Kapitel 7: Not zeigt unser wahres Gesicht
Es kam ihm vor, als hätte er nicht einmal geatmet, seit der Rest der Gruppe zu ihnen gestoßen war. Jetzt war Rikhon endlich eingeschlafen und schien sich in einer etwas stabileren Verfassung zu befinden. Jas hatte seine Blutungen gestillt, den Wabawi* verbunden und die Verletzungen mit allen Mitteln, die ihm hier zu Verfügung standen, gereinigt. Es wirkte nicht mehr, als könnte der Mensch jeden Moment sterben.
Er streckte sich und atmete tief durch. Sein Rücken schmerzte nach der langen, verkrümmten Haltung. Inzwischen hatte der Rest das Lager aufgeschlagen. Giorgio kochte. Wage erinnerte sich Jas, dass der Koch etwas von einer ‚stärkenden Lauchsuppe‘ gerufen hatte. Davon, dass der Rest das Lager aufgeschlagen und befestigt hatte, hatte er nichts mitbekommen.
Dhunya kauerte noch immer neben Rikhon. Sie war dem Verletzten nicht eine Sekunde von der Seite gewichen. Jas sah nach den anderen. Die Suppe dampfte in einem Topf über den Flammen, ab und zu rührte Giorgio um. Asherah saß an der Seite und fertigte Notizen an. Viya kauerte mit verlorenem Gesichtsausdruck etwas abseits. Shiak war der einzige, den Giorgio zum Helfen hatte bringen können. Der Elf schnitt einige letzte Stücke Gemüse.
Zynon fehlte. Und als Jas‘ Blick weiterschweifte und Anilas auf dem Karren bei ihren Vorräten fand, riss sein Geduldsfaden.
Er stand auf und marschierte zu seinem alten Freund herüber. „Wir müssen reden!“, zischte er durch die zusammengepressten Zähne und packte Anilas‘ Oberarm, als dieser herunterklettern wollte. Stattdessen schwang sich Jas zu ihm herauf. Irgendwer hatte sich um die beiden Padai gekümmert, bemerkte er erleichtert. Ein wenig besorgte es ihn jedoch, dass die Gruppe ohne seine Aufsicht mit den Katzenpferden hantierte.
„Was ist denn?“ Anilas sah ihn fragend an.
Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte sich Jas, dass sie außer Hörweite der Gruppe waren. Dann sah er den Elfen ernst an. „Du musst ihnen die Wahrheit sagen.“
Anilas‘ Augen weiteten sich. Einen Moment lang sah er Jas stumm an, während Jas die Finger in seine Schulter grub.
„Was ist los?“, fragte er dann wütend. „Siehst du nicht, was hier los ist? Rikhon wäre fast gestorben, und die Götter allein wissen, was aus Zynon geworden ist. Du bist kein ausgebildeter Expeditionsleiter, Anilas. Und deine Gruppe verdient die Wahrheit.“
„Jas, ich … jetzt?“
„Jetzt.“ Er sah den Elfen entschlossen an. „Sag es ihnen, oder ich sage es ihnen.“
Jas biss sich auf die Lippe. Noch immer zögerte er.
„Worauf wartest du? Hör mal, Anilas, ich mag dich, aber das hier geht nicht. Diese Gruppe muss jemand führen, der weiß, was er tut …“ Er zögerte, als er daran dachte, wer zur Auswahl stand. Dhunya und Rikhon? Viel zu unvorsichtig! Asherah? Sie konnte nicht mit anderen umgehen. Giorgio etwa?“
„Du willst sie anführen?“, fragte Anilas leise.
„Ich … wenn es sein muss.“
„Hör zu, du hast recht.“ Endlich sah Anilas ihn an. Er hatte seine Entscheidung offenbar getroffen. „Ich habe vermutlich alles falsch gemacht.“
„Niemand hat dich vorbereitet“, murmelte Jas instinktiv. Seine Wut galt im Grunde ihm selbst. Er hatte gewusst, wie wenig geeignet Anilas war, und es trotzdem so weit kommen lassen, dass sie nun um zwei Mitglieder der Mission bangten.
„Ich denke nur, jetzt wäre der falsche Zeitpunkt“, flüsterte Anilas. „Ich meine … sie sind verängstigt und verwirrt. Sollten wir nicht versuchen, gerade jetzt Sicherheit auszustrahlen?“
Genervt runzelte Jas die Stirn. „Ich meine es ernst – du kannst das hier nicht stemmen.“
„Dann triffst du die Entscheidungen“, schlug Anilas vor. „Ich habe kein Problem damit, wirklich! Mir geht es nur darum, die Gruppe nicht noch weiter zu verunsichern. Geht es nicht in erster Linie darum, dass man bei einer solchen Mission zusammensteht?“
Er ließ sich das Argument durch den Kopf gehen. Anilas hatte recht, musste Jas widerwillig anerkennen. Ja, die Gruppe hatte die Wahrheit verdient, aber sie hatten schon eine Weile gezögert und nun wäre wirklich ein ungünstiger Moment. Die Hälfte der Leute würde ihrer Mission vermutlich den Rücken kehren und davonmarschieren. Bei Asherah war er sich sicher, und Dhunya würde Rikhon vermutlich auch in Sicherheit schaffen wollen. Was bedeutete, dass sie alle umkehren würden, denn man konnte niemanden alleine durch das Revier des Schuppenbärs zurückschicken.
Schweigend tastete Jas nach dem Amulett um seinen Hals. Dann nickte er. „In Ordnung. Wir sagen es ihnen später. Aber egal was passiert – du machst nichts mehr, ohne mich zu fragen.“
Anilas nickte. „In Ordnung.“
Jas wurde sich bewusst, dass er die Schulter des anderen Elfen noch immer viel zu fest umklammert hielt, und ließ hastig los. Er strich seine Kleidung glatt. „Gut, also … dann reden wir über Zynon.“
Sie stiegen wenig später vom Wagen herunter, weil Giorgio sie zum Essen rief. Dhunya hatte bereits eine Schale und versuchte, den schläfrigen Rikhon zu füttern. Der Rest setzte sich ans Feuer.
Dort ergriff Anilas schließlich das Wort. Jas behielt ihn stumm im Blick, falls der Elf etwas anderes sagte, als das, was sie abgesprochen hatten. Doch Anilas hielt sich daran, obwohl er eigentlich darauf brannte, den Jäger zu suchen, um ihn zu retten.
„Wir sollten herausfinden, was aus Zynon geworden ist. Allerdings hat es keinen Sinn, heute noch loszuziehen. Es wird gleich dunkel.“
„Der Kerl ist tot“, brummte Asherah. „Wieso sollten wir ihn noch suchen?“
Viya schnappte hörbar nach Luft.
„Du hast recht“, sagte Anilas. „Jedenfalls zum Teil. Solange wir keine Leiche haben, müssen wir davon ausgehen, dass er lebt und unsere Hilfe braucht. Trotzdem haben wir natürlich alle den Bären gesehen. Es wäre dumm, wenn wir alle unser Leben riskieren. Morgen werden deshalb ein paar Späher losziehen und gucken, ob wir nicht vielleicht schon aus der Ferne … Gewissheit erlangen können.“
Jas sah, dass Anilas diese Erklärung nicht leicht fiel. Der Mooself wäre am liebsten sofort mit allen losgezogen. Doch Jas‘ Entscheidung, auf den Morgen zu warten, hatte er akzeptiert. Anilas war kein schlechter Elf. Er konnte das Wohl der Gruppe über sein eigenes stellen. Ihm fehlte nur die Ausbildung, in Extremsituationen richtig zu entscheiden.
„Wieso denn die Leben der beiden Späher riskieren?“, fragte Giorgio. „Zynon ist Jäger. Falls er lebt, kommt er allein durch. Falls nicht, ist das zwar tragisch, aber … wir müssen auch an uns denken.“
„Natürlich suchen wir ihn!“, widersprach Shiak. „Wenn du das wärst, der da feststecken würde, würdest du dir doch auch Hilfe wünschen! Zynon ist einer von uns. Und wir lassen niemandem im Stich, richtig?“ Er sah sich um. „Richtig?“
Dhunya beugte sich schweigend über Rikhon. Viya betrachtete die im Schoß verschränkten Finger. Giorgio löffelte mit aggressiven Bewegungen seine Suppe.
„Ich gehe mit dir, Shiak“, bot Anilas an.
Jas schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Also …“, murmelte Anilas.
„Als Gruppenanführer solltest du hierbleiben“, sprang Jas ihm bei. Die schnippische Betonung konnte er sich trotzdem nicht verbeißen. Das war die goldene Regel – der Gruppenleiter musste anführen, er durfte sich nicht zu sehr einmischen. Jemand musste den Überblick behalten.
Und gerade, wo er gedacht hatte, dass Anilas sich doch eignen würde.
⁂
„Außerdem richten wir Doppelwachen ein. Wir müssen jetzt umso vorsichtiger werden.“
Shiak spannte sich unwillkürlich an. Er sah zu Anilas, in der Hoffnung, dass ihr Gruppenleiter Jas widersprechen würde. Doch der andere Mooself nickte nur stumm. Shiak schluckte. Doppelwachen! Wie sollte er die überstehen? Bisher war seine Wachzeit die einzige Gelegenheit gewesen, für sich zu sein. Auf der Reise gab es ansonsten keine Privatsphäre. Und nun verlor er auch noch diese wenigen Stunden.
Nachdem sie gegessen und gespült hatten, stritten sie darum, wer Wache halten würde. Asherah meldete sich für die erste Wache, und mit ihr wollte Shiak auf keinen Fall zusammen Wache halten. Sie war viel zu sehr auf ihre Forschungsarbeit konzentriert. Diese Besessenheit verursachte ihm Magendrücken. Außerdem fürchtete er ihre Neugier.
Er wählte die letzte Wache und atmete auf, als Viya sich meldete, um mit ihm zu wachen. Die Priesterin war ihm sympathisch.
Er hatte sich schon fast mit der neuen Situation abgefunden, als sie ihn mitten in der Nacht weckte und sie sich an das nahezu heruntergebrannte Feuer setzten, um Giorgio und Jas abzulösen.
Allerdings schmerzte Shiaks Rücken wie verrückt. Er musste den Binder wechselnd, dringend. Die Nacht auf Wurzeln und Erde hatte auch nicht geholfen.
„Du willst Zynon helfen, ja?“, fragte Viya.
Er riss sich aus seinem Selbstmitleid. „Schon, aber … ich denke nicht, dass jemand mitkommt und alleine schaffe ich das auch nicht.“
„Ich … ich würde mitkommen.“
Überrascht sah er Viya an. „Du?“ Im nächsten Moment tat es ihm leid, dass er so ungläubig geklungen hatte. Viya war immerhin die erste, die ihm bestätigte, dass sie helfen wollte.
„Ich … ich denke, er gehört zu uns. Wir sollten ihn nicht im Stich lassen. Egal, wie sehr wir uns fürchten. Aithara sagt, dass man immer helfen sollte, wenn man die Möglichkeit hat.“ Sie lächelte. „Und wir können ja helfen.“
Er lächelte zurück und hoffte insgeheim, dass sie recht hatte. Hoffentlich würden sie Zynon noch helfen können.
Dann meldete sich der Schmerz zurück. „Viya, ich muss mal kurz …“ Er deutete in den Wald.
„Allein?“, hauchte sie ängstlich.
„Keine Sorge, ich habe das im Griff. Nur ein paar Minuten.“
Sie nickte ohne weitere Nachfragen und er ging. Dafür mochte er Viya. Sie war kein bisschen misstrauisch.
⁂
Schon eine ganze Weile hatte er nichts mehr gehört. Einige Stunden mussten es jetzt sein. Das Schnaufen und Grollen war verstummt, und dann auch das Schnarchen.
Es war, als hätte sich das Monster aufgelöst. Doch im Licht der Monde konnte Zynon die große Gestalt im Eingang der Höhle sehen. Der Schuppenbär rührte sich nicht mehr, selbst sein Atem war verklungen, und nun haderte der Mensch schon seit einer Weile, ob er fliehen sollte oder nicht.
Er hatte endlich den Mut aufgebracht und schob sich langsam auf den Ausgang zu.
Alles in ihm widerstrebte. Seine Seite schmerzte bei jedem Atemzug. Der Prankenhieb des Bärs musste ihm einige Rippen gebrochen haben, oder mindestens angeknackst. Wenn er das Bein falsch bewegte, brannte es wie Feuer. Nachdem ihn der Bär durch den Wald und bis in die Höhle gezerrt hatte, konnte Zynon vermutlich froh sein, dass der Fuß noch dran war.
Er glaubte, dass er ab und zu ohnmächtig wurde, während er aus der Höhle krabbelte. Manchmal hob er den Blick und das Mondlicht fiel in einem anderen Winkel herein. Er zerrte sich weiter über den Boden. Der Schuppenbär rührte sich immer noch nicht.
War er tot? Zynon wusste nicht genau, wie viel Zeit seit dem Kampf verstrichen war. Hunger und Durst waren mörderisch, also vielleicht mehr als ein Tag. Vielleicht war es das Fieber, das es ihm vorgaukelte.
Konnte die Bestie einfach gestorben sein? Aber woran? An Altersschwäche etwa? An den Nachwirkungen des Kampfes?
Zynon biss die Zähne zusammen, als neuer Schmerz durch sein Bein jagte. Seine Hände zitterten und er sah merkwürdige Blitze vor seinen Augen.
Als er direkt neben dem Monster war, fiel ein Mondstrahl herein. Mitternacht war durch, vermutete Zynon. Die Bäume verdeckten ihm die Sicht auf die vier Monde, sodass er es nicht genau sagen konnte.
Er war fast draußen. Direkt neben ihm lag der Schuppenbär. Zitternd und keuchend hatte sich Zynon immer weiter gezogen. Er war müde, er wollte sich ausruhen und schlafen, aber er wusste, dass er nicht innehalten durfte.
Plötzlich ging ein Beben durch den Schuppenbär. Zynon hörte den Atem der Bestie so deutlich, dass kein Zweifel bestehen konnte: Zuvor hatte sie nicht geatmet! Jetzt sah er, wie die einzelnen Schuppen des Panzers übereinander glitten. Er hörte sie leise aneinander schaben.
Was war gerade geschehen? War der Bär einfach aus einer tieferen Schlafphase erwacht?
Zynon erstarrte und lauschte auf den Atem der Bestie. Dann hörte er ein tieferes Schnaufen und Schnüffeln.
Sein Blick glitt zu seinem Bein. Bei den schlechten Lichtverhältnissen sah er das Blut nur als Dunkelheit über seiner Haut. Aber vielleicht roch der Bär ihn.
Adrenalin schoss wie eine eisige Sturmflut durch seine Adern. Von einem Moment auf den anderen war der Schmerz fort. Zynon stemmte sich hoch und sprang vorwärts, wie ein abgeschossener Pfeil von der Sehne. Er rannte aus der Höhle und in den Wald dahinter. Blätter peitschten ihm ins Gesicht. Die Monde waren fast voll, sodass er immerhin die Stämme erkennen konnte. Hinter sich hörte er ein lautes Brüllen.
Zynon rannte weiter, ohne die pochenden Schmerzen in seinem Bein zu beachten. Merkwürdige Laute erklangen hinter ihm. Das Krachen und Bersten von Holz, Zischen, Rufe, die Schreie nachtaktiver Tiere. Eigentlich sollten ihm die meisten Geräusche von Dhubayaana vertraut sein, doch die Panik und vielleicht auch Fieber verzerrten sie zur Unkenntlichkeit. Er brach durch das Unterholz und horchte auf die Geräusche hinter sich.
War das sein eigener Atem? War es das Schnaufen des Monsters? Waren es seine eigenen Schritte oder das Stampfen eines Verfolgers?
Plötzlich bebte der Boden unter seinen Schritten. Zwei, drei lief Zynon weiter, während er versuchte, zu begreifen, was vor sich ging.
Dann brach sein Fuß durch ein Geflecht aus Ästen und Laub und er fiel in die Tiefe. Nicht einmal für einen Schrei blieb ihm Zeit, bevor er auch schon aufschlug und der plötzlich aufwallende Schmerz ihn zurück ins Reich der Träume katapultierte.
⁂
Als die Sonne sich erhob, juckten Shiaks Augen vor Müdigkeit. Er hatte viel zu wenig Schlaf gefunden. Blinzelnd stellte er fest, dass ihr Wachfeuer inzwischen heruntergebrannt war.
Er atmete tief durch, um die Müdigkeit zu vertreiben, und sah zu Viya neben sich.
Die Priesterin hielt eine handgroße, durchsichtige Kugel im Schoß. Dass sie diese hervorgezogen hatte, hatte Shiak gar nicht mitbekommen. Ob er kurz eingenickt war? Vermutlich war es ganz gut, dass sie zu zweit wachten.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und trafen auf das Glas der Kugel. Eine Art Nebel waberte in ihrem Inneren und spiegelte das Licht auf Viyas Gesicht. Sie lächelte verträumt und sah auf, als hätte sie Shiaks Blick gespürt. „Aithara ist mit uns.“
Verdutzt sah er sie an. „Ähh. Schön?“
„Ich habe es im ersten Sonnenstrahl gesehen. Zynon lebt. Wir werden ihn retten.“
Shiak betrachtete die Glaskugel schweigend. Er fühlte sich wie in einem Traum – nicht unbedingt auf die gute Weise. Das Bild vor ihm war so surreal. Nach allem, was er wusste, waren Priesterinnen keine Hellseher.
Viya steckte die Kugel ab, deren goldenes Glühen erlosch, sobald kein Sonnenlicht mehr hineinfiel. Dann erhob sie sich und tänzelte mit geradezu schwebenden Schritten zu ihrer Tasche, um zu packen.
Von ihren Bewegungen wurde nun auch der Rest war.
„Nur ein paar kleine Häppchen, Giorgio“, bat Viya den Koch. „Wir werden im Reisen essen – es gibt keine Zeit zu verlieren.“
„Limura Newa**!“, rief der Lirhajner kopfschüttelnd aus. „Essen im Gehen! Was für eine Verschwendung!“ Er schimpfte weiter, während er die gewünschten Häppchen zubereitete, und das war für alle anderen das Signal, das sie nun aufstehen mussten, ob sie wollten oder nicht.
Shiak hatte sein Hemd in der Nacht gewechselt. Jetzt gürtete er sein Katana um und stopfte eine Decke, einen Wasserschlauch und ein wenig Ausrüstung in seinen Rucksack.
Mit schweren Schritten trat Dhunya zu ihm, die Axt in der Hand. „Ich komme mit euch.“
Er sah überrascht auf die Zwergin hinab. „Willst du nicht bei Rikhon bleiben?“
Ihre Stimme glich einem Knurren. „Es geht ihm gut, er wird überleben. Und ich will es dieser Bestie zeigen!“
Ratlos zuckte Shiak mit den Schultern. Es gefiel ihm nicht so sehr, Dhunya mitzunehmen. Er fürchtete, dass sie im falschen Moment kopflos losrennen würde. Aber sie war auch eine erfahrene Kämpferin.
„Also gut. Drei Leute sind ohnehin die perfekte Gruppengröße“, stellte Jas fest, als sie sich bei ihm und Anilas abmeldeten. „Wenn irgendwer verletzt wird, bleibt einer bei ihm und der andere holt Hilfe. Verstanden? Und geht kein Risiko ein! Ihr sollt nur herausfinden, wo sich Zynon befinden und ob er noch lebt. Geht dem Schuppenbär aus dem Weg, bringt euch nicht in Gefahr. Und falls es hart auf hart kommt, falls Zynon lebt, ihr aber den Bären angreifen müsstet, um ihn zu retten … Tut es nicht. Kehrt zurück und berichtet uns, aber stürzt euch nicht direkt in den Kampf!“ Jas sah sie alle ernst an. „Das wird vielleicht nicht leicht. Womöglich wird Zynon dadurch umkommen, aber es ist wichtig, dass wir nicht vier Leute verlieren.“
„Er lebt.“ Viya trug wieder dieses träumerische Lächeln auf den Lippen. „Und wir werden ihn retten.“
„Habt ihr mich verstanden?“, fragte Jas. „Keine Heldentaten.“
„Keine Heldentaten“, versprach Shiak.
Erst als sie sich dem Dschungel zuwandten, dem Meer verschiedener Grüntöne mit einzelnen, großen Blüten, wurde ihm bewusst, was Jas ihnen aufgetragen hatten.
Im Zweifelsfall sollten sie ihren Jäger sterben lassen und sich selbst retten. Ein Schauer lief ihm über den Rücken.
Wusste er wirklich, worauf er sich hier einließ?
⁂
Er blinzelte. Sein Kopf pochte. Zynon tastete nach seiner Stirn, doch auf dem Weg dahin jagte Schmerz durch seine Rippen, dann, als er deswegen zusammenzuckte, durch sein Bein.
Er seufzte leise. Wie kam es bloß, dass man diese Schmerzen immer erst nach einer Bewegung spürte?
Nach und nach erinnerte er sich an die Flucht und den Sturz. Der Schuppenbär hatte ihn offenbar noch nicht gefunden, denn er lag noch am Boden einer Grube, die größtenteils noch mit einem Geflecht aus dünnen Zweigen bedeckt war. Laub tarnte diese Decke vor Blicken und hielt auch die Sonne ab.
Vorsichtig setzte Zynon sich auf. Die Bisswunden am Bein waren wieder aufgebrochen – natürlich! – und nach dem Sturz voller Schlamm. Auch an seiner Stirn ertastete er eine Kruste, Blut klebte an einem Stück Rinde, das offenbar für seine Ohnmacht verantwortlich war.
Er robbte aus dem Sonnenlicht, das grell und warm durch das Loch in der Decke der Grube fiel, und zog sich in den Schatten an der Wand. Schweigend betrachtete er das laubbedeckte Dach über sich.
Das war nicht natürlich entstanden. Irgendjemand hatte die Fallgrube angelegt. Das Laub wirkte bereits modrig und die Äste waren eindeutig feucht geworden, doch besonders alt konnte die Falle nicht sein. Einige Wochen, schätzte er. Eher weniger, wenn nicht gerade taufrische Materialien verwendet worden waren.
Wer errichtete mitten im Fluchgebiet Fallen? Und – momentan wichtiger – wann würde der Unbekannte zurückkommen und ihn befreien können?
Ohne Nahrung und Wasser würde er hier nicht lange durchhalten. Und die Wände der Falle waren sicherlich fünf Schritte hoch – da konnte er mit seinen Verletzungen nicht hinaufklettern.
Er lehnte den Rücken langsam gegen die Wand und betrachtete das Bein. Mehrere tiefe Löcher zeugten von den Zähnen des Bärs. In einer Linie zogen sie sich über sein Schienbein. Wie tief genau sie waren, wollte er gar nicht herausfinden.
Mit einem Ächzen zog er die Jacke über und suchte eine halbwegs saubere Stelle, um die Wunden notdürftig zu reinigen. Der Blutgeruch würde sonst mit Sicherheit Räuber anlocken.
Ab und zu verzog Zynon das Gesicht, während er sein Bein abtupfte. Er war fast fertig, als er ein deutliches Knacksen über sich hörte.
Er erstarrte und hob den Blick. Durch die Laubdecke bemerkte er einen Schatten, der über das Dach kroch. Ein etwa zwergenlanger Schatten mit vier dunkleren Punkten, wo sich die Pfoten herabsenkten. Es war nicht der Schattenbär, sondern etwas Kleineres, das auf dem dünnen Dach nicht direkt einbrach. Das Knacksen stammte von einem Balken, der leicht gebrochen war. Der Schatten kroch über Zynon zur Seite.
Er näherte sich der Öffnung im Dach.
Zynon erstarrte. Nur seine Augen flitzten panisch durch die Grube und suchten nach einer Waffe in Reichweite. Einige Äste lagen dort, wo er eingestürzt war, aber das war zu weit weg, um sie zu erreichen.
Wieder knirschte es oben. Der Schatten machte zwei Schritte zurück. Dann mit einem Knarzen, gab das Dach nach und eine zappelnde, dunkle Kreatur stürze in einem Regen aus Laub, Erde und kleinen Holzsplittern herab.
Zynon presste sich an die Wand, als das Tier sich aufrappelte. Es war ein schwarzer, hagerer Wolf, der sich panisch umsah, Zynon bemerkte und die Zähne bleckte. Knurrend wich das Raubtier an die hintere Wand zurück und versuchte dann, hochzuspringen. Seine Pfoten fanden an der erdigen Wand keinen Halt, obwohl das Tier ein gewisses Klettergeschick bewies.
Nach dem ersten Schreck stieß Zynon die Luft aus. Der Wolf wirbelte herum und funkelte ihn geduckt an.
Es war nur ein Wolf. Kein Fluchwesen. Und Zynon war sogar sicher, dass er ihn kannte.
„Du bist das, nicht wahr?“, fragte er resigniert. „Verdammter Mist.“
Der Wolf knurrte zur Antwort.
⁂
„Was hast du dir dabei überhaupt gedacht?“, zischte Jas. „Du hättest uns alle umbringen können!“
Anilas und er befanden sich ein Stück außerhalb des Lagers auf der Suche nach Feuerholz. Doch die Stimmen ihrer Gefährten drangen noch durch die Bäume bis zu ihnen vor. Giorgio jedenfalls war gut zu hören, der mi Asherah schimpfte. Die yurvatische Forscherin machte offenbar immer noch keine Anstalten, ihre Notizen an die Seite zu legen. Giorgio war nicht begeistert, dass er sich allein um Rikhon kümmern musste. Seine Schimpftirade wehte durch den Wind wie der Rauch eines Lagerfeuers, einzelne Worte waren für sie aber nicht mehr auszumachen.
„Was hätte ich denn tun sollen? Sie hätten mich ins Gefängnis gesteckt, wenn ich den Auftrag nicht übernommen hätte“, murmelte Anilas mit gesenktem Kopf. „Und ich will die Wahrheit erfahren.“
„Du hättest ehrlich zu uns sein müssen. Von Anfang an.“ Jas hatte die Arme vor der Brust verschränkt. „Diese Leute vertrauen dir, verstehst du das nicht? Sie werden im Zweifelsfall auf dich hören, auf niemanden sonst. Wenn sie gewusst hätten, dass du nicht ausgebildet bist, hätten wir die gesamte Expedition anders starten können. Verdammt, du hättest mir Bescheid sagen können! Dann hätten wir eine Lösung gefunden.“
Anilas las ein paar weitere Äste vom Boden auf. Sie waren beinahe außerhalb der Hörweite und würden bald zurückkehren müssen. Jas war dankbar für diese kurzen Minuten, in denen er offen mit Anilas sprechen konnte, ohne dass die anderen sie belauschten könnten.
Er konnte immer noch nicht fassen, dass sie so unvorbereitet losgezogen waren. Doch seine Wut richtete sich auch gegen ihn selbst. Er hatte von Anilas‘ Geheimnis gewusst, und trotzdem gezögert. Vielleicht war Zynon deswegen tot. Weil er, Jas, nicht hatte umkehren wollen.
„Sobald wir wissen, was aus Zynon geworden ist, sage ich es ihnen“, versprach Anilas. „Keine Ausreden mehr.“
Jas nickte geistesabwesend und wusste nicht, ob er sich darüber freute oder die Offenbarung eher fürchtete. Vielleicht war es Zeit, diese Mission als gescheitert anzusehen.
⁂
„Tadaaa!“ Breit grinsend kam die Zwergin aus dem Wald gestapft.
Shiak atmete auf. Er war nicht erfreut gewesen, als Dhunya alleine auf die Jagd gegangen war. Aber sie hatte sich nicht aufhalten lassen.
Stolz präsentierte Dhunya ihnen einen Fasan, den sie an den Schweiffedern gepackt hatte. „Das ist doch essbar, ja?“
Viya schrie leise auf. „Du hast ihm den Kopf abgeschlagen!“
„Natürlich. Das Vieh wollte wegrennen.“
„Wie konntest du nur?“ Die Priesterin schlug die Hände vor den Mund. „Das war eine unschuldige Seele!“
„Und jetzt ist es Mittagessen.“ Dhunya warf Shiak den Fasan zu. „Ich habe gejagt, du darfst kochen. Unser Priesterlein wird das ja vermutlich nicht machen.“
„Nun …“ Shiak sah auf den Vogel.
„Wir haben doch noch Beeren!“, wimmerte Viya.
„Wenn die dich satt machen, darfst du gerne auf den Vogel verzichten.“
Er strich über das Gefieder des Fasans. Viyas Trauer um den Vogel konnte er nachvollziehen. Es war ein schönes Tier gewesen. Doch ihre Vorräte würden nicht ewig reichen.
Wie Dhunya es geschafft hatte, sich an einen Fasan anzuschleichen, um ihn zu köpfen, war ihm ein Rätsel. Er begann, die Federn zu rupfen, während Dhunya Holz zu einem Feuer aufschichtete und Viya erklärte, dass sie keinen Hunger habe.
Dann durchbrach ein hohes, geisterhaftes Jaulen die Stille des Nachmittags.
Die drei fuhren zusammen. Dhunya war sofort wieder auf den Beinen und sah sich mit gezückter Axt um. Viya presste ihre Tasche vor die Brust.
„Ein Monster!“, rief die Priesterin.
„Da drüben!“, brüllte Dhunya – und stürmte los.
„Dhunya, warte!“ Den Fasan noch in der Hand rannte Shiak ihr nach. Die Zwergin rannte direkt auf den Lärm zu!
Viya folgte als letzte. „Jas sagte doch, dass wir zurück sollen!“
„Du wirst zahlen für das, was du meinem Rikhon angetan hast!“, brüllte Dhunya vorne.
Shiak konnte nicht einmal behaupten, dass er besonders überrascht wäre. Natürlich hielt sich Dhunya nicht an Absprachen. Er behielt sie im Blick, doch im Zweifelsfall wappnete er sich dafür, gemeinsam mit Viya zu fliehen.
„Zeig dich!“, brüllte Dhunya. Das Jaulen war inzwischen verstummt. Stattdessen hörten die drei eine andere Stimme.
„Dhunya? Bist … bist du das?“
Sie bremste abrupt. Shiak und Viya konnten sie einholen.
„Zynon?!“
„Ich bin hier! Seid vorsichtig, da ist eine Falle!“
Sie folgten seiner Stimme zu einer größeren Lichtung. An einem Stück Schnur baumelte ein alter Knochen über einem Loch im Boden. Als Dhunya nähertrat, knirschte der Boden und sackte ab. Gerade noch rechtzeitig konnte die Zwergin sich zurückwerfen, als ein größerer Teil des Untergrunds einstürzte.
Unter einer dünnen Schicht aus Zweigen und Laub offenbarte sich eine große Fallgrube. Darin sahen sie Zynon, der an der Wand saß, und einen dunklen, dürren Wolf.
Shiak stutzte. War das nicht der Wolf, den Jas angefüttert hatte? Seitdem das Tier sie auf die Spuren des Schuppenbärs aufmerksam gemacht hatte, hatte er es nicht mehr gesehen. Offenbar kauerten Zynon und der Wolf nun schon eine Weile in der Grube, an entgegensetzten Seiten. Bei ihrem Auftauchen war der Wolf geflüchtet und versuchte jetzt, sowohl zu ihnen als auch zu Zynon Abstand zu halten.
Der Jäger lachte. „Diese Jaulerei bringt ja doch was! Shiak! Viya! Wo kommt ihr denn her?“ Dann zuckte er zusammen und hielt sich die Rippen.
„Wir haben dich gesucht“, murmelte Shiak. „Geht es dir gut?“ Auf den ersten Blick sah er nur Blut an Zynons Bein. Angesichts der Schreckensszenarien, die er sich ausgemalt hatte, war der Mensch bei perfekter Gesundheit.
„Soweit ist alles in Ordnung. Ich konnte heute Nacht vor dem Bären fliehen. Aber irgendjemand muss diese Falle hier zurückgelassen haben.“
Wie alt mochte diese Fallgrube wohl sein? Shiak war nur froh, dass sie nach Zynon gesucht hatten. Dem Jäger ging es super – aber er wäre in der uralten Falle vermutlich verdurstet.
Dhunya hatte bereits ein Seil hervorgezogen und stutzte nun. „Was … was machen wir mit dem Hund?“
„Das ist ein Wolf“, brummte Zynon.
„Lassen wir ihn einfach da drin?“
„Ich …“ Zynon zögerte. „Ich sage das nicht gerne, aber wer weiß, ob ihr mich gefunden hättet, wenn er nicht geheult hätte. Ich fürchte, ich schulde ihm was.“
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*Wabawi = Fantasy-Cowboy
**Limura Newa = „Mamma mia!“