Kapitel 6: Der gefürchtete Schuppenbär
Das Knurren kam näher. Asherah zog ihren Säbel und betrachtete die Lichtung konzentriert. Die Klinge zitterte leicht in ihrer Hand.
Sie hatten sich auf und vor dem Karren postiert. Jas versuchte verzweifelt, eine Fackel zu entzünden, doch der Feuerstein in seinen Händen schlug keine Funken. Zu dem klirrenden Geräusch der aufeinanderschlagenden Steine gesellte sich Viyas leises, schluchzendes Beten. Sie kauerte im Wagen zwischen den Fässern, Giorgio ebenso.
Dort waren sie immerhin in Sicherheit. Zynon hatte wenig Erfahrung darin, mit anderen zu kämpfen. Jäger blieben meist unter sich. Unter anderen Umständen wäre er der Kreatur aus dem Weg gegangen, wenn möglich, vielleicht auf einen Baum geklettert. Das kam natürlich nicht in Frage. Er musste bei den anderen bleiben. Shiak und Asherah standen beide mit gezogenen Schwertern auf dem Karren. Shiaks Klinge schimmerte leicht, ein schwacher Silberstrahl unter dem Blätterdach. Beide schienen nicht zuversichtlich, der Bestie mit Schwertern beizukommen, aber bereit, es zu versuchen.
Die Schritte im Wald umkreisten sie. Was auch immer das Tier war, es griff nicht direkt an. Hin und wieder hörten sie ein Brüllen, das von einem Bär stammen könnte.
Aber es war nicht nur ein Bär. Das hatten die Spuren bewiesen. Wer wusste, was für eine kranke Mutation es war, die Bäume entwurzeln konnte und diese langen Klauen besaß.
Zynon zuckte zusammen. Die Krallen. Etwas daran kam ihm bekannt vor. Er musste einmal ähnliche Spuren gesehen haben, nur wo?
„Wisst ihr noch etwas über das Wesen?“, fragte er Asherah, ohne den Wald aus den Augen zu lassen.
„Wir haben es nicht gesehen.“ Sie antwortete umgehend. „Wir sind geflohen, als es näher kam.“
„Es will unser Essen!“, wimmerte Giorgio im Wagen. „Unser schönes Essen!“
„Wir haben versucht, einen Köder auszulegen“, erklärte Asherah. Zynon sah zwar nicht zu ihr, doch er hörte das Augenrollen in ihrer Stimme.
Der Gedanke war gar nicht so übel – vielleicht wollte die Bestie nichts von ihnen. Vielleicht – nur vielleicht – war das Wesen auf etwas anderes aus. Bären waren allgemein sehr scheu, nur Essensreste lockten sie manchmal an.
Aber er hatte befohlen, keine Nahrung mehr zurückzulassen. Wenn sich Giorgio nicht daran gehalten hatte, würde Zynon ihn umbringen!
Dafür wäre aber später Zeit. Seine Gedanken rasten. Und dann, auf einen Schlag, setzte sich das Bild aus allein Einzelteilen zusammen.
Ein Krachen erklang im Wald. Lauter als die Schritte oder Schläge – und es kam rasch näher.
Er ächzte auf. „Ich weiß, was es ist! Ihr müsst mir vertrauen!“
⁂
„Was ist es?“, fragte Jas sofort, aber Zynon antwortete nicht. Er löste die Bremsen des Karrens. „Haltet euch fest!“
Das Gefährt rollte los, als die Padai vorwärts sprangen. Jas konnte sich im letzten Moment auf den Wagen werfen. Asherah und Zynon landeten neben ihm.
„Was soll das?“, brüllte Asherah.
Die Antwort folgte, als Bäume umfielen. Krachend stürzten sie auf die Lichtung, dann rollte eine Art braune Kugel aus dem Gewirr der fallenden Stämme und walzte dorthin, wo der Wagen eben noch gestanden hatte. Die Bäume hinter ihrer Position wurden umgerissen, als die Kugel hineinkrachte. Wären sie noch dort gewesen, wären sie tot.
Der Ansturm kam knapp hinter ihrer alten Position zum Stocken. Ähnlich wie der Wagen. Ein Ruck schmiss sie beinahe ab und die Padai kreischten gereizt. Jas wirbelte herum. Ein Rad musste sich verkeilt haben. Mineys und Acadhisa miauten schrill vor Angst, dann pressten sie sich in ihren Geschirren an den Boden, die Augen dunkel und geweitet, die Ohren angelegt.
Es war absolut still geworden, abgesehen von Viyas leisem Wimmern. Die Fässer auf dem Karren waren durcheinander gerollt, aber Viya und Giorgio schienen noch unverletzt zu sein.
Jas sah zurück zur Lichtung, die jedoch von Stämmen übersät war. Es sah aus wie nach einem Trupensturm.
Ein schwaches Rasseln drang an seine Ohren. Dann der schwere, weiche Tritt von Tatzen.
„Das Fluchwesen“, hauchte Zynon.
Es kam um einen Baum herum. Jas wurde davon überrascht, wie klein das Tier war. Es schien ein Bär zu sein, nur so groß wie ein Panda. Aber statt Fell war er mit dichten, braunen Schuppen besetzt. Die etwas längeren Vorderbeine hatten lange Klauen, die das Wesen eingerollt hatte. Der Kopf war etwas zu lang und schmal für einen Bären, jedoch mit einem breiten, zahnbewehrten Kiefer. Viele der Zähne standen schief ab, Anzeichen für die unheiligen Experimente, die dieses Leben erschaffen hatten.
Hinter der Kreatur strich ein ebenfalls schuppenbewehrter Schweif durch die Luft. Drohend hob das Wesen diesen in die Luft.
„Wir müssen hier weg!“, rief Zynon und durchbrach damit die Stille. „Wenn es sich zusammenrollt, sind wir Geschichte.“
Er verstand nicht ganz, was Zynon meinte, doch die Panik in der Stimme des Jägers war offensichtlich.
Jas sprang vom Wagen und suchte nach dem verkeilten Rad. Asherah landete neben ihm. Eine Wurzel hatte die Speichen durchstoßen.
„Wir müssen ihn anheben“, rief Jas. „Auf drei! Eins …“
Weiter kam er nicht, denn das Wesen schlug mit dem Schwanz wie mit einer Keule zu. Ein Pfeifen der verdrängten Luft erklang. Der Schlag verfehlte den Karren nur um eine Handbreite, doch der merkwürdige Bär trat vor und stieß ein drohendes Brüllen aus.
„Drei!“, rief Asherah und versuchte, den Wagen anzuheben. Jas stand ihr bei, doch nichts rührte sich.
„Vorsicht!“ Zynons Ruf kam zu spät, denn splitternd brach das Wagenheck unter dem nächsten Hieb. Jas sah nicht zurück, sondern stemmte sich noch stärker in den Wagen, als Asherah plötzlich wegging.
„Was hast du …?“
Ihr Säbel fuhr krachend neben ihm nieder und durchtrennte die Wurzel. Die Padai rissen an den Zügeln und jagten mit dem Wagen los. Jas stolperte und fiel auf die Erde.
Er drückte sich sofort wieder nach oben.
„Jas!“, schrie Asherah. Er sah sie auf dem Wagen. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, doch Minerys und Acadhisa zogen das Gefährt zu rasch von ihm weg.
Er wirbelte herum. Der geschuppte Bär befand sich direkt hinter ihn und starrte ihn wütend an. Stolpernd wich Jas zurück. Der Bär setzte ihm schnaufend nach. Besonders schnell war er nicht – nicht so, wie als er die Bäume entwurzelt hatte. Aber Jas gab sich keinen Illusionen hin: Diese Krallen könnten ihn zerfetzen.
Das Rumpeln des Karrens und die Schreie seiner Freunde nahm er kaum wahr, bevor sie sich entfernten. Er lief rückwärts, stolperte und fiel. Der Bär richtete sich brüllend auf.
Eine Hand packte seine Schulter. Jas schrie auf, als ihn jemand zur Seite zerrte. Er kam auf die Beine und erkannte Zynon, mit Erde und Blättern bedeckt. Der Jäger musste vom Wagen gesprungen sein. Jetzt packte er Jas‘ Arm und zerrte ihn mit sich in die Wildnis, dem Karren hinterher. Der Bär brüllte ihnen nach.
⁂
Dhunya riss den Kopf herum wie ein Jagdhund. „Habt ihr das gehört?“
Rikhon packte seinen Revolver fester. Seine Kiefermuskeln traten vor, während er angespannt nickte. „Die Bestie.“
Sie tauschten einen kurzen Blick, dann rannten sie mit gezückten Waffen los, so schnell, dass Anilas kaum hinterher kam. Der Lärm wurde immer deutlicher, je weiter sie rannten, obwohl Dhunya wie ein angreifender Elefant durch das Unterholz stürmte. Dann erklang erneut das Brüllen, das sie auch vorher alarmiert hatte. Es klang nach einem wütenden Bären. Rikhon hatte wenig Erfahrung im Kampf gegen Bären, aber Hyänen, Qutrubs und Wüstenlöwen hatte er mehr als genug getötet. Er empfand keine Angst, während er sich ein letztes Mal versicherte, dass sein Revolver geladen war.
In diesem Moment stürmte Dhunya mit lautem Gebrüll an ihm vorbei. Die genauen Worte kannte er nicht, aber er hatte den Ruf schon häufiger gehört. Irgendein zwergisches Schlachtgebrüll.
Ein ähnliches Gebrüll antwortete ihnen. Rikhon hörte Stämme splittern, dann sah er einige der mächtigen, grünen Blätterwolken stürzen. „Es ist gleich da vorne!“
„Wartet!“, rief Anilas, doch niemand achtete auf ihn.
Die Kreatur schien sich in gerade Linie durch den Urwald zu bewegen. Ihr Angriffspfad traf in nahezu rechtem Winkel auf den Weg des Monstrums, der sich ihnen als Schneise umgestürzter Bäume offenbarte. Als Rikhon Dhunya in diese Schneise folgte, sah er gerade noch einen kurzen, braungeschuppten Stummelschwanz, der am Ende der Schneise zwischen die Blätter glitt. Angesichts ihrer Zerstörungskraft war es surreal, dass die Bestie sich auch einfach so zwischen den Bäumen hindurchschlängeln konnte.
„Was ist das für ein Vieh?“ Dhunya keuchte schwer nach dem kurzen Sprint – kein Wunder, sie trug auch in bester Zwergenmanier einen halben Krämerladen mit sich herum. „Ein Schlangenbär?“
„Irgendwas Geschupptes.“ Rikhon rannte an ihr vorbei. Dann brüllte er aus vollen Kräften: „Hey! Mistvieh!“
Den Schlag sah er nicht kommen. Er lief zwischen zwei Bäumen hindurch und befand sich plötzlich unmittelbar vor der Bestie. Das braune Wesen bäumte sich vor ihm auf, die Pranke traf ihn direkt in den Bauch.
Er wurde durch die Luft gewirbelt und prallte gegen einen harten, schmalen Widerstand – den Stamm eines Salbaums. Als er auf der Erde aufschlug, erklang Dhunyas Schrei.
Sein Kopf dröhnte. Der Wald verschwamm vor seinem Blick. Rikhon stützte sich auf der Erde ab und stellte fest, dass seine Arme zitterten. Einen Atemzug später war all das nicht mehr wichtig, weil stechende Schmerzen durch seine Bauchdecke jagten. Er blickte herab und sah drei lange Schnitte in seinem Hemd und Blut auf der Haut darunter.
Ächzend ließ er sich zurückfallen. Sein Rücken protestierte gegen die Erschütterung. Mit bebenden Fingern bewegte er die Hände, unschlüssig, ob er sie auf die Wunde pressen sollte oder besser nicht.
„Rikhon!“ Dhunya stürzte an seine Seite. Sie prallte so fest gegen ihn, dass er unwillkürlich aufjaulte.
Die Zwergin fuhr entsetzt zusammen und versuchte dann, unter seine Arme zu greifen und ihn zur Seite zu schleifen. Während schwarze Flecken vor seinen Augen flackerten und die Ohnmacht nach ihm griff, erkannte er, warum sie ihn nicht in Frieden ließ.
Das Bärentier kam mit schweren, wiegenden Schritten auf sie beide zu. Die kleinen, dunklen Augen hatten sich auf Dhunyas Rücken gerichtet.
„N-nein“, wimmerte Rikhon. Doch mehr, als in einer schwachen Geste der Abwehr die Hand zu heben, gelang ihm nicht.
⁂
„Ich höre ihn noch“, murmelte Zynon angespannt. Er stand nahezu Rücken an Rücken mit Jas. Der Bär hatte aufgehört, ihnen zu folgen. Jedenfalls glaubten sie das.
„Warum lässt er uns in Ruhe?“, fragte Jas.
„Was weiß ich?“, brummte Zynon unwirsch, ohne den Wald aus den Augen zu lassen. „Wenn es ein Bär ist, dann verteidigt er vermutlich nur sein Revier. Vielleicht ist es sehr, sehr klein und wir sind hinausgekommen. Oder etwas lenkt ihn ab.“
Dann hörten sie den Schrei. Zynon zuckte so heftig zusammen, dass Jas es am Rücken spürte.
Sie beide hatten die Stimme erkannt – Dhunya!
Zynon stürmte sofort los. Jas folgte ihm dichtauf, dem Ursprung der Schreie entgegen. Jemand brüllte vor Schmerz auf, dann hörte Jas Anilas‘ Stimme, die wortlose Rufe ausschrie.
Sie brachen aus dem Wald und trafen auf das Monster. Anilas befand sich auf der anderen Seite des Bärens. Laut rufend warf er Steine auf das geschuppte Wesen, um es von Dhunya und Rikhon abzulenken, die auf der Erde kauerten. Jas sah Blut, doch er ließ sich nicht genug Zeit, um Details zu erkennen, denn als sie ankamen, sprang der Bär auf Anilas zu. Im letzten Moment konnte der Elf zur Seite springen und den langen Klauen entgehen.
„Ihr macht ihn wütend!“, rief Zynon warnend und rannte zu Dhunya und Rikhon, um sich schützend vor ihnen aufzubauen. Schreiend schlug er mit seinem Speer gegen einen Baumstamm.
Der Schuppenbär wirbelte herum und bleckte fauchend die Zähne. Zynon riss die Arme hoch und brüllte das Tier an, so laut er konnte. Jas wusste nicht, was er sonst tun sollte, und trat neben den Jäger.
„Macht euch groß!“, rief Zynon. „Kommt hierhin und macht Lärm!“
Anilas lief in einem Bogen um das Tier herum, das irritiert den Kopf drehte. Als sie alle drei in einer Reihe standen und schrien, wich der geschuppte Bär tatsächlich einen Schritt zurück.
Zynon machte sofort zwei Schritte vor. Er schlug mit dem Speer auf die Erde, allerdings nicht auf den Bären, obwohl dieser in Reichweite der Waffe wäre. Die kleinen, dunklen Augen des Schuppenbärs flackerten über die drei Gegner, irritiert, dass diese nicht einfach wegrannten. Zynons Taktik schien zu funktionieren, denn das Tier wich weiter zurück.
Über die Schulter sah der Jäger zu Rikhon und Dhunya, dann stürmte er auf den Bär zu, laut schreien und mit den Armen wedelnd.
Ein Hieb der Pranken fegte Zynon zur Seite. Bevor Jas oder Anilas sich auch nur bewegen konnten, hatte sich der Bär über Zynon gebeugt, packte ein Bein des Jägers mit dem zahnbewehrten Kiefer und riss ihn mit sich. Äste brachen splitternd, dann war es still.
Jas blinzelte. Es war alles so schnell gegangen, dass er erst langsam verstand, was geschehen war. Anilas hatte sich ebenfalls nicht gerührt und Dhunya kauerte noch immer, die Axt gezückt, vor Rikhon.
Erst ein Stöhnen des verletzten Wabawis riss sie alle aus ihrer Starre. Rikhon hatte eine Menge Blut verloren. Immerhin schien Dhunya nicht verletzt zu sein, doch das war so ziemlich das einzig Positive an ihrer Situation.
Anilas fuhr sich durch das Haar, ehe er seinen weichen Hut wieder aufsetzte. „Wir brauchen eine Trage. Jas, kannst du Rikhon versorgen? Wenigstens ein bisschen?“
„Ich gebe mein Bestes.“ Jas lächelte seinen alten Freund an, um ihn zu beruhigen.
Hilflos sah Anilas zum Wald. Von Zynon war keine Spur mehr zu sehen und nichts mehr zu hören. Während Jas sich neben den Wabawi kniete, um seine Wunden wenigstens notdürftig zu verbinden, machte Anilas ein paar Schritte ins Unterholz.
Dhunya umklammerte Rikhons Schulter mit aller Macht. „Bleib bloß wach“, drohte sie dem Verletzten.
Rikhon war blass, seine Lider flatterten. Schweiß stand auf seiner Stirn – doch er schaffte es, die Augen offenzuhalten. „Keine Angst, Giftzwerg“, murmelte er mit schwacher Stimme und tätschelte Dhunyas Hand ungeschickt. „Mir geht es gut.“
„Natürlich geht es dir gut, Dummkopf.“ Tränen schimmerten in Dhunyas Augen. „So ein Bär haut dich nicht um!“
Aus Dhunyas Sabib-Überwurf, dessen Stoff er mit zwei langen, halbwegs geraden Äste durchstieß, bastelte Jas eine behelfsmäßige Trage. Als sie Rikhon hinaufhoben und der Krieger vor Schmerz wimmerte, kehrte Anilas zurück.
„Ich sehe keine Spur von Zynon“, berichtete der Anführer traurig. „Wir müssen ihn finden, aber ich weiß nicht, wie …“
„Erst einmal bringen wir Rikhon in Sicherheit“, widersprach Jas entschieden. „Und wir müssen den Rest finden. Was Zynon angeht … Ich weiß nicht, ob wir ihm noch helfen können, aber das muss warten. Wir sind immer noch im Revier des Schuppenbärs. Und damit in Gefahr.“
⁂
„Wir müssen zurück!“, rief Viya.
„Du kannst es gerne versuchen!“, fuhr Asherah sie an. Sie saß auf dem Kutschbock, die Zügel der Padai in den Händen, und zerrte verzweifelt an den Riemen.
„Auf keinen Fall gehen wir zurück!“ Giorgio lag noch immer bäuchlings auf den Vorräten. „Die Kreatur frisst unsere Vorräte weg – oder uns!“
„Es sind unsere Freunde!“, gab Viya zornig zurück.
„Wenn du gerne gegen das Monster kämpfen willst, bitte! Du kannst gerne absteigen“, fauchte Asherah und Viya verstummte.
Shiak konnte es ihr nicht verdenken. Er zitterte noch immer. Der Schock saß ihm tief in den Knochen. Er wollte nichts lieber, als aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein Albtraum und er noch immer in Yamayini war.
Es dauerte, bis die Katzenpferde langsamer wurden. Vielleicht waren sie endlich erschöpft oder sie fühlten sich sicher, so weit von dem Monster entfernt. Jedenfalls erlangte Asherah endlich die Kontrolle über den Wagen zurück.
„Ich hoffe, die anderen leben noch“, murmelte sie. „Nur für den Fall sollten wir unser Lager vielleicht irgendwo aufschlagen, wo sie uns finden. Ich dachte an einen Hügel. Wenn wir ein Feuer entzünden, werden sie uns finden.“
„Und dann gibt es einen guten, warmen Eintopf gegen den Schreck“, entschied Giorgio.
Asherah warf ihm einen finsteren Blick zu. „Ich denke, dein Essen hat genug Monster angelockt. Findest du nicht auch?“
„Aber …“
„Heute brauchen wir nichts mehr!“
Stattdessen sagte Asherah, dass sie ihr Lager nach Möglichkeit befestigen sollten. Es kam Shiak etwas heuchlerisch vor, nachdem sie alle gesehen hatten, wie leicht der Schuppenbär Bäume entwurzeln konnte. Doch diese Kugelfähigkeit hatte das Tier nur auf kurzen Strecken eingesetzt. Es bestand die Chance, dass die Kreatur sie bergauf nicht so gut angreifen konnte.
Außerdem half es, seine Nerven zu beruhigen, und es musste eine ähnliche Wirkung auf Viya und Giorgio haben. Shiak verdächtigte Asherah, die körperliche Arbeit als eine Art Beschäftigungstherapie einzusetzen. Er beschwerte sich nicht, während sie Äste aus dem nahen Wald herbeischafften und sogar niedrige Zweige von den Bäumen schlugen – sehr zu Viyas Entsetzen – um diese als unordentliche Stapel zu einer Mauer rings um den Karren anzuordnen.
Sie arbeiteten, bis sich die Nacht längst herabgesenkt hatte und nur das Lagerfeuer ihnen Licht bot. Der abgetrennte Bereich auf dem Hügel war nicht besonders groß, aber sie hatten genug Arbeit in die Mauer gesteckt.
Das Knistern der brennenden Hölzer wirkte wie eine eigene Mauer gegen das Rauschen der Baumkronen und die Geräusche des nächtlichen Dschungels. Der Feuerschein reicht genau bis an die niedrige Mauer. Die Flammen werden hoffentlich alle gefährlichen Kreaturen fernhalten. Der warme, orange Schein konnte Shiak jedenfalls beruhigen, obwohl die Sorge um seine Freunde noch immer auf seine Stimmung drückte.
Niemand von ihnen schlief, obwohl der Mond über ihnen dahinzog.
„Was sollen wir jetzt nur machen?“, fragte Viya irgendwann leise. Sie hatte sich zusammengekauert, die Knie eng vor die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen. „Was machen wir jetzt?“
Niemand antwortete. Sie wussten es nicht.
⁂
Sobald das erste Bisschen Farbe über den Himmel kroch, stand Jas auf. Er fühlte sich wie gerädert. Niemand von ihnen hatte in dieser Nacht viel geschlafen. Sie hatten sich um Zynon gesorgt, von dem noch immer keine Spur zu sehen war. Sie hatten aufmerksam auf alle Geräusche gelauscht, voller Furcht, dass ein weiteres Tier aus der Nacht treten uns angreifen würde. Rikhons Wimmern im Fieber hatte sie außerdem wachgehalten. Dhunya war nicht eine Sekunde von seiner Seite gewichen.
Gegen Morgen war der Krieger endlich in einen ruhigeren Schlaf gefallen. Dhunya sah Jas dabei zu, wie er seine Beine ausschüttelte und die letzten, klebrigen Reste der Müdigkeit vertrieb. Anilas erhob sich ebenfalls.
„Wir müssen Zynon suchen.“
„Ich glaube nicht, dass wir ihn finden können. Er war unser bester Fährtenleser“, sagte Jas leise. „Die Spuren des Karrens finde ich, aber … ich weiß nicht mal, ob wir den Ort wiederfinden, wo wir ihn gestern verloren haben.“
Anilas zog die Brauen zusammen. „Dann sollen wir ihn einfach im Stich lassen?“
„Wir sollten uns nicht sinnlos wieder in Gefahr begeben. Rikhon braucht Ruhe und eine bessere Versorgung, als ich hier in der Wildnis gewährleisten kann. Wir müssen kontrollieren, dass es den anderen gut geht. Wenn wir sie gefunden und ein sicheres Lager haben, können wir zurückkehren und Zynon suchen.“ Er atmete tief durch. Dass Anilas nicht für diese Aufgabe ausgebildet war, war nicht seine Schuld. Er hatte das Herz am richtigen Fleck, er wusste nur nicht, wie man als Anführer die schwierigeren Entscheidungen traf. Sanfter fuhr Jas fort: „Wir lassen ihn nicht im Stich. Aber wir müssen sicherstellen, dass es nicht noch mehr Verletzte oder gar Tote gibt. Nicht, wenn wir es verhindern können.“
Anilas nickte, vielleicht nicht überzeugt, aber geschlagen. Also hoben sie die Trage auf und machten sich wieder auf den Weg.
Wie am Vortag war es eine anstrengende Reise. Die meiste Zeit trugen Anilas und Jas die Trage, weil Dhunya zu klein war. Würde sie ein Ende übernehmen, riskierten sie, dass Rikhon herunterrutschte. Stattdessen lief die Zwergin ihnen voraus und kundschaftete den Weg aus. Wie Rikhon schlafen konnte, während sie dem beständigen Hacken der Axt folgten, war Jas ein Rätsel. Er hoffte, dass es nur daran lag, dass sie alle eine durchwachte Nacht hinter sich hatten, und kein Anzeichen dafür war, dass Rikhons Kräfte schwanden.
Sie machten immer wieder längere Pausen, bis Dhunya schließlich sehr aufgeregt zu ihrem aktuellen Lager zurückkehrte.
„Was ist los?“ Als die Zwergin keuchend durch das Unterholz krachte, tastete Jas nach seinem Wanderstock, um sich zu verteidigen.
„Rauch!“, stieß Dhunya hervor. „Da war eine Rauchsäule!“
„Ein Waldbrand?“ Anilas ächzte entsetzt.
„Nein“, widersprach die Zwergin. „Ein Lagerfeuer!“
⁂
Sie hatten sich immer noch nicht von der Stelle bewegt. Die Katzenpferde waren auch immer noch in ihre Geschirre eingespannt, denn keiner von ihnen traute sich, die Maulkörbe zu entfernen. Sie hatten sie gereizten Katzenpferde aus dem Karren gespannt, als nach Stunden immer noch kein Anzeichen von Gefahr zu sehen gewesen war, da die Riemen in das Fell der Tiere schnitten.
Giorgio hatte am Morgen erneut gekocht. Diesmal war Shiak darüber ganz froh gewesen. Es half, ein wenig Ruhe und Normalität einkehren zu lassen. Danach hatte Asherah beschlossen, die Umgebung abzusuchen.
„Vielleicht finden wir etwas zu essen. Wir sollten auch nach den anderen Ausschau halten. Aber wir bleiben in Hörweite zum Lager.“
„Dann bleibe ich im Lager“, meldete sich Giorgio. „Falls irgendetwas passiert und wir rasch aufbrechen müssen!“
Asherah schien darüber ziemlich froh zu sein.
Dann stand Viya auf. „Ich komme mit.“
„Mit? In den Dschungel?“ Asherah sah sie überrascht an.
„Ich … ich möchte helfen. Wenn die anderen da draußen sind.“
„In Ordnung“, sagte die Yurvatin verdutzt. „Shiak, bleibst du dann hier?“
Er nickte. Giorgio würde Unterstützung – oder vielleicht auch Überwachung – brauchen.
Also zogen Asherah und Viya los, während Shiak Giorgio beim Abwasch half. Sie verstauten alles wieder aufbruchsbereit auf dem Karren und kontrollierten das Gefährt dann. Ihre Flucht quer durch den Wald hatte einige der Achsen in Mitleidenschaft gezogen. Shiak robbte unter den Karren und begann, das Holz so gut wie möglich mit Ästen zu verstärken. Der Karren würde sicher noch eine Weile halten, aber es war etwas, dass er jetzt tun konnte, und sie würden jedes Bisschen Haltbarkeit brauchen, falls sie wieder angegriffen wurden.
Als er Rufe hörte, kroch er wieder heraus.
„Shiak! Giorgio!“ Das war Viyas Stimme. Aufgeregt kam sie angerannt. „Wir haben sie gefunden!“
Shiak lief sofort los. Viya deutete den Berg hinab. Er folgte der Geste in gerader Linie und traf wenig später auf Asherah, Anilas, Jas, Dhunya und Rikhon.
Nur Zynon fehlte. Doch auch um Rikhon stand es nicht gut. Der Wabawi hatte drei tiefe Kratzer am Bauch und war mehr bewusstlos als wach. Anilas und Jas waren am Ende ihrer Kräfte, weshalb Shiak und Asherah die Trage des Verletzten übernahmen, um Rikhon das letzte Stück nach oben zu bringen. Sie sprachen kaum, bis Rikhon im kleinen, geschützten Ring ihres Lagers lag und Giorgio einen ‚schnellen Mittagssnack‘ aus geröstetem Brot mit Zwiebeln und Tomaten servierte.
„Was ist passiert?“, fragte Asherah.
Jas und Anilas berichteten, wie es ihren jeweiligen Gruppen ergangen war, seitdem sie sich getrennt hatten. Nach und nach setzten sich die Puzzleteile zu einem Bild zusammen.
„Wir haben diesen Schuppenbär mehr oder weniger aneinander abgestreift“, murmelte Shiak.
„Zynon hat dazu etwas gesagt“, erinnerte sich Jas. „Dass das Tier vielleicht nur sein Revier verteidigt. Möglicherweise haben wir dieses jetzt verlassen und er lässt uns deshalb in Ruhe.“
„Nur das Revier verteidigt“, äffte Giorgio ihn nach. „Das Vieh hat uns fast umgebracht!“
„Das Revier eines Bären ist meist ziemlich groß.“ Asherah betrachtete nachdenklich ihre Bücher und machte ein paar Notizen. „Aber das Wesen wirkte recht schwerfällig. Ich kann mir vorstellen, dass unser Lager jetzt nicht mehr bei ihm liegt. Und davor war er abgelenkt, weil es noch andere Eindringlinge außer dir und Zynon gab.“
„Möglich“, stimmte Jas zu. „Selbst wenn wir dem Schuppenbär entkommen sind – Zynon ist noch dort. Wir sollten nach ihm suchen. Oder nach seiner Leiche.“
„Das ist zu riskant“, meinte Asherah sofort. „Du hast erzählt, der Bär hätte ihn mit sich gerissen. Zynon ist tot oder jedenfalls wäre das die gnädigere Alternative. Wir haben bereits einen Verletzten. Wozu sollten wir unser Leben riskieren? Ein toter Mann wird uns dafür nicht danken.“
„Falls er noch lebt, braucht er unsere Hilfe“, sagte Anilas ernst. „Wir können ihn nicht zurücklassen, solange wir es nicht genau wissen. Mit allem, was wir jetzt über den Schuppenbär wissen, können wir uns wieder in sein Revier wagen.“
„Was wissen wir denn?“, knurrte Asherah. „Gar nichts! Wir haben eine Vermutung von Zynon, die wir nicht bestätigen können. Und wir wissen, wie gefährlich er ist. Wir wissen, wie schnell und stark und aggressiv das Tier ist.“ Sie schüttelte den Kopf. „Wenn es nochmal angreift, haben wir vielleicht nicht so viel Glück wie dieses Mal!“
„Glück?“, fragte Dhunya grimmig. Sie saß neben Rikhon und wischte Schweiß von seiner fieberglänzenden Stirn. „Das nennst du Glück?“
„Du kannst dir vorstellen, wie es aussähe, wenn wir Pech gehabt hätten.“ Asherah schnaubte. „So viel Fantasie traue ich dir zu!“