Kapitel 12: Spuren im Schatten
„Du, Rikhon?“
Sie war mit schnellen Schritten losmarschiert, sodass die Gruppe kaum hinterherkam, und hatte den Wabawi mit sich gezogen. Inzwischen tat Dhunyas Bein weh, das nie richtig verheilt war, und auch Rikhon schleppte sich nur mühsam voran. Mit Jas‘ Hilfe hatte er die Wunden des Schuppenbär-Angriffs zwar gut überwunden, aber er war immer noch schlapp.
Jetzt sah er zu ihr herab und bemühte sich um ein sorgloses Lächeln. „Ja, Giftzwerg?“
„Was genau sollen wir tun?“, flüsterte Dhunya. „Du weißt schon, als Gruppenführer!“
„Wir hatten uns was überlegt, ja?“ Rikhon rückte sich den Hut vor und zurück, was seine Augen verbarg und sein Haar zerwuschelte. Hinter ihnen rumpelte der Karren heran, während Rikhon sich erinnerte. „Qbak und Raufereien und Gruppenkuscheln!“
„Das ist mir klar!“, erwiderte sie ungeduldig. „Aber wie genau fangen wir das an?“
„Ähh …“
⁂
Die große Katastrophe ließ immerhin noch auf sich warten. Am Vormittag setzten sie ihren Weg wie gehabt fort und legten sogar eine ordentliche Strecke zurück. Zynon behielt seine Zweifel bezüglich der neuen Gruppenführung für sich, denn die wären nun gar nicht hilfreich.
Doch er hielt Dhunya und Rikhon nicht für geeignet. Von der individuellen Stimmzahl her hatte Jas gewonnen, das hatte er nicht vergessen. Hätten sie vorher bloß mal festgelegt, dass das nicht ginge! Dass Jas auch noch auf seine eigenen Stimmen verzichtet hatte, war für Zynon ein weiteres Argument. Rikhon und Dhunya hatten für sich selbst oder wenigstens gegenseitig abgestimmt, aber Jas hatte alle Stimmen fair und ehrlich erhalten.
Es fühlte sich wie Wahlbetrug an, weshalb Zynon am liebsten eine zweite Abstimmung abhalten würde. Diesmal mit klaren Regeln, die das Zusammenlegen von Stimmen verbaten. Vielleicht sollte er mit Jas sprechen. Und eventuell mit Viya, die ebenfalls als Kandidatin in Frage käme. Beide schienen eher zu wissen, was sie taten. Jas besaß all die Kenntnisse, die Anilas gefehlt hatten. Nicht umsonst war er bereits förmlich der inoffizielle Anführer gewesen! Viya als Priesterin hatte die Göttin auf ihrer Seite, die sie anbetete. In ihrer Kristallkugel konnte sie die Zukunft oder Wahrheit oder so sehen – ganz sicher war sich Zynon da nicht – und sie war besonnen und klug.
Der Jäger seufzte. Die neue Doppelspitze war nicht einmal das einzige Problem. Es gab auch immer noch Giorgio, der ihre gesamten Vorräte verkochte. Immerhin an diesem Problem würde die neue Gruppenführung arbeiten, denn sie machten am Mittag früh Pause und befahlen Zynon, auf die Jagd zu gehen.
„Was soll ich denn jagen?“, fragte er Dhunya.
„Was immer du findest. Wenn du auf Fluchwesen triffst, sag Bescheid, die wären dann eine gute Übung.“
Eine Übung? Zynon konnte nur innerlich den Kopf schütteln. Er würde auf keinen Fall Bescheid sagen, wenn er ein Fluchwesen traf – wobei, er musste die Gruppe natürlich warnen. Aber er würde Dhunya erklären, dass er nicht wüsste, wo die Bestie sei, und sie dann in eine andere Richtung lotsen.
„Wie lange lagert ihr denn?“, fragte er stattdessen. „Ich werde mich auf der Jagd ein Stück entfernen müssen, da der Lärm hier Wildtiere verscheucht. Wann soll ich zurück sein?“
„Ich denke, vier, fünf Stunden werden es sicherlich.“
„So lange?“ Das konnte er sich nicht verkneifen.
„Ja, solange es so heiß ist. Gegen Nachmittag würden wir noch einige Stunden dranhängen, aber mehr auch nicht.“
Zynon fand den Tag nicht besonders heiß. Dann allerdings war er hier aufgewachsen, während Dhunya aus dem kühleren Lirhajn stammte. Soweit er es verstanden hatte, hatte sie aber viel Zeit auf Wajbaqwinat verbracht – dessen Wüstenklima Dhubya in nichts nachstand. Andererseits war Dhubayaana feuchter als der Wüstenkontinent … vielleicht lag es daran.
Er nickte, ohne seine Zweifel offen zu zeigen. „Alles klar. Dann bin ich in einigen Stunden zurück.“
„Viel Erfolg!“ Dhunya winkte ihm nach, während er die Pfeile schulterte und sich ins Gebüsch schlug.
Zynon versuchte, die Sorgen abzustreifen, als er in den Wald eintauchte. Dessen Geräusche empfingen ihn wie eine vertraute Schlafrolle. Bäume wiegten sich sacht im Wind, ihre Blätter wisperten. Vögel und Affen lärmten in der Ferne, Frösche zirpten in den hohen Blüten an den Stämmen.
Er war froh über die Zeit, die ihm gegeben worden war, denn Nahrung war etwas, das sie dringend benötigten. Es fühlte sich gut an, etwas tun zu können, statt der Willkür der neuen Leitung ausgeliefert zu sein. Darauf zu warten, dass Giorgio von sich aus den Mut aufbrachte und etwas sagte, würde Zynon nur in den Wahnsinn treiben.
Mit einer so großen Gruppe unterwegs zu sein, zerrte an seinen Nerven. Er war für gewöhnlich nicht unter Erdwesen, besonders nicht unter Elfen, die sich nur selten mit den Kurzlebigen abgaben. Zynons Kontakte beschränkten sich oft auf Treffen der Jäger, die etwa ein- bis dreimal im Jahr stattfanden. Einzelne Jäger schlossen sich gelegentlich zu Arbeitsgruppen zusammen, aber Zynon arbeitete lieber allein. Jetzt, da er sich von der Expedition entfernte, spürte er erst, wie sehr er die Ruhe des Waldes vermisst hatte.
Er beugte sich vor und suchte auf dem Boden nach Spuren.
⁂
Die Duftspuren waren schwach, also wagte Thuli sich langsam vor, angespannt von der Nase bis zur Schwanzspitze. Er witterte, ehe er seine Pfoten vorsichtig setzte. Die Wiesen vor ihm waren recht leer, nur vereinzelte Bäume standen noch. Thuli hielt auf einen davon zu, der sich knorrig über das hohe Gras erhob.
Thuli sprang aus der Deckung, durch die er mit gebeugten Beinen gekrochen war, den Bauch fast am Boden. Mit den starken Krallen konnte er sich an der Borke festhalten und auf einen waagerechten Ast weiter oben klettern. Das Holz schwankte leicht unter seinem Gewicht, hielt jedoch stand.
Im Schutz der Blätter duckte er sich und versuchte, mehr zu erkennen. Der Wind roch nun nach Futter. Irgendein Beutetier blutete nicht allzu weit entfernt aus.
Der Hunger war allerdings nicht so nagend, dass Thuli sofort losgestürmt wäre. Er befand sich in einem fremden Revier. Da musste er vorsichtig sein.
Dieser Ort bot wenig Deckung. Erst in einiger Entfernung erhoben sich größere Hügel aus Holz, dazwischen gab es nur vereinzelte Bäume.
Der Geruch nach Blut blieb in der Luft. Thuli setzte sich wieder in Bewegung, als er nichts hörte, huschte zum nächsten Baum und stieg wieder hinauf. Dort legte er sich flach auf eine Astgabel und beobachtete die fremde Umgebung. Die Hügel waren eckig und rochen nach Zweibeinern. Warum hatte ein Rudel sein Revier ausgerechnet hier angelegt? Doch vermutlich nur, weil viel Beute abfiel …
Er leckte sich über die Lippen. So viel Nahrung im Überfluss!
⁂
„Das ist alles?“
„Es gibt hier nicht gerade Beute im Überfluss“, erwiderte Zynon ernst.
Dhunya schüttelte den Kopf. „Na, ist ja auch egal. Giorgio besteht darauf, diesen widerlichen Brei zu machen.“
Shiak seufzte leise, als sich die beiden trennten und Zynon in Dhunyas Rücken die Stirn runzelte. Die neue Gruppenleitung machte nicht unbedingt eine gute Figur. Zuerst hatte Giorgio aus Protest beschlossen, nur noch den faden Brei zu kochen, nun legten sie sich mit Zynon an. In Shiaks Augen hatte Jas die Wahl gewonnen. Dhunya und Rikhon schienen keinen Plan zu haben. Rikhon war auch immer noch verletzt. Ob man sich da die Leitung für eine Gruppe aufbürden musste, konnte Shiak nicht sagen – er hätte es nicht getan.
Nachdem Zynon seine Beute bei Giorgio abgeliefert hatte – der noch spülte und ihm deshalb nur knapp zunickte –, zog sich der Jäger mit dem ersten Tier an die Seite zurück, um dieses zu häuten. Seine Beute war ein kleiner Sambarhirsch, den er mit geübten Schnitten öffnete. Er sah nicht auf, als Shiak zu ihm trat.
„Störe ich?“
„Nein, setz dich ruhig.“ Zynon arbeitete konzentriert weiter. „Was gibt es?“
„Was hältst du von Dhunya und Rikhon?“, fragte Shiak unverblümt. Er stellte eine Schale Brei ab, die er beim Mittagessen für Zynon zurückbehalten hatte. „Nicht, dass ich eine Revolution starten will … aber Jas hatte mehr Stimmen. Wenn wenigstens alle drei gleich viele Stimmen gehabt hätten …“
„Wir haben die Regeln vorher nicht festgelegt“, meinte Zynon achselzuckend. „Ich sehe das ähnlich wie du, aber in unserer Situation dürfen wir uns nicht zerstreiten. Wir sollten das friedlich klären.“
„Dann wärst du auch für Jas?“
„Ich will jedenfalls noch mal mit ihm reden“, gab Zynon zögerlich zu. Er hielt im Schneiden inne. „Aber zwei konkurrierende Anführer können wir uns aktuell nicht leisten. Das ist zu gefährlich.“ Er fuhr fort.
„Verstehe.“ Shiak machte es sich auf der Erde gemütlich, weit genug entfernt, dass er nicht von Blutspritzern getroffen werden konnte. „Anderes Thema: Behältst du da Reste über?“
„Wir sollten möglichst alles von unserer Beute verwenden.“ Zynon zog die Haut vom Hirsch, legte sie beiseite, wischte sich die Hände ab und nahm einen Löffel vom Brei. „Hm, nicht übel.“
„Lass das bloß nicht Giorgio hören, oder er macht noch weniger Beeren dran! Er ist echt beleidigt.“
„Warum fragst du nach Resten?“ Zynon ließ sich nicht ablenken. „Brauchst du für irgendetwas Fleisch?“
„Ähm …“ Shiak seufzte. „Es geht um den Wolf.“
„Ich wusste, dass ihn jemand füttert!“ Zynon stellte die Schale ab und sah ihn anklagend an. „Das ist ein wildes Tier. Wenn sie zu zutraulich werden …“
„Aber du verdankst ihm ja sogar dein Leben“, unterbrach Shiak ihn. „Der Wolf hat dich in der Grube gerettet.“
„Das war … Zufall.“
„Und er hat uns vor dem Schuppenbär gewarnt.“
„Reiner Instinkt.“ Zynon zog den Hirsch wieder zu sich und begann damit, große Fleischstücke herauszutrennen. Dabei musste er sich kniend mit ganzem Gewicht darauf stützen. Jedem Wort hörte man die Anstrengung an. „Wir können nicht auch noch einen Wolf durchfüttern. Wildtiere sind außerdem unberechenbar. Man weiß nie, wann sie sich erschrecken. Ihre typische Reaktion besteht daraus, zuzubeißen. Wenn wir ihn ins Lager locken, erhöhen wir nur das Risiko, dass er sich in die Enge getrieben fühlt und zubeißt – so wie bei Dhunya!“
„Die würde auch zubeißen, wenn wir sie in die Enge treiben …“
„Shiak!“
„Entschuldige! Na gut, du bist gegen den Wolf. Aber gibt es nicht einen Zwischenweg? Wir füttern ihn außerhalb des Lagers oder so? Er hat ja auch Hunger.“
„Er ist ein Wolf. Wenn er nicht ohne uns überleben kann, ist das natürliche Auslese.“
„Zynon …“
„Nein!“ Der Jäger hob das blutbeschmierte Messer, worauf Shiak verstummte. „Mich interessiert eher, wer noch alles versucht, den Wolf zu füttern.“
„N-nur ich. Wie kommst du darauf, dass es mehr Leute wären?“
Zynon verengte die Augen. „So, wie du es eben betont hast. ‚Du bist gegen den Wolf‘ – als wären andere nicht so eingestellt. Also, wer macht bei diesem Wahnsinn noch mit?“
„Niemand!“, beteuerte Shiak.
Zynon bemerkte seine nervösen Blicke zum Messer offenbar und senkte dieses. „Na schön. Aber ich habe dich im Auge.“
Shiak ließ den Jäger mit dem Hirsch zurück und eilte zurück zum Feuer. Gerade rechtzeitig, denn Dhunya war auf den Wagen geklettert und verkündete mit lauter Stimme: „Kommt mal alle zusammen! Wir fangen jetzt mit dem Training an.“
⁂
Viya war die einzige, die sich mit ehrlicher Begeisterung bereit machte. Jas versuchte, sich zu freuen, doch er machte sich eher Vorwürfe. Ihm war niemals eingefallen, die Expeditionsteilnehmer kämpferisch auszubilden, während das Dhunyas und Rikhons erste Priorität war.
Dass die Wahl ausgefallen war, wie sie ausgefallen war, war also kein Wunder. Die beiden wussten mehr über das Überleben an einem gefährlichen Ort als jeder von ihnen. Genug Teilnehmer hatten das zum Glück erkannt.
Nun stellten sie sich in einem Kreis auf.
„Also“, sagte Rikhon, der in die Mitte trat. „Boxen ist super einfach. Ihr haltet die Hände so:“, er zeigte ihnen die Faust, „und schlagt zu. Wenn dagegen ein Angriff kommt, hebt ihr die Arme vor das Gesicht. Ungefähr so …“
Schneller, als Jas reagieren konnte, rauschte die Faust auf ihn zu. Schmerz explodierte an seiner Nase und er taumelte zurück, während Tränen seine Sicht verschleierten. Undeutlich über das Rauschen in seinen Ohren hörte er Rikhons Stimme: „Nun, eher nicht so. Der nächste!“
Der zweite Fausthieb schickte Viya sogar zur Erde. Die Priesterin rappelte sich wieder auf und wischte sich über die Nase, die immerhin nicht blutete. Jas nahm die Arme vor das Gesicht. Zynon, der als nächster dran war, wusste, was auf ihn zu kam: Er blockte Rikhons Angriff und schlug zurück, allerdings wich der Wabawi tänzelnd aus.
So ging es dann reihum weiter. Mit der Zeit bekam jeder von ihnen was auf die Nase, denn Rikhon schlug schnell und hart zu. Nachdem sie gelernt hatten, den direkten Angriff zu blocken, arbeitete er mit Haken und Finten. Doch nach und nach landeten sie erste eigene Treffer. Nach einem besonders fiesen Schlag in den Magen, für den Asherah den Applaus der anderen erntete, hob Rikhon eine Hand.
„Ich denke, es ist an der Zeit, dass ihr unter euch trainiert.“ Er stand ein bisschen schief, einen Arm um den Bauch geschlungen, und keuchte. „Sucht euch einen Partner und übt das, was ihr gerade gelernt habt.“
⁂
Als ersten Partner hatte er Viya erwischt. Die Priesterin schlug zwar mit Begeisterung zu, entschuldige sich aber nach jedem Hieb bei ihm. Zynon brachte es nicht über’s Herz, ihr zu verraten, dass er ihre Schläge kaum spürte.
„Was hältst du von den beiden?“, fragte er sie stattdessen und nickte zu Dhunya und Rikhon, die die Prügelei vom Karren aus überwachten.
„Sie scheinen ehrlich zu sein. Und viel erlebt zu haben.“
„Das ja. Aber ich meinte, was hältst du von ihnen als Anführer?“ Er hob die Arme, um ihren nächsten Schlag zu blocken, und traf darauf ihre Schulter. Viya verzog nicht einmal das Gesicht, obwohl der Hieb sie spürbar taumeln ließ.
„Ich habe die Göttin gefragt, wer uns anführen soll, und ihr Strahl hat mich zu Dhunya geführt“, erwiderte Viya. „Also muss sie Qualitäten haben, die wir nicht einmal erahnen können!“
„Nicht mal ahnen“, wiederholte Zynon mit einem leisen Schnauben. „Ja, klar.“ Das hatte Viya also die ganze Zeit mit ihrer Kristallkugel getrieben! Ob deren Magie Dhunya tatsächlich ausgewählt hatte? Immerhin waren sie und Rikhon bewährte Abenteurer, deren Wissen ihnen hier nützlich sein konnte.
Grübelnd fuhr Zynon mit der Übung fort, bis der Wabawi zu ihnen trat.
„Viya, ich würde gerne ein bisschen mit dir trainieren“, sagte Rikhon.
Zynon trat zurück und wischte sich den Schweiß ab, während die Priesterin sich mit einem Lächeln verabschiedete und dann zum Training mit dem Krieger ging. Die beiden tauschten bald schnelle Schläge aus. Viya kämpfte unermüdlich und Rikhon gab ihr immer wieder Tipps. Als Lehrer war er gar nicht mal schlecht.
Der Rest wechselte nun ebenfalls Partner und Zynon schnappte sich Jas, als dieser frei wurde. Wie schon zuvor übten sie Fauststöße, bei denen der Gegner durchaus getroffen werden durfte, boxten miteinander, während sie sich im Kreis bewegten. Jas‘ Schläge waren deutlich langsamer, aber auch durchdachter als Viyas. Ihm fehlte es noch an der nötigen Überzeugung, um tatsächlich zuzuschlagen, doch Zynon hatte Schwierigkeiten, jeden Angriff vorherzusehen.
„Was hältst du von der neuen Leitung?“, fragte er, als er sich an das veränderte Tempo gewöhnt hatte.
„Meine Meinung ist da nebensächlich, es war der Wille der Gruppe.“
„Denkst du das wirklich? Du hattest mehr Stimmen. Sie sind nur Anführer, weil sie zusammengelegt haben.“
„Was wir nicht verboten haben.“
„Außerdem hast du gesagt, dass du nicht abgestimmt hast – deine Stimmen sind also echt, nicht wie Rikhon und Dhunya, die für sich oder gegenseitig abgestimmt haben! Sie haben eigentlich nur zwei Stimmen!“
„Zynon!“, mahnte Jas. „Wir sollen trainieren. Diese ganzen Überlegungen sind doch müßig. Wir können nicht wissen, wer für wen abgestimmt hat.“
Verärgert verstummte Zynon. Jas wollte also nichts davon hören? Wütend legte er mehr Kraft in die Schläge, worauf auch Jas stärker zuschlug. Zwar zählten sie keine Punkte, aber diesen Kampf hatte er eindeutig verloren.
⁂
„Ich denke, wir haben Zynon verloren“, sagte Shiak, als sie sich nach dem Training zu den Vorbereitungen für die Weiterfahrt trafen.
Jas hatte etwas Wasser genutzt, das sich auf den großen Blättern der Pflanzen sammelte, um sich zu duschen. Shiak lehnte sich nun an den Stamm des Baumes und rieb sich lediglich den Schweiß mit einem mitgebrachten Tuch ab. „Du hilfst mir doch, den Wolf zu schützen, oder?“
„Natürlich“, antwortete Jas, während er sein Hemd wieder überstreifte und zuband. „Zynon hat mich wegen der Gruppenleitung ausgefragt. War er bei dir auch?“
Shiak schüttelte den Kopf. „Wie, ausgefragt?“
„Er klingt unzufrieden.“
„Und … stimmst du ihm zu?“
„Auf keinen Fall!“ Jas sah erschrocken auf. „Sag bloß, du gehört auch zu diesen … Zweiflern! Wozu haben wir denn abgestimmt, wenn niemand bereit ist, das Ergebnis zu akzeptieren? Ich gebe zu, wir hätten die Bedingungen für zusammengelegte Stimmen vorher festlegen sollen, doch sie haben es während der Abstimmung gesagt. Alle wussten also, was geschehen würde. Jetzt haben wir abgestimmt und sollten uns auch daran halten. In unserer momentanen Situation können wir es uns nicht leisten, uns zu zerstreiten.“
Er atmete tief durch, als er merkte, dass er sich unabsichtlich in Rage geredet hatte. Doch gefühlt äußerte jeder Zweifel an der Abstimmung, was ihn allmählich wirklich nervte.
„Tut mir leid, ich wollte das Ergebnis nicht anzweifeln“, sagte Shiak jedoch besänftigend. „Du hast recht, wir sollten jetzt zusammenhalten.“
Jas nickte dankbar. „Konzentrieren wir uns lieber auf den Wolf. In der Hinsicht stimme ich Dhunya und Rikhon nämlich nicht zu!“
Shiak grinste. „Wir könnten uns allerdings freiwillig melden, um nach ihm zu suchen. Und wenn wir ihn finden, locken wir ihn fort oder so. Irgendetwas, um ihn zu schützen.“
Der Wolf mit den intelligenten Augen war Jas wie ein Zeichen erschienen. Er erinnerte ihn sehr an jenes Tier, das er gemeinsam mit Lavinya gepflegt hatte. Eigentlich war er nicht besonders religiös, doch es fühlte sich an, als habe sie ihm diesen Wolf gesandt. Jene Aufgabe, die sie nie beendet hatten … Vielleicht, wenn er es endlich schaffte, einem Wolf zu helfen, würden die Götter Gnade zeigen und ihn zu Lavinya lassen.
Dass der schwarze Wolf ein Wandler war, wussten sie natürlich immer noch nicht mit Gewissheit. Jas war davon überzeugt, doch es könnte auch ein gewöhnlicher Wolf sein. Immerhin hatte es kein Anzeichen gegeben, abgesehen von diesen intelligenten Augen, die sich so tief in sein Gedächtnis gegraben hatten, dass er davon sogar träumte.
War wirklich ein Erdwesen in der Gestalt des Wolfs gefangen? Oder saß er einer Täuschung auf? Es konnte doch kein Zufall sein, dass er ausgerechnet hier, auf der Suche nach seiner Frau, erneut auf einen solchen Wolf traf!
„Also?“ Mit der leisen Frage riss Shiak ihn aus seinen Gedanken.
„Ich denke, dein Plan ist gut. Aber Zynon ist eingeweiht, nicht wahr? Wird er nicht Verdacht schöpfen?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht.“ Shiak zuckte mit den Schultern. „Er kann nichts beweisen. Außerdem sollte er mit der Jagd genug Probleme haben, um die er sich kümmern muss. Da wird er sicher froh sein, dass ihm eine Aufgabe abgenommen wird.“
⁂
Als ob er mit Giorgios Verbrauch, der Jagd im Dschungel und dem Fluch in den Wäldern seiner Heimat nicht schon genug Aufgaben hätte, setzte sich Dhunya auch noch neben Zynon, als sie am Nachmittag schließlich weiterfuhren.
Er ahnte sofort, dass sie etwas von ihm wollte, und warf ihr einen grimmigen Seitenblick zu.
„Du, Zynon, wir haben nachgedacht“, eröffnete sie das Gespräch mit einem breiten Grinsen.
Er rückte ein Stück ab, weil die Zwergin den Arm auf den Karrenrand hinter ihm gelegt hatte und sich förmlich in seinen Platz hineindrängte. Der Platz war zwischen den Kisten ohnehin begrenzt, doch Rikhon hatte darauf bestanden, dass sie alle auf dem von den Padai gezogenen Karren platznahmen. Dass sie weniger Spuren hinterlassen würden, war dabei sicherlich nur ein Vorwand.
„Du kennst dich doch in diesen Wäldern aus“, fuhr Dhunya fort. „Dein Wissen muss unglaublich sein!“
„Ja.“ Das konnte er schlecht leugnen. Einst hatte er dieses Gebiet wie seine Westentasche gekannt. Obwohl sich seitdem viel verändert hatte, war dies seine Heimat. Kein Dorf, keine Siedlung, sondern die Wildnis, wie sie vor dem Fluch gewesen war.
„Perfekt. Ich finde, du solltest das dem Rest beibringen.“
„Ich?“
Dhunya nickte bekräftigend. „Du bist sicher ein großartiger Lehrer. Wir richten dir eine Stunde ein, vielleicht abends oder so. Wann immer es dir passt. Du erzählst uns, was du über den Wald weißt, und bringst uns bei, zu jagen. Irgendwann können wir dich dann alle bei der Nahrungssuche unterstützen.“
Er hatte wenig Lust, noch weitere Pflichten zu übernehmen. Doch nachdem er seinen Ärger überwunden hatte, musste er nüchtern betrachtet zugeben, dass diese Idee gar nicht so schlecht war. Er könnte der Gruppe beispielsweise zeigen, welche Pflanzen essbar und welche giftig waren. Wenn mehr Jäger unter ihnen wären, wären die Probleme mit der Nahrung auch nicht mehr so drastisch …
„Das … könnte funktionieren“, murmelte er schließlich.
Dhunya nickte begeistert. „Ich will auch Giorgios dazu kriegen, dass er uns Kochen beibringt. Und Asherah könnte etwas mit Wissenskram machen. Wir müssen nur gucken, wie wir das zeitlich unterbringen!“
„Das ist eine gute Idee.“
⁂
„Das war eine richtig schlechte Idee“, schalt er Rikhon. Jas hatte dem störrischen Wabawi schon vor dem Training gesagt, dass er sich besser schonen sollte. Nun hatten sie den Salat: Die Wunde an seinem Bein war wieder aufgegangen, und bemerkt hatten sie das erst, als Rikhon zum Nachtlager vom Karren geklettert war.
„Du kannst das doch heilen“, murmelte dieser.
„Ja, aber auch nicht unbegrenzt.“ Ärgerlich schob Jas die schwere Reithose hoch und offenbarte das blutige Schienbein. Die größere Frage war wohl auch, wen der Blutgeruch anlocken könnte … Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, denn für die Magie würde er seine Konzentration benötigen. So schloss er die Augen, legte die Hände auf beide Seiten der Wunde und ließ den Atem ruhig durch seine Lippen strömen.
Es brauchte nicht lange, und er konnte die Wunde fühlen und in seinem Geist sehen: Ein pulsierender Schnitt aus rötlichen Schmerzwolken, umgeben von dunkleren Tropfen in Lila und Blau, wo Verunreinigungen Entzündungen begünstigen würden.
Die Magiequelle spürte er als warme Kugel in der Brust, die er mit einem Gedanken anzapfen konnte. Sofort flammte sie auf, begierig, sich auszubreiten, und strahlte umso heller. Jas lenkte die Energie in seine Arme und von dort als grünen Schleier über das Rot, worauf dieses verblasste.
In der echten Welt schloss sich die Wunde nun, wie er aus Erfahrung wusste. Er lenkte einen kühlenden Impuls hinterher, um allen Dreck auszuwaschen, ehe er das Bein vollständig heilte. Die Schwierigkeit bestand nicht in der Heilung selbst. Eigentlich versorgte er den Körper vor sich nur mit Energie und überließ vieles den so bestärkten Selbstheilungskräften. Die Reinigung war etwas anderes, doch auch das war nicht viel anstrengender, als mit einem Tuch Staub zu wischen.
Nein, das Problem bestand darin, aufzuhören. Als die Magie sich verästelte und ausbreitete, auf der Suche nach anderen Zielen, zog er die Hände zurück und schloss sie zu Fäusten. Die Energie rauschte als Lichtbahnen durch seine Arme, zwei mächtige Flüsse aus der Quelle im Inneren, die eher anschwollen als zu verebben. Jas atmete ruhig und bekämpfte die Vorstellungen von dem, was er mit der Magie alles schaffen könnte.
Vielleicht, lockte ihn eine leise Stimme, könnte er mit diesem Zauber auch Lavinya finden. Die Ästchen würden sich Wurzeln gleich ihren Weg suchen und am Ende auf seine Frau treffen. Dann würden sie ihn durch den Dschungel führen, direkt dorthin, wo ihre beiden Herzen endlich heilen konnten …
Doch ließe er das zu, wäre seine Quelle erschöpft, lange bevor er Lavinya gefunden hätte. Dann würde es keine Heilung geben, nur den Tod. Wie immer machte sich Jas bewusst, dass er dem Sog widerstehen musste, egal, wie sehr sich sein Herz nach Lavinya verzehrte. Er atmete tief durch und spürte Kälte, als die Magie endlich abebbte. Konzentriert, mit eiserner Disziplin, verschloss er sie wieder in ihrer Kugel und sorgte dafür, dass kein noch so dünnes Würzelchen aus diesem geschlossenen System herausragte.
Er fühlte sich kalt, leer und blind, als er die Augen aufschlug und die Magie wieder in seinem Inneren ruhte. Doch Rikhon war geheilt.
⁂
Allmählich regte sich der Hunger in seinen Eingeweiden wieder. Thuli spürte ein Rumoren in seinem Inneren, das bis in seine Pfoten und das Maul ausstrahlte. Sein Herz hämmerte bereits schneller, zu tief saß die Erinnerung an Wochen des Hungers, an die unweigerliche Schwäche und den Schwindel und das erbarmungslose Brennen, die sich alle mit diesem schwachen Ziehen ankündigten.
Er schüttelte sich leicht, um die Panik zu bekämpfen. Noch war es nicht so weit, und er musste konzentriert bleiben. Stück für Stück hatte er sich tiefer in das Revier des fremden Rudels gewagt, bisher, ohne entdeckt zu werden. Die Wölfe hier waren gar nicht so aufmerksam. Ab und zu sah er einzelnes Tier am Rand der Felder herumstreichen, doch diese reagierten gar nicht auf seine Duftspur.
Konnten sie ihn nicht riechen? Oder waren sie tatsächlich freundlich? Inzwischen gewann Thuli an Selbstbewusstsein und sorgte sich nur noch um die anderen Gerüche an diesem Ort. Andere Lebewesen. Erdwesen, wie es schien. Und dazwischen war der köstliche Geruch nach Fleisch …
Ein Japsen riss ihn aus seinen Gedanken. Thuli sah vom Baum herab, in den er sich gerettet hatte, und bemerkte einen Wolf direkt am Stamm.
Thuli erstarrte vor Schreck. Der Wolf unter ihm wedelte jedoch freundlich mit der Rute und hechelte herauf, dann stieß er wieder ein japsendes, aufforderndes Bellen aus.
War er überhaupt ein Wolf? Auf seinem Rücken wuchsen goldene Federn, vermengt mit einigen Efeublättern. Das Fell war ebenfalls goldblond, außerdem war das Tier gewaltig. Es reichte so hoch, wie auch ein Mensch oder Elf an den Baum heranreichen könnte. Höher, als es sich auf die Hinterbeine stelle und mit den Pranken an der Rinde kratzte.
„Wuff?“, fragte das große Tier und legte den Kopf schief, als Thuli sich immer noch nicht rührte.
Wieso hatte er den Wolf nicht kommen hören?
⁂
„Ich habe mich doch wohl verhört!“ Asherah sah aus, als hätte sie ihren Glauben verloren.
Shiak konnte die Wissenschaftlerin immerhin verstehen. Dhunyas Vorschlag kam auch ihm merkwürdig vor. Sie wollte ihrer Gruppe nun den Namen ‚Monsterschreck‘ verpassen. Wozu das gut sein sollte, war ihm nicht so ganz klar.
„Das fördert den Zusammenhalt“, behauptete Dhunya jedoch breit grinsend.
„Wir sind doch keine Kinder“, erwiderte Asherah pikiert.
„Kommt, ein Name tut niemandem weh“, warf Jas schlichtend ein.
„Damit wäre das entschieden.“ Dhunya nickte, wie um sich selbst zu bestätigen, und breitete die Arme aus. „Und als erste Übung, um den Zusammenhalt zu stärken, gibt es nun Gruppenknuddeln!“
Ein Kribbeln kroch über Shiaks Arme. Auch der Rest rührte sich nicht.
„Na los, Leute, Flauschen!“, brüllte Rikhon. „Auf, auf!“
Keiner machte Anstalten, ihm zu gehorchen, nur Viya stand auf und sah sich unsicher um.
Shiak wurde abwechselnd heiß und kalt. So enger Körperkontakt war gar nichts für ihn!
„Also, ich muss jetzt kochen“, sagte Giorgio und erhob sich ebenfalls, um den Kreis ihrer kleinen Gruppe zu verlassen.
„Genau. Ich habe auch Wichtigeres zu tun“, warf Asherah ein, nahm sich ihre Notizblätter und ging zum Wagen.
Rikhon ließ die Arme sinken. „Also … also gut, ihr wart heute schon fleißig genug. Aber ab morgen geht es richtig los!“
Der Rest des Abends verlief zum Glück in gewohnten Bahnen. Giorgio kochte erneut den faden Brei und behielt Dhunya danach lauernd im Blick. Zynon stellte Fallen auf, dann sprachen sie die Wachen ab, wobei Shiak die erste übernahm. Asherah gesellte sich zu ihm, doch sie redeten nicht. Stattdessen schrieb die Gelehrte im Schein des verlöschenden Feuers in ihr Notizbuch. Ihrem Gesichtsausdruck nach ließ sie in ihrem Bericht ihrer Abschätzung für die neuen Leiter Luft.
„Ich bin mal kurz für kleine Elfen.“ Shiak deutete in den Wald. Asherah nahm das nur mit einem knappen Nicken zur Kenntnis.
Er schnappte sich eine Wasserflasche, huschte in die Wildnis und suchte sich einen Platz im Kreis von Zynons Fallen, der zwar sicher, aber vom Lager aus nicht mehr einsehbar war.
Erleichtert atmete er auf, als er den Binder endlich lösen konnte. Er hatte das Hemd bereits abgestreift und bewegte die verkrampften Muskeln langsam.
Während er sich mit dem kalten Wasser aus dem Schlauch abduschte, ließ Shiak die Gedanken kreisen. Der Wunsch, den Binder wenigstens in der Nacht abzulassen, wurde stärker. Schon jetzt hatten die Bänder rote Rillen in seiner Haut hinterlassen. Aber es war zu gefährlich, denn auch in der Nacht konnten sie angegriffen werden.
Davor, dass sie tatsächlich kuscheln mussten, hatte er richtig Angst. Was, wenn seine Begleiter dabei etwas bemerkten? Doch wie sollte er sich plausibel davor drücken? Könnte er vielleicht eine Krankheit vortäuschen?
Doch wie lange würde diese Lösung helfen?
Seufzend wickelte er sich den Binder wieder um die Brust, zog die weichen Bänder fest und streifte das Hemd über. Eine Gänsehaut hatte sich auf seiner feuchten Haut gebildet, doch die Dschungelnächte waren zum Glück warm.
Trotzdem war im Moment seine beste Hoffnung, dass er sich tatsächlich erkälten würde.
Als Shiak ins Lager zurückkehrte, saß Asherah unverändert neben der Glut und schrieb im schwachen Licht. Darauf, dass er sich setzte, reagierte sie nicht, doch dann sprach sie ihn unvermittelt an.
„Alles in Ordnung? Das war ziemlich lang.“
Shiak zuckte schuldbewusst zusammen. „Ja, alles … alles in Ordnung. Ich brauchte nur einen Moment … für mich.“
Asherah nickte desinteressiert. Wieder erklang nur das leise Knistern des Feuers und das Kratzen ihrer Schreibfeder. Irgendwo in der Ferne rief ein Tier hoch und klagend.
Shiak zog die Arme vor die Brust, legte die Arme um die Knie und folgte den fliegenden Funken hinauf zum Himmel, an dem die Sterne glitzerten und die Monde ihren sanften Schein verströmten. Der würzige Geruch des Feuers zog ihm in die Nase, zusammen mit den Düften verschiedener Blüten und dem weichen, warmen Erdboden.
Wenngleich es mehr als genug gab, um das er sich sorgen musste, nicht zuletzt der Wolf, hielt Shiak inne und betrachtete die Sterne über sich mit einer beinahe wehmütigen Ruhe.