. Shiak und der Rest hielten Abstand zu den Padai, während der Karren herumschwenkte.
Es war ein recht steiler Abstieg. Die Erde war in Folge des Monsuns abgerutscht und der Weg noch nicht wieder ausgebessert worden. Zum Glück war es nur eine kurze Strecke, dann standen sie auf einer flachen Sandbank an einem Nebenarm der Sheebjana. Der Fluss war hier immer noch breit wie vier, fünf Karren nebeneinander, eine flache, silbrige Straße in einem Wall aus grünem Mauerwerk. Das Unterholz war an den Ufern meist so dicht, dass man das Land dahinter nicht einmal erahnen konnte. Nur Sandbänke wie diese boten einen Zugang.
Auf dem Wasser trieb ein größeres Floss aus Bambus. Es besaß Geländer an den Seiten und hinten in der Mitte ein niedriges, nicht eingerichtetes Häuschen. Ein Mensch mit heller Haut und silbernem Haar stand an der Spitze und drehte das Floß zu ihnen, als er sie erblickte.
„Ikarin“, sagte Anilas. „Das ist unser Flößer.“
Ikarin brummte etwas, das Shiak nicht verstand, und winkte Anilas ungeduldig vor.
Es dauerte ein bisschen, bis die Padai sich auf den schwankenden Untergrund wagten, und dann noch einmal länger, bis Anilas und Jas den Karren gedreht hatten.
„Damit fahren wir?“, fragte Viya leise. Sie hatte bisher beschwingt ausgeschritten, doch nun betrachtete sie das Floß zweifelnd. Kleine Wellen rollten über die grünen Stämme.
„Euer Gepäck könnt ihr ins Haus legen.“
Viya wurde noch blasser. „Und wo sollen wir sitzen?“
„Auf dem Floß.“
Nach und nach traten sie auf die Stämme. Viya betrachtete die niedrige Baumbushütte. „Hier ist es feucht! Dann wird mein Gepäck doch nass.“
„Hast du keinen wasserfesten Beutel?“ Da die Padai angebunden und die Karrenräder verkeilt waren, trat Jas zu ihr.
Viya sah ihn mit großen Augen an. „Nein. Ich wusste nicht, dass ich einen brauche. Sind eure etwa wasserdicht?“
Jas sah kurz in die Runde. Alle nickten.
„Dann legen wir meinen Beutel einfach nach oben“, schlug Viya mit einem Lächeln vor.
„Was habt ihr da überhaupt geladen?“, meckerte Ikarin jetzt. „Ihr seid schwerer als vereinbart.“
„Nun, das sind unsere Vorräte“, erklärte Anilas.
„Vorräte, klar. So liegen wir zu tief im Wasser. Da kann ja jedes Krokodil an Bord kommen!“
„Krokodile?“, fragte Viya.
„Wie bitte?“, fragte Jas. „Das macht ja wohl keinen Unterschied. Wenn hier Krokodile sind und die wider alle Vernunft beschließen, uns anzugreifen, dann …“
Anilas hob die Hand. „Schon gut, Jas.“ Er sah Ikarin an. „Wie viel?“
„Zweihundert Ubun.“
„Gut. Ich werde der Burkhadooi schreiben, dass sie dich auszahlen, sobald …“
„Bar. Jetzt.“ Ikarin stieß den Ruderstab in den Flusssand. „Oder ihr steigt wieder aus.“
Während Jas der Mund aufklappte, wurde Anilas rot und begann, fieberhaft seine Taschen abzuklopfen.
Shiak atmete tief durch. Das war dann wohl ein Wink des Schicksals. Er sollte Sarasi dafür danken. Dass er sich Hals über Kopf diesem Wahnsinn angeschlossen hatte, hätte ihn genauso gut umbringen können. Doch jetzt würde er leben. Anilas konnte nicht zahlen, die Expedition musste abgebrochen werden. Sie alle würden noch mal mit dem Schrecken davonkommen. Viya wirkte besonders erleichtert, ein paar andere – besonders Dhunya und Rikhon – enttäuscht.
„Nun?“, fragte Ikarin spöttisch.
„Wir finden eben einen anderen Flößer!“, schimpfte Asherah. „Einen, der weniger dreist ist.“
„Viel Glück.“ Der Mensch grinste hämisch.
„Es gibt keinen anderen, der bereit ist, nach Tipanyaaris zu fahren“, erklärte Jas unglücklich.
Shiak sah zum Ufer. Würden Anilas und Jas es zu Fuß versuchen? Das konnte er sich beinahe nicht vorstellen, doch falls, würde er sich eben verabschieden. Das wäre unangenehm und peinlich, aber unvermeidlich. Er würde zurückkehren, sich wieder in Yamayini verstecken, sich vom Nachtleben treiben lassen, genau wie zuvor …
Seine Hand streifte den Beutel, den er an der Hüfte trug. Er schloss die Finger darum. Die Kanten der Münzen gruben sich hart in seine Haut.
Dann trat er vor und reichte Anilas den Geldbeutel. „Hilft das?“
Der Mooself sah ihn mit großen Augen an. „Du musst nicht …“
„Das müssten sechzig Ubun sein, vielleicht ein paar mehr.“ Nicht besonders viel, doch es war alles, was er noch hatte. Das musste aber niemand der Gruppe wissen.
„Danke“, murmelte Anilas und legte den Beutel zu den Münzen, die er bereits aus der Tasche gekramt hatte. Kritisch zählte Ikarin das Geld. Währenddessen merkte Shiak, dass es hinter ihm unruhiger wurde. Dhunya und Rikhon stritten mit gedämpften Stimmen. Viya trat mit einem höflichen Lächeln vor und reichte dem Flößer ein kleines, gelbes Amulett. „Der Schutz unserer geliebten Aithara soll dir zur Verfügung stehen, wenn du uns fährst, mein Herr.“
Der Mensch schnappte ihr das Amulett aus der Hand und musterte es kritisch. Er biss darauf. Viya sog scharf die Luft ein.
„Hm, nichtmagisch, kein Silber. Aber lässt sich verkaufen. Sagen wir … fünf Ubun wert.“
Überrumpelt nickte die Priesterin.
Zynon, Giorgio und Asherah zählten alle eine Handvoll Münzen ab und reichten sie eher widerstrebend herüber. Dann trat Rikhon vor und warf eine große Goldmünze auf den buntgemischten Stapel.
„Dinan!“, sagte der Flößer und bekam große Augen. Diesmal wirkte er nach der Beißprobe zufriedener.
„Wie viel fehlt noch?“, fragte der Wabawi großspurig.
„34 Ubun, das wären …“, setzte Anilas ab, aber bevor er umrechnen konnte, reichte Rikhon dem Flößer 40 Dinanmünzen.
Das brachte Ikarin zum Verstummen.
Wenig später waren sie auf dem Fluss. Sie hatten das Gepäck vom Wagen genommen, um unter anderem die beiden Qbakfässer als Sitze zu verwenden, und damit Jas die Gurte der Padai lockern konnte. Während das Wasser zu beiden Seiten plätscherte, saß Shiak am Rand über einen Notizblock gebeugt. Er hatte beschlossen, sich ein paar Notizen zur Reise zu machen, in erster Linie als Hilfe für sich selbst. Als sie abgelegt hatten und ihm klargeworden war, dass er die letzte Chance zur Umkehr verpasst hatte, war sein Atem schneller geworden. Das Gefühl von Pergament und Schreibfeder beruhigte ihn.
Er ließ den Blick über die Gruppe schweifen und brachte ein paar Notizen zu jedem aufs Papier. Angefangen mit Anilas, der diesem Auftrag offenbar mehr beimaß als es das reine Pflichtgefühl eines Forschers verlangte. Er hatte so verzweifelt ausgesehen, als er das Geld nicht zusammenbekommen hatte. Vielleicht hatte das Shiak bewegt, ihm zu helfen …
Jas musste ein guter Bekannter von Anilas sein, vielleicht sogar sein Freund. Die beiden hatten gemeinsam Bestand über ihre Vorräte aufgenommen. Jas gab den Reisenden ein paar Tipps, wie sie sich vor Stechmücken schützen konnten, hin und wieder unterbrochen von Zynon, der die Tipps ergänzte.
„Du kennst dich mit den Pflanzen hier aus, ja?“ Asherah setzte sich zu dem Menschen, der ein Netz aus Pflanzenfasern knüpfte.
„Ich weiß, was essbar und was giftig ist“, brummte Zynon mit einem misstrauischen Blick auf die Schreibunterlagen der yurvatischen Wissenschaftlerin.
„Gibt’s hier eigentlich viele giftige Tiere?“ Dhunya schlenderte grinsend herüber, Rikhon im Schlepptau, der ein bisschen angespannt wirkte. Auch der Wabawi hatte Schreibzeug dabei, wie Shiak sah, allerdings noch nicht zu schreiben begonnen.
„Und essbare Tiere?“ Giorgio setzte sich zu der Gruppe, womit Zynon nun effektiv in der Mitte der Versammlung saß und nicht eben glücklich wirkte. Shiak schmunzelte.
„Auf dem Fluss? Fische und Schildkröten. Manche essen auch Krokodile, aber das ist natürlich …“
„Krokodile?“, unterbrach Dhunya ihn mit gefährlich glänzenden Augen. „Die kann man essen?“
Der erste Tag der Reise verlief ohne größere Zwischenfälle, abgesehen von der Mittagskatatrophe, als Giorgio feststellte, dass sie nur einen kurzen Halt machen würden und die Zeit nicht für ein Kochfeuer reichte. Unter langatmigen Flüchen, zum größten Teil in celyvarisch und damit unverständlich, bereitete er ein paar Brote zu, nachdem Anilas ihn auf die Pause am Abend vertröstet hatte.
Viya dachte außerdem zweimal, ein Ungeheuer im Wasser zu sehen, was sich dann als Stein beziehungsweise als Seetang entpuppte. Dhunya, Rikhon und Zynon versuchten, ein Krokodil zu erlegen, machten dabei aber so viel Lärm, dass sie es glücklicherweise vertrieben.
Als sie am Abend am Ufer anlegten, schulterte Zynon einen Beutel.
„Ich stelle ein paar Fallen auf. Seid vorsichtig, wenn ihr tiefer in den Wald geht, oder sagt mir dann Bescheid. Jas, brauchst du vielleicht noch irgendwelche Kräuter?“
„Du bist doch für’s Kartoffelnschälen eingeteilt“, sagte Giorgio verdattert.
„Bin ich?“ Zynon sah den Koch ratlos an.
„Na, egal. Dann macht Shiak eben beide Beutel.“
Shiak hob den Kopf. „Häh?“ Im nächsten Moment hielt er ein Schälmesser und eine Kartoffel in der Hand. Giorgio besaß zwei kleine Säcke davon aus Lirhajn, und die Kartoffeln mussten weg. Die ersten keimten bereits.
„Ich habe nicht so viel Hunger“, murmelte Viya leise. Sie hatte die ganze Floßfahrt über schon etwas grünlich ausgesehen und mühte sich jetzt damit ab, Karotten kleinzuschneiden, ohne ihre Finger in Mitleidenschaft zu ziehen.
Zufrieden überwachte Giorgio, dass alle Zutaten in den Eintopf kamen, den er aufwändig würzte. Bis das Essen fertig war, waren auch Jas und Dhunya zurück. Jas hatte die Padai ausgeführt und Dhunya sich interessiert angeschlossen, um ihn über die Katzenpferde auszufragen.
Das Abendessen war so lecker, dass man Giorgio das Herumkommandieren verzieh.
„Wir sollten Wachen aufstellen“, schlug Jas schließlich vor.
Shiak richtete sich auf. „Ich kann die erste machen.“ Er brauchte dringend eine solche Gelegenheit allein.
„Dann mache ich die zweite“, bot Rikhon an.
Zynon meldete sich für die dritte.
Jas nickte zufrieden. „Ausgezeichnet.“
Nach und nach suchten sie sich Schlafplätze am Flussufer, weit genug von den Wellen, um eine trockene Nacht zu haben, und nah genug am wärmenden Rest des Feuers.
Nun war er also hier. Er wusste immer noch nicht genau, welcher Wahnsinn ihn trieb, doch ein Teil von ihm war sicher, dass er das Richtige tat. Der Rest von ihm fühlte sich wie im freien Fall.
Shiak sah zu, wie die Glut verlosch. Er wartete, bis alle eingeschlafen waren und schlich an das Flussufer, wo er das Hemd abstreifte und den Binder darunter löste. Befreit atmete er auf, als der spannende Druck nachließ. Leise, um niemanden zu wecken, wusch er den Stoff im Fluss.
⁂
Die Reise der Gruppe blieb nicht unbemerkt. Wie auch, wenn der Geruch nach Vorräten sie flussauf, flussab umwehte und ihre Stimmen weiter hallten als das Kreischen der Affen im Geäst?
Neugierig folgte ein Blick ihnen aus der Tiefe des Waldes, fragte sich, wer diese großen, lärmenden Wesen waren, deren Zug der Neugierige den ganzen Tag über gut orten konnte.
An einem Morgen zog der Geruch der Essensreste den schleichenden Schatten in das abgebrochene Lager. Am Vormittag erst, als das Floß und die große Gruppe mit ihren vielen Gerüchen in einer sicheren Entfernung war. Furcht vor den Fremden hatte ihn zurückgehalten, doch nun lockte ihn dieser köstliche Duft …
Giorgio hätte sich vermutlich gefreut, dass seine Reste noch jemand anderem mundeten. Doch damit hatte die Gruppe ein weiteres Mitglied gewonnen. Ein leises, verstohlenes Mitglied, das dem Floß am Flussufer folgte, ungesehen, ungehört … und hungrig.
⁂
Erstaunlicherweise hatte Ikarin sie nicht vorzeitig vom Floß geworfen, sondern tatsächlich so weit gebracht, wie er konnte. Nach fünfzehn Tagen auf dem Wasser machte der Fluss jedoch einen Knick nach Osten und sie stiegen an einer halbwegs flachen Bucht aus, am Rande eines Salwalds*, dessen Bäume etwas weiter standen als das Unterholz des Dschungels.
Sie hatten den nördlichen Salwald erreicht, in dem sich auch Tipanyaaris befand. Auf dem Fluss hatten sie sich bereits ein gutes Viertel in den Wald hineinbewegt. Nun waren sie mitten im Gebiet des Fluchs.
Zynon erinnerte sich an die Bäume. Auf dem Fluss verlief ein alter Handelspfad, den er oft gezogen war. Die Landstraße war inzwischen überwuchert, aber noch zu erkennen. Junge Salbaumtriebe hatten den Pfad überwuchert, niemand kehrte sie mehr an die Seite. Mit dem Padai-Karren kamen sie nur langsam voran. Schon am frühen Nachmittag ließ Anilas sie an einer lichten Waldstelle halten.
„Macht die Lichtung etwas frei. Und dann ein Feuer.“ Er klang angespannter als die Tage zuvor.
Viya sah mit großen Augen zu, wie Dhunya eine Axt zückte. „Ihr wollt die Bäume töten?“
„Nur die jungen Triebe“, erklärte Jas, was es in Viyas Augen nicht besser machte.
„Wir brauchen Feuerholz“, betonte Anilas. „Feuer hält uns vielleicht diese Kreaturen vom Hals.“
Viya wurde noch blasser. „S-sind die etwa … hier …?“
„Wir sind jetzt im Parabai-Wald. Noch sind wir nicht im Gebiet von Tipanyaaris, aber niemand weiß, wie weit sich der Fluch ausgebreitet hat. Im Westen wird das Gebiet vom Ganabakmas begrenzt – über den Fluss scheinen sie nicht zu kommen. Aber hier liegt nur noch offenes Land zwischen uns und Tipanyaaris.“
Viya war so geschockt, dass sie nicht einmal protestierte, als Dhunya die Setzlinge abzuhacken begann.
„Könnt ihr mal helfen?“, fragte die Zwergin keuchend.
Asherah rümpfte die Nase. „Ich sortiere meine Unterlagen über die Fluchwesen, das ist wichtiger.“
„Du musst einfach nur die Blätter von den Zweigen ziehen und beides auf zwei Haufen sortieren.“
„Nein, danke.“
„Ich mach das“, schlug Jas vor und nahm die Zweige in Empfang, während Dhunya die Yurvatin finster musterte.
Zynon schüttelte den Kopf und wandte sich seiner Tasche zu. Wie jeden Abend machte er sich bereit, die Fallen aufzustellen.
„Stellt die Töpfe dort auf!“, rief Giorgio seinen unfreiwilligen Helfern zu – Viya und Shiak hatte es diesmal erwischt.
„Brauchst du was?“, fragte Zynon den Koch.
Giorgio überlegte. „Eier wären schön. Dann kann ich euch einen richtig guten, shitorischen Reisesnack draus machen!“
„Reisesnack?“ Zynon versuchte, nicht entsetzt zu gucken. Die Portionen des Kochs waren ohnehin schon großzügig (obwohl Giorgio selbst und Rikhon anderer Meinung zu sein schienen), und nun sollten sie auch noch Zwischenmahlzeiten kriegen?
Giorgio nickte begeistert. „Hartgekocht und dann in Gewürzen eingelegt. Fast schon verboten einfach, obwohl ich natürlich ein bisschen was dazutun werde …“
Alkohol vermutlich. Qbak war Giorgios neue Lieblingszutat geworden. Rikhon war hellauf begeistert. Die meisten Experimente des Kochs waren auch ganz annehmbar, aber nicht alle.
Zynon nickte. „Ich werde mal sehen.“
Er machte einen Abstecher zu Jas. „Brauchst du noch was?“
„Vielleicht ein paar Büschel Silberhaargras“, sagte Anilas anstelle des Heilers.
„Gute Idee!“ Jas nickte. „Aber wächst das hier?“
Anilas nickte. Dann murmelte er. „Also … denke ich mal.“
„Wächst hier“, brummte Zynon. Er war immerhin in diesen Wäldern aufgewachsen.
„Was ist Silberhaargras?“
Zynon unterdrückte ein Stöhnen. Asherah war neben ihnen aufgetaucht, Notizblock gezückt.
„Es ist ein guter Zusatz für Heilsalben, weil es ähnlich wie Alkohol desinfiziert und reinigt“, erklärte Jas lächelnd.
Zynon nutzte die Gelegenheit, um die drei allein zu lassen. Er trat die Flucht in den Wald an, vorbei an der Grube, die Anilas vorbereitet hatte. Die würden sie auch noch ausheben müssen, denn irgendwo musste man sich ja erleichtern. Noch etwas, bei dem Viya beinahe in Ohnmacht gefallen war, als sie es erfahren hatte. Die Priesterin war absolut nutzt los im Dschungel. Zynon musste nur widerwillig anerkennen, dass sie immer noch nicht umgekehrt war und wenig jammerte. Sie gab an, alles Leid zu ertragen, dem ihre Göttin sie aussetzen wollte. Leid! Ein paar Nächte im Freien statt im Seidenbett einer Priesterin!
Zynon atmete tief durch, um den Ärger zu bekämpfen. Er war im Wald, er musste wachsam sein. Hier draußen gab es nicht nur Tiger und Krokodile, Schlangen, Spinnen und Giftfrösche, sondern womöglich auch die Kreaturen, die der Fluch von Tipanyaaris geschaffen hatte.
Er kannte einige der Geschichten, und das war genug, um den Zorn auf seine verrückten Reisegefährten in den Hintergrund zu drängen. Unsterblich sollten die Fluchkreaturen sein – würden sie getötet, heilten sie sich am Abend einfach. Sie setzten sich sogar wieder zusammen, wenn sie zerstückelt worden waren, weshalb es keinem Forscher gelungen war, eine Probe aus den Wäldern mitzubringen.
Es gab Berichte von riesigen Schlangen, lebendigen Böden, tödlichen Pflanzen und riesigen Skorpionen. Und natürlich dem Tigerkoi, dem Kaiser der Ungeheuer. Ab jetzt würden andere Gesetze gelten als die Regeln der Dschungel, die Zynon kannte. Ab jetzt würde alles gefährlich sein.
Er achtete darauf, in Hörweite des Lagers zu bleiben, während er Falle um Falle aufstellte. Zwar nutzte er sie in erster Linie, um etwas Beute zu machen, doch ihn beruhigte auch die Aussicht, dass ein Ring aus Schlingen ihr Lager während der Nacht zusätzlich schützen würde.
Er war beinahe fertig, als er einen weißblühenden Baum bemerkte, und den charakteristischen Duft der Apfeltrauben-Blüten roch. Er untersuchte das niedrige Bäumchen, aber an den Zweigen hingen noch keine Früchte – was zu erwarten gewesen war. Die Regenzeit hatte gerade erst begonnen.
Ohne Apfeltrauben, Silbergras oder Vogeleier kehrte er zur Gruppe zurück.
Im Lager war Giorgio dabei, in einem großen Kessel zu rühren und fleißig zu würzen. Für heute hatte er eine celyvarische Spezialität angekündigt. Es roch nach Nudeln und Tomaten, und Zynon wunderte sich, wie der Käse dazu passte, den Giorgio mit hineinwarf. Es war nicht mal leckerer Käse, sondern ein richtig intensiver. Im Laufe der Reise hatte er durch Giorgio einen Haufen exotischer Gerichte kennengelernt, allen voran die unzähligen Nudelsorten seiner Heimat. Normalerweise war Zynon beim Essen recht anspruchslos, doch inzwischen sehnte er sich nach einer vertrauten Reisplatte.
Die meisten warteten gespannt auf das Essen, nur Shiak hatte sich einen Platz an der Seite gesucht und machte einige Bewegungsübungen mit seinem Katana. Die schmale Klinge der Waffe schimmerte in der Dunkelheit silbrig. Das war wohl irgendein magischer Elfenschnickschnack. Zynon konnte sich nicht vorstellen, wie das Leuchten auf der Jagd oder im Kampf nützlich sein sollte.
Er ließ sich auf den Boden sinken und zeigte Jas die leeren Hände. Der Heiler bemerkte das selbst während seines Gesprächs mit Viya und nickte ihm zu.
Jas war in Ordnung. Für einen Elfen. Er verstand es, auch mal die Klappe zu halten. Ganz anders als Giorgio und Rikhon. Der Koch unterhielt den Wabawi gerade mit einer Anekdote über ein verpatztes Essen. Offenbar war das zu einer Zeit gewesen, als Giorgio noch in Celyvar als Koch angestellt gewesen war, auf einem größeren Gutshof. Eines Tages wurde hoher Besuch erwartet und alles musste perfekt sein. Natürlich ging an diesem Tag alles schief, auch in der Küche. Eine Entwicklung führte zur anderen, und nach einer langen Folge zerbrochener Teller, überkochender Töpfe und verschwundener Zutaten hatte Giorgio die Hälfte seiner Assistenten gefeuert und konnte das Essen trotzdem nicht retten.
Seine lebendige Erzählweise erntete Gelächter. Zynon fand allerdings, dass sich Giorgio das meiste selbst zuzuschreiben hatte. Er scheuchte seine Assistenten viel zu viel herum und ging zu selbstverständlich davon aus, dass er alle spannenden, aber keine der schwierigen Arbeiten übernehmen müsste. War das etwas, das den Koch sympathisch machte? Zynon konnte seine Reisegefährten nicht verstehen.
Andererseits, wen hatte er denn auch hier vor sich? Die naive Priesterin, die vorher noch nie alleine im Wald gewesen war, zwei verrückte Abenteurer, eine komische Wissenschaftlerin, die irgendwas von ihrem yurvatischen Gott faselte, den schweigsamen, magielosen Shiak und schließlich mit Anilas und Jas zwei Gruppenanführer mit eigenen Dämonen, die ihre Urteilskraft trübten. In Jas‘ Fall seine Frau und bei Anilas wusste Zynon es noch nicht. Kurz gesagt: Sie waren keine gute Jagdgruppe. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebten.
Giorgios Geschichte schrieb Rikhon in ein kleines Buch. Als das Essen verteilt war, verkündete er: „Als Dank für deine Geschichte, Giorgio, will ich auch etwas erzählen. Eine Geschichte, von der ich auf Wajbaqwinat gehört habe. Darin geht es um Sanya**, eine große Händlerin der Assai. Sie war sehr berühmt unter Indianern und Siedlern für ihr Handelsgeschick. Eines Tages jedoch geschah ein Unglück und sie verlor ihre Waren. Gerade dann kam eine Siedler-Händlerin vorbei und verspottete Sanya. „Ich hörte, du wärst die größte Händlerin von allen Assai! Und doch sehe ich dich hier ohne alles.“ „Ich bin sehr wohl die Größte“, sprach Sanya. „Und ich kann es dir auch beweisen. Doch freilich nicht ohne ein Handelsgut. Magst du mir wohl für den Zweck der Vorführung deine Waren leihen?“ Die Händlerin ging darauf ein …“
Zynon lauschte essend, wie Sanya mit einer ziemlich durchschaubaren Masche noch den Wagen und das Gold der Händlerin ‚auslieh‘.
„Und dann sprach Sanya: „Aber wieso zweifelst du noch? Ich habe alles von dir bekommen und nichts gezahlt. Wo könntest du einen beeindruckenderen Handel finden?“ Und damit ritt sie von dannen.“
„Grandios!“ Giorgio prustete laut. „Diese Sanya hätte mir gefallen.“
„Solange sie nicht gerade bei mir einkaufen will“, murmelte Dhunya.
Giorgio sammelte die leeren Teller ein und reichte sie an Viya zum Spülen.
„Ich übernehme die erste Wache“, sagte Shiak.
„Nein, das mache ich“, brummte Zynon. „Wir müssen ab jetzt besonders vorsichtig sein.“
„In Ordnung“, murmelte der Elf verdutzt. „Dann mache ich die zweite Wache.“
⁂
Shiak weckte ihn pünktlich nach Mitternacht. Jas danke dem Mooselfen mit einem Nicken, quälte sich aus der warmen Decke und hockte sich bibbernd in den Schatten eines Salbaums.
Die Nacht war schwülwarm, aber es ging ein feuchtkalter Wind. Jas ließ die Decke jedoch liegen. Er wollte nicht riskieren, wieder einzuschlafen, weil er sich zu behaglich fühlte.
Währenddessen ließ er den Blick über den nächtlichen Dschungel wandern. Er hörte Geraschel in den Ästen über ihnen, doch das waren nur kleinere Tiere, die sich auf Beutefang begeben hatten. Im schwachen Lichtschimmer sah er auch Skorpione und Schlangen, die sich quer über den Lagerplatz bewegten. Eine große, gelbliche Spinne ließ er nicht gewähren, sondern stand leise auf und scheuchte sie mit einem Ast zurück in den Dschungel. Es gab zwei relativ ähnliche Arten, von denen eine hochgiftig war, die andere harmlos, und er hatte das Gegengift für die gefährlichere Art nicht dabei. Da wollte er kein Risiko eingehen. Bei den restlichen Tieren machte er sich jedoch wenig Sorgen. Sie würden an den Schlafenden vorbeikrabbeln, ohne überhaupt zu merken, dass es lebende Wesen waren, und wieder im Dschungel untertauchen. Es bräuchte schon einen extrem unglücklichen Zufall, dass jemand von ihnen gestochen wurde.
Langsam schimmerte der Himmel grau, dann krochen die Farben nach und nach über die Baumkronen. Jas genoss die friedliche Stille, die von den Rufen früher Papageien und dem Schnarchen des ein oder anderen Schlafenden durchbrochen wurde.
Shiak und Zynon gehörten normalerweise zu den Frühaufstehern, doch beide waren offenbar noch müde nach ihrer Wache. So war es Giorgio, der als erster aufwachte, gähnte, sich streckte und dann laut mit Töpfen und Pfannen herumklapperte, als er das Geschirr einsammelte, das neben ihm getrocknet hatte.
„Du bist heute dran mit helfen“, teilte er Jas mit.
„Aha.“ Jas nickte wenig begeistert. So langsam erkannte er die Regelmäßigkeit hinter Giorgios Helferplan. Reihum war jeder der Mitreisenden eingeteilt – ob sie wollten oder nicht. „Was machen wir denn heute?“
„Ich schwanke noch zwischen einem raffinierten Fisch-Ratatouille und vinpallischen Smørrebrød. Vielleicht auch nur ein einfacher Eintopf mit etwas Gemüse …“
Jas nickte. Dabei wusste er nicht, was er sich unter Ratatouille oder Smørrebrød vorstellen musste. Offensichtlich wollte Giorgio aber den Fisch verwenden, den sie auf dem Floß gefangen hatten.
„Ich gehe mir mal etwas die Beine vertreten“, sagte er zum Koch und stand auf. Giorgio hatte das Lager nun im Blick und Jas zog es in den Wald. Er berührte das Amulett um seinen Hals vorsichtig.
Zunächst musste er sich durch den Fallenring schlängeln, den Zynon aufgestellt hatte. Die meisten Fallen waren extrem gut getarnt, doch der Mensch hatte ihnen gezeigt, woran sie die Schlingen und Fallgruben erkennen konnten. Jas ging langsam und wich den Fallen aus.
Er bemerkte einen Muntjakbock*** in der Nähe einer der Fallen, der Jas‘ Schritte jedoch hörte und die Flucht ergriff. Kolibris schwirrten unter den hohen Blättern. Irgendwo kreischten Papageien.
Jas sah sich noch einmal um, dann kniete er sich auf eine kleine Lichtung und zog das Amulett der Verbundenheit ab, um es in den hohlen Händen zu betrachten. „Hallo Lavinya“, flüsterte er auf den runden Stein in der Fassung des Amuletts. „Ich bin es wieder. Ich weiß, ich habe mich die letzten Tage nicht so oft gemeldet. Es war eine ziemlich anstrengende Reise, aber es ist nichts Besonderes passiert. Also, außer, man fragt Viya. Wann immer sie Wache hat, ist schon vorprogrammiert, dass sie uns wegen irgendeinem Tier wecken wird.“ Er lachte leise. „Sie würde dir sicherlich gefallen. Ein herzensgutes Mädchen, aber wie ich ja schon sagte, sie ist etwas überängstlich. Sie kennt den Dschungel halt nicht.“
Er unterbrach sich und sah sich um. Irgendwo hatte etwas im Gebüsch geknistert, doch niemand der anderen schien in der Nähe zu sein.
„Wir sind auf jeden Fall jetzt nicht mehr auf dem Fluss“, erzählte er weiter. „Ab jetzt müssen wir zu Fuß reisen. Ich hoffe, dass ich Mineys und Acadhisa weiter mitnehmen kann. Manche der Wege sind sicherlich zu schmal für einen Karren, aber ich will die beiden nicht freilassen müssen. Anilas möchte aber vielleicht auch keine riesigen Umwege für zwei Katzenpferde gehen.“ Er lächelte traurig. „Du würdest es verstehen, nicht wahr? Diese Padai habe ich schon, seitdem sie Fohlen waren. Sie gehören sozusagen zur Familie.“ Jas sah auf das Amulett. Einen Moment versagte seine Stimme, ehe er hauchte: „Ich bin dir schon ganz nah, Lavinya. Ich hoffe, du kannst mich hören. Ich komme zu dir, mein Herz.“
Er umklammerte das Amulett so fest, dass dessen Kanten in seine Handflächen schnitten. Doch das Amulett blieb stumm. Wehmütig sah Jas auf den erloschenen Stein.
Es war sicherlich nur eine temporäre Störung. Er verdrängte die Zweifel, die ihn überkommen wollten, ihm einreden wollten, dass das Amulett tot war, und Lavinya mit ihm. Das würde er erst glauben, wenn er ihre Leiche gesehen hätte!
Er legte die Kette wieder an und kehrte zum Lager zurück. Die beiden Padai hatte er etwas abseits mit schweren Ketten an einen Baum gebunden. Ihnen war genug Bewegungsfreiheit geblieben, um in der Nacht zu jagen. Als er zu ihnen trat, weckte er sie mit einem leisen Pfeifen – Padai sollte man besser nicht erschrecken. Sobald die beiden Katzen ihn anblinzelten, strich er durch ihr Fell, kontrollierte die Ketten und ihre Zähne. Er fand keine Wunden, aber Anzeichen, dass sie irgendein felliges Tier gerissen hatten.
„Sehr schön. Ein weiterer Tag Trockenfutter gespart.“ Er klopfte Acadhisa auf die Kruppe. „Dann werdet mal wach.“ Er ging wieder. Die Geschirre würden die beiden erst nach dem Frühstück angelegt bekommen.
Auf dem Rückweg zum Hauptlagerplatz hörte er plötzlich ein lauteres Rascheln. Er wendete den Blick zur Seite und fand sich Auge in Auge mit einem Wolf.
Der Schreck prickelte über Jas‘ Wirbelsäule.
Das schwarze Tier hing allerdings im Baum, kopfüber. Auf den zweiten Blick erkannte Jas, dass der Hinterlauf des Wolfs in einer von Zynons Schlingen hing.
Das Tier fletschte die Zähne, als es sicher war, dass Jas es gesehen hatte, und warf sich nun knurrend hin und her, nachdem er vorher stillgehalten hatte, vielleicht, um nicht aufzufallen. Mit heftigen Bewegungen versuchte der Wolf, das Seil um seine Hinterläufe zu erwischen.
Er war ungewöhnlich dunkel. Schwarz, nicht sandfarben wie die normalen Wölfe des Dschungels. Hier und da blitzte etwas Rot auf. Vielleicht eine Wunde, vielleicht eine Musterung.
„Ruhig, ganz ruhig!“ Jas sprach genauso, wie er mit einem gereizten Paidokolos sprechen würde. Vorsichtig hob er die Hände, um dem Tier zu zeigen, dass er unbewaffnet war, während er überlegte, wie er den Wolf befreien könnte. „Ich tue dir nichts.“
Als er einen Schritt vor machte, ließ sich der Wolf hängen, suchte mit den Vorderpfoten nach Halt und drohte mit den Zähnen. Jas ließ sich vorsichtig in die Hocke sinken. „Zeig mir mal deine Augen, Großer.“ Er sah konzentriert hin.
Das Verhalten des Wolfs war ihm merkwürdig vorgekommen, und in den Augen des Tieres fand er seinen Verdacht bestätigt. Sie bewegten sich zu flink. Das Tier musterte Jas‘ Gesicht, seine Hände, und hielt nach Waffen Ausschau. Es wusste, mit welchen Waffen Erdwesen kämpften. Ein normaler Wolf wüsste das nicht.
„Hallo mein Freund. Kannst du mich verstehen?“
Der Wolf knurrte.
„Offenbar verwildert“, erkannte Jas. Aber der Wolf war ein Gestaltwandler, ohne Zweifel. Es war nicht der erste verwilderte Wandler, der Jas begegnete. Vor Jahren hatte er einmal einen gepflegt, zusammen mit Lavinya.
Er berührte das Amulett. Die magische Kette schwieg zwar, doch Lavinya hatte ihm trotzdem ein Zeichen gesandt.
Der Gestaltwandler knurrte ihn immer noch an. Vorsichtig hielt Jas die Hand vor und ließ den Wolf daran schnuppern. Das Tier schwang am Seil zur Seite und schnappte nach ihm.
Jas hatte damit gerechnet. „Oh nein, heute nicht. Beruhig dich, mein Kleiner. Deine Pfote sieht aber schmerzhaft aus. Du hängst da schon eine ganze Weile, oder?“
Wie zur Antwort japste der Wolf. Er war selbst für einen dhubyanischen Wolf ungewöhnlich mager. Jas zögerte und tastete seine Taschen ab. Er hatte eigentlich immer etwas Trockenfleisch als Leckerchen für die Padai dabei. Jetzt zog er einen Streifen hervor und zeigte ihn dem Wolf. „Hier, Futter. Ich bin kein Feind, ich gebe dir Futter.“
Der Wolf hielt inne und schnupperte. Er musste hungrig sein. Vielleicht hatte der Geruch ihrer Vorräte ihn so nah ans Lager gelockt.
Vorsichtig reichte Jas das Fleisch herüber. Wieder schnappte der Wolf nach ihm, und Jas warf ihm das Fleisch zu. Es landete im Maul des Tieres, das verdutzt kaute.
Jas lächelte. „Sehr schön. Und während du beschäftigt bist …“ Er huschte an dem hängenden Wolf vorbei und war mit zwei schnellen Schritten am Stamm, packte einen Ast auf Kopfhöhe und schwang sich nach oben. Er zog sein kleines Messer hervor und streckte den Arm nach dem Seil aus, an dem der Wolf hing.
Das Tier warf sich so wild hin und her, dass die Schlinge in sein Bein einschnitt. Es hatte die Klinge erblickt. Panisch schnappte der Wolf nach Jas. Der Stamm schützte ihn vor dem tobenden Wandler, aber die Zähne kratzten einmal über den Ast, dicht an Jas‘ Arm.
„Halt still!“, rief er dem Wandler zu. „Ich tue dir ja nichts. Gib mir nur einen Moment …“
Wieder drehte sich der Wolf an der Schlinge nach oben. Jas riss den Arm mit dem Messer zurück. Ratlos durchsuchte er seine Taschen. Der Wolf war zu aufgebracht, um sich bestechen zu lassen, doch was sollte er tun? Der Wandler hing sicherlich schon die halbe Nacht in der Falle.
Dann blieb der Wolf allerdings hängen. Jas hörte nur noch erschöpftes Japsen.
Er nutzte die Chance sofort und zersägte das Seil mit ein paar schnellen Schnitten.
Der Wolf fiel dumpf auf den Boden. Jas spähte vorsichtig aus dem Baum. Unten regte sich das magere Tier nicht.
„Geht es dir gut?“, fragte er leise.
Der Wolf spitzte die Ohren und rappelte sich auf. Etwas ungeschickt taumelte er fort vom Lager, geduckt und die Schlinge noch immer am Hinterlauf. Das Tier sah einmal zurück, ehe es im Gebüsch untertauchte.
Jas atmete auf. Die Schlinge würde der Wolf abbeißen können. Vermutlich war er nur erschöpft, nachdem er sich die ganze Nacht über hatte befreien wollen. Besonders stark gehumpelt hatte er jedoch nicht.
Er kletterte langsam aus dem Baum und sah dem Wandler lange nach. Was für ein merkwürdiger Zufall! Während seiner Studienzeit war es gewesen, dass er zusammen mit Lavinya einen verletzten Wandler gepflegt hatte. Der hatte sich gar nicht zurückgewandelt und war mehr oder weniger wie ein Tier gewesen, doch Lavinya hatte die Intelligenz in seinem Blick erkannt und Jas beigebracht, wie man Wandler von gewöhnlichen Tieren unterschied.
Der Wandler damals war eines Tages abgehauen. Lavinya hatte sich noch Jahre später unheimliche Vorwürfe gemacht, weil sie ihm nicht besser geholfen hatten.
„Es war nicht deine Schuld“, hatte Jas ihr dann immer gesagt.
War der Wolf ein Zeichen, dass es seine Schuld war? Er hatte Lavinya und ihre Töchter im Stich gelassen. Und erst jetzt kam er sie suchen.
Er berührte das Amulett erneut. „Ich finde dich“, flüsterte er. „Halte durch. Nur noch ein bisschen.“
Als er diesmal beim Lager eintraf, waren die anderen schon wach und Giorgio verteilte Kaffee, ein castianisches Getränk, dem Jas nicht besonders viel abgewinnen konnte. Doch es machte wach. Er nahm seinen Becher entgegen und trank vorsichtig.
„Wir hatten einen Wolf in der Falle“, erklärte er dem Rest der Gruppe seine Verspätung.
„Ein Wolf?“, piepste Viya.
„Das sind aber keine Qutrubs****, oder?“ Das war Dhunya.
„Ein gewöhnlicher, dhubyanischer Wolf“, sagte Jas. Dass es sich um einen Wandler gehandelt hatte, mussten die anderen ja nicht unbedingt wissen. „Ich habe ihn losgeschnitten und er ist weg.“
„Ist er wirklich weg? Ich habe gehört, dass sie immer wieder Menschen anfallen.“ Die junge Priesterin sah mit großen Augen in den Wald.
„Der war wohl eher hinter unserem Essen her. Und er beweist, dass Zynons Fallen ein zuverlässiger Schutz sind.“ Jas lächelte ihr beruhigend zu.
„Wir haben jetzt zwei Optionen“, verkündete dann Anilas, der offenbar nur auf ihn gewartet hatte. „Wir sind ziemlich nah an der Küste. Dort kämen wir vielleicht schneller voran, vor allem könnten wir uns nicht verlaufen. Allerdings ist es ein Umweg. Selbst mit dem Vorteil der schnelleren Reise wären wir vermutlich ein paar Tage länger unterwegs. Die Alternative wäre, direkt nach Norden zu ziehen. Solange nichts Unvorhergesehenes geschieht, wären wir dann in acht bis neun Tagen beim Dorf Tipan Dheeristos. Sonst müssten wir vermutlich mit zwölf Tagen Reise rechnen.“ Anilas holte tief Luft. „Das ist natürlich vor allem eine Frage der Vorräte. Wir haben genug für zwei Monate, aber jeden Tag, den wir einsparen, können wir dann länger forschen. Und es ist immerhin unser Ziel, den Ursprung des Fluchs zu finden und ihn, wenn möglich, zu brechen. Oder ein Heilmittel zu entwickeln. Oder was auch immer.“
Anilas sah in die Runde.
„Trotz allem müssen wir vorsichtig bleiben. Ich weiß allerdings nicht, welcher Weg weniger gefährlich ist. An der Küste käme die Gefahr nur von einer Seite, vom Landesinneren. Aber vielleicht drängen sich dort mehr Kreaturen, die nicht weiter ausweichen können, während sie an allen anderen Richtungen mehr Freiraum haben. Wir wissen es nicht. Deshalb will ich diese Entscheidung mit euch zusammen treffen.“ Anilas legte die Hände zusammen. „Wohin wollt ihr weiterziehen? Durch den Dschungel oder an die Küste?“
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*Salbäume: Das sind reale Laubbäume, die in Indien verbreitet sind.
**Die Geschichte von Sanya beruht auf dem Märchen „Roter Saynday trifft Weißen Saynday“ der Kiowa: Saynday ist dort eine trickreiche Gestalt vieler Geschichten. In diesem Märchen trifft er einen Weißen, der von ihm gehört hat und nicht glaubt, dass Saynday tatsächlich so besonders ist. Der Held ist mittellos unterwegs und bittet um Kleidung, Waffe und Pferd des Weißen, da er ihm sein Können sonst ja nicht beweisen kann. Und reitet dann davon.
***Muntjak: Eine reale Tierart aus Indien, kleine Hirsche.
****Qutrubs sind Kojotenwesen aus Wajbaq. Sie sind untot, eine Mischung aus Ghul/Vampir und Wolf. Spieler aus dem P&P hassen sie.